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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

224–226

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Raadschelders, Jos C. N. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Staat und Kirche in Westeuropa in verwaltungshistorischer Perspektive (19./20. Jh.).

Verlag:

Baden-Baden: Nomos 2002. XII, 388 S. 8 = Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte, 14. Geb. Euro 65,00. ISBN 3-7890-8191-4.

Rezensent:

Helmut Goerlich

Der Band folgt einem Trend, der nicht zuletzt durch die Rechtsentwicklung auf europäischer Ebene bedingt erscheint: Im Europarecht der Europäischen Union wird nicht nur zunehmend auf die Grundrechte - darunter die Religionsfreiheit - Rücksicht genommen, es finden vielmehr auch Verbände wie die Kirchen eigene Beachtung. Das geschieht einerseits durch Protokollerklärungen, andererseits noch rechtsförmlicher durch Gerichtsentscheidungen, die die Vielfalt der rechtlichen Gestaltungen und Erscheinungen in Europa schonend berücksichtigen und zugleich darauf bedacht sind, aus dieser Vielfalt eine rechtliche Einheit jedenfalls dahin hervorzubringen, dass auch die Autonomie von personalen Verbänden, die rechtlich verfasst sind, zur Geltung kommen kann. Zu solcher Rechtsfortbildung verpflichtet das europäische Recht, da allgemeine Rechtsgrundsätze und gemeinsame Verfassungsüberlieferungen zu ermitteln sind, wenn geschriebene Regeln im europäischen Vertragsrecht nicht zu finden sind, aber dennoch Rechtssätze erforderlich werden, um Fälle zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund war schon früher ein Band erschienen (G. Robbers, Hrsg., Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995, der im Übrigen im Gegensatz zum vorliegenden Werk auch Nordeuropa berücksichtigte, ebenso wie der Beitrag G. Robbers, Kirche und Staat in Schweden, FS A. Hollerbach, Berlin 2001, 907 ff.).

Der vorliegende Band enthält hingegen nach einem einleitenden Beitrag des Herausgebers zur Zielsetzung, von der Verwaltungsgeschichte her zu analysieren, Arbeiten zur Laizität in Frankreich (B. Basdevant-Gaudemet) und Italien (A. Ferrari), zur Lösung der Verbindung von Staat und Kirche in den Niederlanden (F. M. v. d. Meer/F. P. Wagenaar), zur historischen Stellung Konfessionsloser in Österreich (St. Schima), zur Pariser Verwaltung und der Trennung von Staat und Kirche zwischen 1900 und 1910 in Frankreich (V. Azimi), zur Entstehung und Verselbständigung der evangelischen Konsistorien in Preußen und Bayern (H. de Wall), zur Verwaltungsreform der anerkannten Kirchen in Großbritannien im Blick auf Kirche und Staat (N. Yates), zum Proselytismus katholischer Gemeinden in öffentlichen Hospitälern in Frankreich im 19. Jh. und der Reaktion der protestantischen Minorität darauf (S. Dhont), zum Braunsberger Konflikt (1871-1876) um den katholischen Religionsunterricht an preußischen Schulen als Beginn des preußisch-deutschen Kulturkampfes (St. Korioth), zum Wandel der Finanzierung der Kirche zwischen liberalem Staat und katholischer Kirche in Spanien im 19. Jh. (J. M. Vazquez Garcia-Penuela) sowie schließlich einen Beitrag von der anderen Seite des Atlantik zu Staat und Kirche in den USA im Lichte des Nonestablishment in den USA (A. D. Herzke/K. R. den Dulk). Dann folgen einige Beiträge ohne oder mit geringem Bezug zum Generalthema, die hier nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen, nämlich Arbeiten zu christlichen Amtstugenden im 17. Jh. (V. E. Heyen), zum Zweck der Geschichte der öffentlichen Verwaltung als Fach (P. Aimo) und zur ästhetischen Kommunikation durch Malerei als Aspekt der Verwaltungsgeschichte (V. E. Heyen) - und last but not least für den Juristen, zur Geschichte des Verwaltungsrechtsschutzes in Deutschland (P. Collin).

