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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

219–221

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wüpper, Antje

Titel/Untertitel:

Wahrnehmen lernen - Aspekte religionspädagogischer Bildbetrachtung am Beispiel religiöser Kunst des Expressionismus.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. 357 S. m. 19 Abb. gr.8 = Symbol - Mythos - Medien, 4. Kart. Euro 30,90. ISBN 3-8258-5162-1.

Rezensent:

Thomas Klie

Derzeit ist wohl kaum eine Veröffentlichung auf dem reich sortierten Markt der Religionsdidaktik auszumachen, die nicht im weitesten Sinne Orientierungsgewinne bzw. Werthaltungen von Jugendlichen verhandelt. Intentional liegt darum die Bonner Dissertation von Antje Wüpper voll im Mainstream, geht es ihr doch darum, den Schülerinnen und Schülern "Hilfestellung" zu leisten bei ihrer "Suche nach Sinn- und Wertvorstellungen" (15). Im Hinblick auf ihren Gegenstand hebt sich diese Untersuchung jedoch deutlich von den zumeist lebensweltlich oder popkulturell argumentierenden Arbeiten ab: Es werden am Beispiel expressionistischer Kunst die "Besonderheiten bildhafter Bedeutungsvermittlung" reflektiert. Die religionspädagogische Diskussion erhält damit sowohl inhaltlich wie auch didaktisch neue Impulse, denn mit der Operationalisierung bildgestützter Wahrnehmung in Lehr-Lernprozessen beschreitet W. religionspädagogisches Neuland. Das entsprechende Kapitel B (89-131) bildet die theoretische Schaltstelle des ganzen Buches.

Die Arbeit gliedert sich in fünf große Abschnitte. In der einleitenden "Standortbestimmung" (A: 68 S.) geht es um die theologische, religions- und schulpädagogische Legitimation von Bildern. Es wird ein weiter Bogen geschlagen vom alttestamentlichen Bilderverbot bis hin zur exemplarischen Schulbuchanalyse. Der zweite Abschnitt (B: 42 S.) gilt den "bilddidaktische[n] Grundlagen für einen religionspädagogischen Umgang mit Bildern". Danach kommt der Gegenstand selbst in den Blick: der Expressionismus im Allgemeinen (C: 34 S.), die "Künstler und ihre religiösen Werke" (D: 47 S.) und die didaktisch-ästhetische Analyse ausgewählter Werke des Expressionismus (E: 91 S.). Das abschließende, gut 42-seitige (!) Literaturverzeichnis zeigt an, dass W. ihr Thema in allen seinen Facetten erfasst hat und ihre Untersuchung anschlussfähig hält an die angrenzenden Fachdiskurse. Für Interessierte tut sich hier eine wahre Fundgrube auf.

Die Darstellung und Vermittlung religiöser Kunst in den Horizont ästhetischer Erfahrung einzurücken, wie es in der "Standortbestimmung" geschieht, entspricht voll der Zirkularität didaktischer Analysen. Zudem immunisiert diese Vorgehensweise von vornherein gegen abbilddidaktische Kurzschlüsse:

Nicht irgendwelche Kulturgüter sollen als solche bildungsförmig transportiert werden, sondern es sollen die religiöse Bildwahrnehmung unterrichtlich geschärft und Deutungsmuster rekonstruiert werden, die religiöse Lesarten erlauben. Im Anschluss an U. Eco formuliert W. als Kernthese: "Kunstwerke [können] aufgrund ihres offenen Charakters die gewünschte Lebensbegleitung, die Kontinuität in der Diskontinuität fördern ... und so zu der Entwicklung einer religiösen Kompetenz beitragen" (27). Ein didaktisch fruchtbarer Zugang ergibt sich hierbei vor allem mit der sich bei vielen Expressionisten in "Sinn- und Hilflosigkeitserfahrungen" artikulierenden "Umbruchstimmung". Die ästhetische Avantgarde lebt - ganz analog zu spätmodernen Weltsichten - von der Inkommensurabilität. So gesehen sind die Visionen der Expressionisten zur derzeit vorherr- schenden Wirklichkeitserfahrung geworden: "Die Bilder bzw. Sehweise der Expressionisten entsprechen ... durchaus heutigem Lebensgefühl, aber sie haben keinen Eingang in die Glaubensgeschichte gefunden" (30).

