Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

211–214

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm

Titel/Untertitel:

Sämtliche Werke. II. Abt.: Verstreute Beiträge und selbständige Schriften. XX. Band: Texte aus den Jahren 1842 bis 1857. Bearb. von Ch. Breschke u. S. Schütze. Hrsg. von R. Hohendorf u. H. F. Rupp.

Verlag:

Neuwied: Luchterhand 2000. VIII, 611 S. gr.8. Lw. Euro 52,50. ISBN 3-472-00877-6.

Rezensent:

Antje Roggenkamp-Kaufmann

Kaum ein Pädagoge dürfte so schillernde Reaktionen ausgelöst haben wie der aus Siegen gebürtige Friedrich Wilhelm Adolph Diesterweg (1790-1866). Bereits zu Lebzeiten galt er den einen als "Schöpfer des deutschen Volksschullehrerstandes, als Reformator der Lehrerseminare", den anderen als "hemmungsloser Demagoge und Kirchenfeind" (E. Weniger). Diese divergente Beurteilung setzt sich bis in die jüngste Gegenwart hinein fort: Erfolgte eine Rezeption nach 1945 im Westen eher zögerlich, so besannen sich gerade die bildungspolitisch einflussreichen Institutionen der DDR auf den als fortschrittlich geltenden "idealistischen Klassiker" (G. Geißler/H. F. Rupp [Hg.], D. zwischen Forschung und Mythos. Texte und Dokumente zur Forschungsgeschichte, Luchterhand 1996).

D.s "Sämtliche Werke", zunächst im Berliner Verlag Volk und Wissen erschienen, zeichnen sich in diesen Kontext ein. War es doch das Volksbildungsministerium, das 1954 ihre Herausgabe anregte. Der 20., von R. Hohendorf (Dresden) und H. F. Rupp (Würzburg) gemeinsam herausgegebene Band gehört bereits der zweiten Abteilung an, die seit 1998 im Luchterhand Verlag erscheint: Einst separierte Forschungstraditionen wachsen offensichtlich zusammen.

Vorliegender Band enthält nahezu sämtliche in den Jahren zwischen 1842 und 1857 erschienenen Texte. Er umfasst damit just jene Epoche, in der D. als preußischer Lehrerbildner zunächst beurlaubt (1847) und später abgesetzt (1850) wurde. Schon insofern dürfte ihm eine besondere Bedeutung zukommen.

Die 1842 erschienene Schrift "Alaaf Preußen! Zur Begrüßung der neuen Epoche in dem preußischen, hoffentlich deutschen Erziehungswesen" (3-11) ist der Wiedereinführung des im Jahr 1819 durch die Karlsbader Beschlüsse abgeschafften Turnunterrichts gewidmet. D.s begeisterte Zustimmung zu der am 6. Juni 1842 erlassenen obrigkeitlichen Verfügung stützt sich auf humanistische, patriotische und disziplinarische Überlegungen, die zugleich Einblick in die Grundlinien seiner Pädagogik gewähren. Diese sei niemals allein auf die Gegenwart auszurichten, sondern habe immer auch die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderungen zu bedenken. Die Maßnahmen der obersten Unterrichtsbehörde empfindet D. daher als Anbruch einer neuen Morgenröte: "Alaaf Preußen! Alaaf Deutschland!" (11).

In seinem "Anti-Pieper" - der Untertitel der 1844 erschienenen Schrift lautet: "Die Anklage auf Irreligiosität, Jugend- und Lehrerverführung, erhoben von Gustav W. Pieper Pastor in Mettmann, in ihrer Unwahrheit und Bestandlosigkeit wie auch in ihrer bösen Wurzel nachgewiesen von dem Angeklagten A. D." (13-48) - befasst sich D. mit Vorwürfen, die man ihm - ähnlich wie weiland Lessing - "entgegenschleuderte". Leitlinie seiner Argumentation ist nun aber weniger eine eingehende Auseinandersetzung mit der gegen ihn gerichteten Kritik, als vielmehr der Nachweis, dass ausgerechnet die preußische Schulverwaltung die bisherige Selbsteinschätzung der Theologie als "Königin der Wissenschaften" in Frage stelle. Wenn diese angehende Theologen nach bestandenem Examen zur weiteren Ausbildung in die Lehrerseminare überweise, so gebe sie damit zu erkennen, dass ihr "der Glaube an den Satz der Identität der Theologie und Pädagogik abhanden gekommen" (16) sei. Diese Einsicht impliziere nun allerdings, dass auch die Schüler ihre formalen Fertigkeiten - wie etwa das Lesen oder das Schreiben- nicht länger an religiösen Stoffen ausbilden sollten (38). Andernfalls bestehe nicht nur die Gefahr eines späteren Indifferentismus. Mit der Religion könne auch die Moral Schiffbruch erleiden (41)!