Nicht alle Autoren der Arbeiten zum Generalthema des Bandes sind Juristen, wie ein Autorenverzeichnis am Ende erkennbar macht. Klar ist aber nicht immer, welche andere Fakultät oder welches andere Fach jeweils am Werke ist. Die in unterschiedlichen Sprachen verfassten Arbeiten sind zusammengerafft in Zusammenfassungen in englischer Sprache am Ende, so dass jedenfalls der dieser lingua franca kundige Leser eine volle Übersicht gewinnen kann. Auch das deutsche Editorial ganz am Anfang, vor dem eigenen Beitrag des Herausgebers in englischer Sprache, macht den Impetus und die Zielrichtung klar: Es soll letztlich aus der Perspektive der wachsenden Religionsfreiheit sichtbar werden, welche gemeinsamen Linien in Europa und darüber hinaus der Entwicklung zu entnehmen sind, die das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen, in den Wegen allerdings oft ganz unterschiedlich, genommen hat.

Das Ziel gemeinsamer Linien dieser Art, die in die Anknüpfung an die Religionsfreiheit münden, wird durch die Unterschiedlichkeit der Beiträge nicht gefährdet. Die Arbeiten unterscheiden sich nicht nur in ihrer Qualität und in ihrer Arbeitstechnik. Sie sind auch gegenständlich nicht immer vergleichbar. Einige sind ganz generalistisch angelegt, andere Arbeiten erschließen aus einem Detailproblem jene allgemeinen Linien - zunächst aus dem Kontext der Entwicklung des betreffenden Zeitabschnittes in der jeweiligen nationalen Geschichte- heraus. Einige sind weniger historisch als juristisch angelegt, selbst wenn sie nicht von Juristen verfasst sind. Aber auch das schadet nicht unbedingt. Denn auf diese Perspektive könnte man zurückgreifen, wenn man sich den Arbeiten aus einem anderen Lande zuwendet und sich fragt, welche Entwicklungen in diesem Lande zu diesen Fragen zu verzeichnen sind. Manche Beiträge hingegen befassen sich auf den ersten Blick mehr mit dem Verhältnis der Religionen untereinander, lassen dann aber erkennen, dass es in Wahrheit um den Status einer privilegierten Denomination und seinen Wandel mit der Veränderung der "Positionierung" des Staates in diesen Fragen geht, was dann den Wettbewerb unter den Denominationen verändert.

Dabei geht es dem Band nach seinem Editorial auch um Grade der Säkularisierung und um die Rücksicht auf die wachsenden Zahlen nicht nur kleiner Religionsgesellschaften christlicher Provenienz, sondern auch der Muslime in Westeuropa. Die damit entfaltete und immer noch wachsende Pluralität zwingt den Staat in die Rolle eines auf Gleichbehandlung ausgerichteten Wächters der öffentlichen Ordnung, der in dieser Funktion über die Rechtstraditionen und die Verwaltungsgeschichte zu größerer europäischer Konvergenz gelangt, die es umso leichter macht, gemeinsame Verfassungsüberlieferungen und gemeinsame allgemeine Rechtsgrundsätze auf europäischer Ebene auszumachen. Diese gemeinsamen Maximen dürfen nämlich nach dem Vertragsrecht und der Rechtspraxis nicht in einer Art Subtraktionsverfahren aus den verschiedenen nationalen Rechten ermittelt werden, sie müssen vielmehr auf einer Abstraktion von Prinzipien aus diesen Rechten auf dem eigenen Boden des europäischen Rechts ermittelt werden (vgl. dazu schon viel früher J.Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht Baden-Baden 1976, 223 ff.). Und dafür sind Arbeiten, wie sie sich in diesem Band finden, von Bedeutung, bieten sie doch das Anschauungsmaterial, um solche Abstraktionsakte vorbereiten zu können und dann rechtlich zu vollziehen. Deshalb ist der Band besonders zu begrüßen.

Vom Religionsverfassungsrecht her kommt hinzu, dass die rechtspolitische Tendenz der Arbeiten am Europäischen Verfassungsrecht immer eindeutiger auf eine verbindliche Grundrechtscharta auf europäischer Ebene hindeutet. Dann kommt es ohne jeden Zweifel darauf an, die Vielfalt in der Einheit gemeinsamer Grundlinien auch im Verhältnis zwischen Staaten und Kirchen wie im Verhältnis zur europäischen Ebene sich zu veranschaulichen. Dafür vermag dieser Band auch dem juristischen Laien ein Bild zu vermitteln, und es erscheint als Verdienst, dass auch das Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte sich um diese Thematik nun bemüht hat.