Charakteristisch für diese Kunstform ist, dass sich auch und gerade das religiöse Motiv einer fixierenden Deutung entzieht - "fest" steht paradoxerweise allein die relative semantische Offenheit der visuellen Zeichen. Der ästhetisch codierte Modus der Zeichenerzeugung unterläuft gleichsam die vom alttestamentlichen Bilderverbot gemeinten denotativen Zeichenlektüren. Das einzige Manko dieser didaktisch wie ästhetisch gleichermaßen überzeugenden Argumentation ist, dass sie ihre kommunikationstheoretischen Grundlagen nicht offen ausweist. Statt einer vielerorts nachlesbaren Geschichte der theologischen Kunstdiskussion hätte die Arbeit von einer (kurzen) zeichen- bzw. erkenntnistheoretischen Einordnung deutlich mehr profitiert.

Durchweg erhellend dagegen ist die kritische Exegese der gängigen Unterrichtswerke für den Religionsunterricht. W. erhebt hier ein krasses Missverhältnis zwischen dem Stand der Bilddidaktik und den allgemeindidaktischen Innovationen. Immer noch werden Kunstbilder thematisch instrumentalisiert oder rein illustrativ verwendet. Der aktuelle "Trend zur Bebilderung" vollzieht sich - so die ernüchternde Bilanz - weitgehend ohne bilddidaktische Kontaktnahmen.

Genau hier setzt W. an, indem sie Spezifika einer ikonischen Wahrnehmung benennt und systematisiert. Sie diskutiert die Eigenarten "anschaulichen Denkens" erfreulicherweise weit diesseits verquaster Ganzheitlichkeitspostulate - es werden durchgehend moderat konstruktivistische Positionen vertreten. Wenn nun aber die Bedeutungskonstitution mit guten Gründen auf der Rezipientenebene angesiedelt wird, dann ist es nur konsequent, die Ausdrucksformen des ästhetischen Urteils mit Erikson und Piaget entwicklungspsychologisch anhand eines Stufenmodells darzustellen und diesbezüglich von der "Altersgemäßheit der Bilder" ( 106 ff.) zu sprechen. Werke expressionistischer Künstler sollen bei den Schülern - auf dem jeweiligen Level ihres bildlichen Verständnisses - als Katalysatoren einer für den Religionsunterricht wichtigen Fragehaltung fungieren. Sie leiten an, "nach dem Wesentlichen zu fragen" (214). Die Wirkung der Kunst sollte aber auch nicht - wie bisweilen in den Symboldidaktiken geschehen - überschätzt werden: "Was sich in Kunstwerken manifestiert, ist allenfalls eine Spur Gottes" (121). Wie diese Gottesspur unterrichtswirksam zu (re-) konstruieren ist, zeigt W. in ihrem fünften und umfangreichsten Kapitel. Es gliedert sich in "Bilder von Gott", "Christusbilder", "Bilder vom Menschen" und "Endzeitbilder". Jedem Teil werden eine thematische Einordnung und systematisch-theologische Überlegungen vorangestellt. Alle Bildanalysen münden ein in eine "didaktische Konkretion", in der mögliche Lernwege skizziert werden. Hier zeigt sich der geschulte Blick der Religionspädagogin, denn W. schlägt durchweg schulnahe und schülergemäße Didaktisierungen vor. Bisweilen bleiben jedoch diese Vorschläge - entgegen dem eigenen rezeptionsästhetischen Anspruch - im Rahmen konventioneller Bildhermeneutiken.

Die vorliegende Arbeit besticht durch die kenntnisreiche Anordnung des Materials und die stringente Gedankenführung. Der Leser weiß nach der Lektüre, was "Sache" ist und wie er sich religionsdidaktisch zu dieser "Sache", der Kunst des Expressionismus, verhalten kann und soll. Auch werden ihm die kunst- und entwicklungspsychologischen sowie rezeptionsästhetischen Gründe dafür genannt. Über das, was den Expressionismus theologisch vor anderen Stilformationen auszeichnet, erfährt er allerdings relativ wenig. Die Fülle des religionspädagogisch erschlossenen Materials (z. B. 19 größtenteils farbige Abbildungen) und die unprätentiöse, gleichwohl aber präzise Darstellung machen diese Unwucht mehr als wett. Zugleich erlaubt der hohe Grad an Allgemeinheit vor allem in den "bilddidaktischen Grundlagen" auch einen Transfer vom (relativ schmalen) Kanon des religiösen Expressionismus auf andere Werke zeitgenössischer Kunst.