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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

217–219

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lux, Rüdiger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Schau auf die Kleinen ... Das Kind in Religion, Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 215 S. m. 22 Abb. 8. Kart. Euro 22,50. ISBN 3-374-01925-0.

Rezensent:

Frank Surall

Die zehn Beiträge zur Kindheitsforschung aus Theologie und Nachbardisziplinen gehen größtenteils auf eine Leipziger Ringvorlesung zurück. Den Band eröffnet Claus Wilcke, der anhand sumerischer Texte den Schulalltag an der Wende zum 2. vorchristlichen Jahrtausend lebendig vor Augen führt. Schon im Alten Orient ging es der Schule neben der Wissensvermittlung um die Einübung sozialer Verhaltensmuster. Dabei ergaben sich Freiräume der Selbstbestimmung in der Schule und bei der Berufswahl, selbst gegen den elterlichen Willen.

Rüdiger Lux lässt durch eine Gegenüberstellung des "besonderen Kindes" Samuel und der "ungeratenen Kinder" des Priesters Eli Umrisse einer alttestamentlichen Lernkultur deutlich werden. Dabei findet er manche moderne religionspädagogische Errungenschaft wie "symboldidaktische Elemente" oder eine handlungsorientierte "religiöse Erziehung ... auf dem Wege der imitatio" schon in alttestamentlicher Zeit vorgeprägt.

Kurt Sier zeigt eine Entwicklung vom Kind als Projektionsfläche menschlicher Möglichkeiten in der frühen griechischen Literatur hin zu einer sensibleren Wahrnehmung seiner natürlichen Eigenart in hellenistischer Zeit auf. Johannes Bergemann bestätigt diesen Befund im Blick auf griechische Bildwerke. Zunächst seien Kinder in einer Prolepse ihrer zukünftigen Funktion in der Polis dargestellt worden. Erst in der hellenistischen Epoche kamen daneben kindliche Physiognomie und Verhaltensweisen zum Ausdruck.

Im Neuen Testament erscheinen Christoph Kähler zufolge Kinder zumeist als "Mängelwesen" und Objekte des Handelns von Erwachsenen. Die negative Konnotation der Metapher "Kind" lasse erst die Provokation erkennen, mit der in den Evangelien dem Hörer "ein Platz völlig ohne Einfluss und Anspruch gegenüber der Gottesherrschaft" angewiesen werde. Erst sekundär habe sich die Frage nach dem Verhältnis Jesu zu realen Kindern gestellt, die als Folge der primär intendierten Entwertung der Mündigen aufgewertet worden seien.

Alex Stock wendet sich der "Bildgeschichte des zwölfjährigen Jesus" zu. Der älteren Darstellung Jesu als jugendlichem Lehrer stehe eine neuere familienethische Inszenierung Jesu als "Musterknabe" gegenüber. Nunmehr sollen "Bildalternativen", die in der Tradition Rembrandts die Tempelszene als "Ereignis der Erkenntnis in der Kommunikation" gestalten, neue religionspädagogische Möglichkeiten erschließen.

Indem die bildgeschichtliche Betrachtung, die von frühchristlicher Zeit bis ins 20. Jh. führt, die ansonsten fehlende kirchenhistorische Perspektive vertritt, bildet sie einen Übergang zum systematisch-theologischen Beitrag Martin Petzoldts. Ethisch impliziere die neutestamentliche Relativierung aller Hierarchien die "sorgfältige Unterscheidung entwicklungsmäßiger Angewiesenheit von repressiven Abhängigkeitsstrukturen". Dogmatisch findet Petzoldt in der weihnachtlichen Stellvertretung des Kindes Jesus und im Kind als Stellvertreter Jesu nach Mk 9,37 eine christologische Verortung des Kindes in der Theologie, die auf Grund der gemeinsamen Gotteskindschaft aller Christen um eine ekklesiologische ergänzt wird.

Nach Helmut Hanisch qualifiziert die Fähigkeit zu staunendem Fragen und Nachdenken Kinder als Philosophen. Ihrem mythischen Denken komme ein Eigenwert zu, so dass es sich um keine defizitäre Vorstufe zur Wissenschaft handle. Entsprechend seien Kinder als Theologen mit ihrer spezifischen Möglichkeit zu intuitiver religiöser Theoriebildung ernst zu nehmen. Wo areligiöse Milieus die Bildung idiosynkratischer religiöser Begriffe verhinderten, müsse der Religionsunterricht eine solche ermöglichen. Erst daran anknüpfend sollten theologische Inhalte als Korrekturanstöße angeboten werden.

Dem Pädagogen Wilfried Lippitz zufolge ist in der Moderne nicht mehr nur das unzivilisierte, sondern partiell jedes Kind ein "fremdes" Kind, dessen Lebensentwurf nicht vorhersagbar sei. Für die Kindheitsforschung komme es daher nicht länger als Objekt, sondern mit seinen subjektiven Eigenheiten in den Blick.

Das Verhältnis von "Kindheit und Pluralismus" betrachtet Karl Ernst Nipkow. Kinder brauchten Pluralität, die mittels Differenzerfahrungen eine selbstbestimmte Bildung ermögliche. Allerdings bestehe in westlichen Gesellschaften die Gefahr, dass Freiheit als Beliebigkeit verloren gehe. Für Kinder müsse die Pluralität auf ein verträgliches Maß begrenzt werden, um Verunsicherungen zu vermeiden. Deshalb plädiert Nipkow für einen Religionsunterricht, der die Wahrheitsansprüche der Religionen ernst nimmt.

Der Band belegt eindrücklich, dass die Theologie im interdisziplinären Dialog einen eigenen Beitrag zur Kindheitsforschung leisten kann. Er spiegelt sowohl die diesbezügliche Dominanz der Religionspädagogik wider als auch die Bereicherung durch die sich allmählich verstärkende Öffnung anderer theologischer Disziplinen für eine "am Kind orientierte Theologie" (R. Lachmann). Dabei hat die Systematische Theologie, wie M. Petzoldt wohl richtig sieht, den größten Nachholbedarf.