Die folgenden vier Schriften widmen sich anlässlich dessen 100. Geburtstags (12.1.1746) dem Schweizer Pädagogen Pestalozzi (zunächst hatte man den 12.1.1745 ins Auge gefasst, sich zwischenzeitlich aber von der späteren Datierung überzeugt; vgl. 488). Eine erste, ursprünglich als Rede verfasste Schrift (49-71) thematisiert den pädagogischen Ansatz Pestalozzis: Liegen die Grundsätze der Erziehung in der Menschennatur, so habe Erziehung die Aufgabe, den lebendigen Trieb der Entwicklung zu fördern. Sie tut dies, indem sie negativ agiert und Hindernisse aus dem Weg zu räumen habe. Ihre positiven Wirkungen bestehen demgegenüber darin, den Menschen in möglichst vielfältiger Hinsicht anzuregen: "die Wissenschaft der Erziehung ist Erregungstheorie" (62).

In einer zweiten Schrift wird Pestalozzi als Erneuerer des preußischen (Elementar-)Schulwesens (73-101) gewürdigt. Während D. im Rahmen der Männerfeier von 1846 (103-122) die methodischen Ansätze der um die Ausbreitung von Humanität bemühten Pädagogik Pestalozzis entwickelt (108-111), verfolgt er in seiner Rede auf der Frauenfeier (123-139) eine gewissermaßen doppelte "Strategie". Um zu verdeutlichen, dass Pestalozzi "vorzugsweise auch die Huldigung der Frauen zu empfangen verdiene" (153), greift er nicht nur auf Gedanken Bettina von Arnims zurück - Pestalozzi habe deren gesellschaftliche Grundüberzeugungen ins Pädagogische übersetzt (129). Der Vortrag profiliert auch die Person Anna Pestalozzis, diejenige Schweizer Bürgerin, die 46 Jahre lang treu an der Seite ihres um seine Schwächen wissenden Mannes ausharrte (135-138).

Von größerer Bedeutung für die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Pädagogik erscheinen mir die drei Schriften über die preußischen Regulative. Hatte doch P. C. Bloth den konstruktiven Ansatz ihrer Religionsdidaktik herausgestellt: Der biblische Unterricht sei das religiöse Herzstück, der Katechismusstoff bliebe den Prolegomena des Religionsunterrichts vorbehalten. Dieses die preußische Schullandschaft für einige Jahre prägende Prinzip des Schleiermacher-Adepten und Nitzsch-Schülers Stiehl sei aber weder von den konfessionellen Kritikern um Hengstenberg noch von dem Spätaufklärer D. wahrgenommen worden (Bloth, 1968).

Betrachtet man die entsprechenden Schriften D.s vor diesem Hintergrund, dann wird die Beobachtung Bloths erklärbar. D. nimmt das Problem nämlich grundsätzlich in Angriff. So arbeitet er in einer ersten Studie (141-190) heraus, dass der (pädagogische) Gedanke allgemeiner Menschenbildung zu Gunsten einer speziellen Kenntnisvermittlung preisgegeben worden sei. Dies lasse sich nicht nur am Religionsunterricht, sondern auch an den einzelnen Fächern zeigen: Übergeordnete Inhalte träten hinter Spezialkenntnissen zurück (146). Es sei daher zu befürchten, dass man an Stelle von Lehrern, die die Kritik oder das Nachdenken beförderten, "luthersche [...] Dick- und calvinistische [...] Spitzköpfe [...]" (177) heranbilde (190).

