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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

222–224

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Neureither, Georg

Titel/Untertitel:

Recht und Freiheit im Staatskirchenrecht. Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als Grundlage des staatskirchenrechtlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2002. 382 S. gr.8 = Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, 37. Kart. Euro 79,80. ISBN 3-428-10838-8.

Rezensent:

Christian Traulsen

Neureither hat sich in seiner Jenaer, von Michael Brenner betreuten Dissertation nicht weniger zum Ziel gesetzt, als das noch immer ungeklärte Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften zu zeigen, "wie es eigentlich ist" (36). Als Schlüssel hierzu dient ihm das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 140 GG/137 III 1 WRV, das N., wie im Untertitel festgehalten, als Grundlage des staatskirchenrechtlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland versteht. Die Arbeit ist, das sei vorausgeschickt, dank ihrer klaren, übersichtlich strukturierten und in sich schlüssigen Argumentation gut nachvollziehbar, allerdings auf Grund ihres zugleich retardierenden und in hohem Maße redundanten Stils nicht immer angenehm zu lesen.

Einleitend resümiert der Autor - sich eigener Stellungnahme zunächst enthaltend - die bislang vertretenen staatskirchenrechtlichen Systeme, die er unter den Schlagworten Subordination (unter Einschluss der Korrelatentheorie) und Koordination sowie als "ständestaatliches", "verbandspluralistisches" und "leistungsstaatliches Modell" zusammenfasst.

Mit dem zweiten Kapitel beginnt dann der eigene Lösungsweg der Arbeit. Er beruht auf der Hypothese, dass das Grundgesetz drei Selbstbestimmungsrechte anerkenne: neben dem der Religionsgemeinschaften das Selbstbestimmungsrecht der Völker und des Menschen, und dass zwischen allen sich grundlegende Gemeinsamkeiten feststellen ließen, welche dann wiederum für die Auslegung des Art. 137 III 1 WRV fruchtbar gemacht werden könnten. Folgerichtig ist dieses Kapitel dem Selbstbestimmungsrecht der Völker - das aus verfassungs- ebenso wie aus völkerrechtlicher Sicht dargestellt wird - und dem des Menschen gewidmet; letzteres sieht N. in der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG und im allgemeinen Persönlichkeitsrecht verankert. Als gemeinsame Merkmale beider identifiziert N. einerseits ihre "Verrechtlichung" (von einem bloßen Grundsatz hin zu einem Recht), andererseits ihre Unterscheidung in ein inneres und ein äußeres Selbstbestimmungsrecht. Vor allem aber gesteht N. ihnen einen vorrechtlichen Status in dem Sinne zu, dass sie unabhängig vom Staat und seinem Recht existierten und darum nicht zuerkannt, sondern lediglich anerkannt werden könnten. Dieser Ansatz mag keineswegs zwingend sein, vielleicht gar gewisse Züge einer petitio principii tragen; er ist jedenfalls eigenständig, ja originell und hat den Reiz, dass er die Einheit der Verfassung beim Wort nimmt und die durch Art. 140 in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Kirchenartikel weder einer Sonderauslegung unterwirft noch als Fremdkörper zu marginalisieren sucht.

Im dritten Kapitel, das gleichsam das Kernstück der Arbeit bildet, entfaltet N. seine Auslegung des Art. 137 III 1 WRV. Leitend ist hierbei die im vorangegangenen Kapitel bereits vorbereitete Auffassung des Autors, dass auch dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften ein vorrechtlicher Status zukomme. Mehr noch, die Religionsgemeinschaften sollen zu den natürlichen und nicht etwa zu den juristischen Personen zu rechnen sein. Nicht erst an diesem Punkt sind freilich Zweifel angebracht. Gewiss sind der individuelle Glaube ebenso wie der kollektive, der sich zu einer Religion sammelt, der staatlichen Rechtsordnung vorgegeben. Jedoch bereits die Verfasstheit einer Religion als Religionsgemeinschaft ist für den Staat überhaupt nur in den Formen des staatlichen Rechts relevant; und vollends die Selbstbestimmung derselben ist vorrechtlich wohl zu postulieren, kaum aber zu begründen.

Umso nachdrücklicher sei freilich den weiteren Ergebnissen der Arbeit beigetreten. In der Tat ist Art. 137 III 1 WRV, wie andere staatskirchenrechtliche Vorschriften auch, als Rahmennorm zu verstehen: Während der Staat nach rein äußerlichen, säkularen Maßstäben darüber zu befinden hat, was Glaube, Religion und Weltanschauung, was Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind - N. bietet selbst Definitionen für all diese Begriffe an -, ist es Sache der Religionsgemeinschaften, nach ihrem Selbstverständnis zu bestimmen, was "ihre Angelegenheiten" sind, die sie nach Art. 137 III 1 WRV selbständig ordnen und verwalten dürfen. Und die Schranke des "für alle geltenden Gesetzes" ist nicht anhand einer allgemeingültigen Formel (nach Art der "Jedermann"-Formel oder der Bereichsscheidungslehre), sondern durch Güterabwägung im Einzelfall (nach der Wechselwirkungslehre des Bundesverfassungsgerichts) sachgerecht zu bestimmen. Der eigenständige Lösungsweg N.s führt ihn hier zu durchaus nicht neuen, gleichwohl durchaus nicht obsoleten Positionen.

Das gilt ebenfalls für das abschließende vierte Kapitel, in dem N. die Folgerungen aus dem Vorangegangenen zieht. Zunächst begründet er, warum - entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - auf eine Verletzung des Art. 137 III 1 WRV die Verfassungsbeschwerde gestützt werden kann, um sich sodann der anfangs aufgeworfenen Frage nach dem staatskirchenrechtlichen System des Grundgesetzes zuzuwenden. Zutreffend hält N. fest, dass es ein solches nicht geben kann: Zwar ist die Subordination der Religionsgemeinschaften unter die Staatsgewalt im säkularen Staat nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Und doch treten Staat und Religionsgemeinschaften einander sowohl in Über- und Unterordnung als auch gleichrangig gegenüber. Dies lässt sich gewiss in unterschiedlicher Weise begründen. Für N. zeigt sich hier das grundsätzliche Wesen der Selbstbestimmung - sei es der Menschen, Völker oder Religionsgemeinschaften -, die einerseits darin besteht, Freiheit selbst zu definieren, andererseits, um nicht die Freiheit des jeweils anderen zu beeinträchtigen, notwendigerweise beschränkt und rechtlich verfasst werden muss.

So mündet die Arbeit, insoweit den Kreis zu ihrem Haupttitel schließend, in ein leidenschaftliches Plädoyer für den Zusammenhang zwischen Recht und Freiheit, nach dem Worte Kants: "Das Recht ... ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (321). N. ist abermals beizupflichten, wenn er diese freiheitssichernde Funktion des Rechts im Staatskirchenrecht des Grundgesetzes verwirklicht sieht; und wenn er abschließend die rechtssichernde Funktion der Freiheit, ein Zitat Paul Kirchhofs abwandelnd, in dem Satz zuspitzt, dass Religionsarmut zugleich Verfassungsarmut sei, so möchte auch dies der Rez. gerne unterschreiben.<