In seiner zweiten diesbezüglichen Schrift (191-258) nimmt D. einen früheren Argumentationsstrang wieder auf: Der ganz auf die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten bezogenen Pädagogik des Augenblicks wird eine "Pädagogik der Ewigkeit" gegenübergestellt (236). Nur diese sei mit dem Prinzip der allgemeinen Menschenbildung identisch, das er nun als ein Geistesprinzip bzw. als eine dem Protestantismus entstammende, im wahrsten Sinne politische Haltung (255 ff.) benennt: "Zwei Prinzipien kämpfen um die Herrschaft der Welt. Das eine will den Menschen von äußerer Autorität abhängig, das andere will ihn selbständig machen." Während das erste Prinzip auf politischem Gebiet als das absolutistische erscheine, auf religiösem Terrain mit der kirchlichen Hierarchie identisch sei und insofern auch als katholisches Prinzip identifiziert werden könne, ginge es dem "protestantische[n] Prinzip" darum, "den Menschen zu freier Entwickelung und freier Verwendung seiner Kräfte" in Stand zu setzen. Fatal sei es, dass die aktuelle hitzige Diskussion zwischen beiden Prinzipien nicht unterscheide. Das Resultat einer solchen Pädagogik, der insbesondere die Regulative Vorschub leisteten, könne nur "Zwitterbildung, Halbheit, innerer Widerspruch" (251) sein.

Die dritte Schrift zum Thema (259-339) schlägt schließlich- insbesondere in der Auseinandersetzung mit zwischenzeitlich erfolgten Äußerungen Stiehls u. a. (291) - einen überaus scharfen Ton an. Jetzt ist es das "Prinzip der Autorität" (277), das als oberstes Erziehungsprinzip der Regulative erscheint. Dabei setzt sich D. insbesondere gegen eine ministerielle Verfügung zur Wehr, die den Gegnern der Regulative unterstellt, sie wollten "an die Stelle der heiligsten Güter der Nation hohle Negationen" (291) setzen. Das Lebensprinzip der Nation stehe auf dem Prüfstand: Denn, "was hat den preußischen Staat geschaffen? Die Symbolgläubigkeit oder der protestantische Geist?" (318) Die Antwort liegt auf der Hand und so wundert es kaum, dass D. abschließend zu folgendem, sich analytisch gerierenden Urteile gelangt: "Die Regulative stützen die Wahrheit und Richtigkeit ihrer Sache und ihrer Siegesgewißheit auf göttliche Anordnungen, sie berufen sich auf Gott, andere meinen dagegen, daß Gott etwas ganz anderes wolle. Hier steht Meinung gegen Meinung. Lassen wir daher den Herrn der Heerscharen aus dem Spiele!" (331)

Der letzte Text "Pädagogisches Wollen und Sollen" (341- 468) versammelt - gewissermaßen in Form eines literarischen Vermächtnisses - Themen, die ex- oder implizit auch andernorts angesprochen wurden. Soll, so fragt D., "der Lehrer ein (wissenschaftliches) System im Kopfe haben?" Ein System, das in bewährter Manier dem Selbstruhm des Pädagogen diene, sicherlich nicht. Wohl aber müsse sich der Pädagoge darum bemühen, das subjektive Prinzip zu verfolgen. Dieses sei das Bewegungs-, das Entwicklungs-, ja das protestantische Prinzip, das im Grund genommen jedes "Erziehungs- und Unterrichtssystem" in Frage stelle ( 375). Pädagogik habe daher neutral zu sein, ihre Aufgabe sei es nicht, "des Zöglings künftige Profession, Konfession und politische Richtung ins Auge zu fassen" (408). D.s Ausführungen kulminieren schließlich in der Forderung nach Trennung von Kirche und Staat (448). Dabei steht auch hier das protestantische Prinzip im Vordergrund: "als wirklicher Protestant strebt er nach vollkommener, absoluter Freiheit der Religion für sich nicht nur, sondern auch für jeden andern" (451). Aber ob damit nicht wiederum ein normatives Prinzip aufgerichtet ist?

Der 20. Band, der durch gründliche, die Parallelüberlieferungen verzeichnende Anmerkungen (471-591), aber auch durch ein ausführliches Personenverzeichnis (593-611) besticht, thematisiert in besonderer Weise das Verhältnis von Theologie und Pädagogik. Die Akzentuierung des protestantischen Prinzips dürfte die Frage nach der spezifischen Religiosität D.s - ein wesentliches Movens bisheriger Forschungsansätze - zumindest vorläufig sistieren. Erscheint D. vor diesem Hintergrund doch tendenziell als Wegbereiter (liberal-)protestantischer Traditionen. Es wäre zu wünschen, dass die Herausgabe der Sämtlichen Werke D.s zu einer entsprechenden Überprüfung hergebrachter (religions-)pädagogischer Parameter führt. Die Freilegung der dazu notwendigen Potentiale ist den Herausgebern gelungen. Nicht zuletzt dafür sei ihnen herzlich gedankt.