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Ausgabe:

Juli/August/1998

Spalte:

737–740

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Harvey, Graham

Titel/Untertitel:

The True Israel. Uses of the Names Jew, Hebrew and Israel in Ancient Jewish and Early Christian Literature.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. XVII, 303 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums, 35. Lw. hfl. 165.-. ISBN 90-04-10617-0.

Rezensent:

Dieter Sänger

Diese Studie, mit der H. eine revidierte Fassung seiner 1991 von der Universität Newcastle upon Tyne angenommenen Dissertation vorlegt, verfolgt eine doppelte Fragestellung: Inwieweit erlauben die Eigenbezeichnungen Jude/Juda, Hebräer, Israel/Israelit in der frühjüdischen Literatur Rückschlüsse auf das Selbstverständnis der einzelnen Verfasser bzw. der von ihnen repräsentierten Gemeinschaft? Sind sie womöglich Ausdruck einer innerjüdischen Selbstdifferenzierung, hinter der sich ein gruppenspezifischer Anspruch verbirgt, das "wahre Israel" zu sein?

H. konzentriert sich im wesentlichen auf Texte, die in dem untersuchten Zeitraum (300 v. Chr.-200 n. Chr.) bekannt und verbreitet waren bzw. verfaßt wurden. Darüber hinaus bezieht er auch das NT - für ihn ebenfalls ein frühjüdisches Dokument - sowie eine Reihe nachkanonischer Schriften in seine Rückfrage mit ein (4). Unberücksichtigt bleiben pagane Quellen, da sie aus einer Fremdperspektive heraus formuliert sind und keinerlei Auskunft darüber geben, wie "Jews wrote about themselves and each other" (5). Das bisher favorisierte Verfahren, mit Hilfe der Etymologie einen Zugang zu den drei Leitbegriffen zu gewinnen, hält H. methodisch für defizitär. Auf diese Weise könne lediglich etwas über ihre geschichtliche Bedeutung gesagt werden, nichts aber über ihren aktuellen Sinngehalt im jeweils neu konstituierten literarischen Kontext (6 f.). Hingegen werde durch eine umfassende Wortfeldanalyse ("theory of associative fields") eine vorschnelle Festlegung auf bereits vorgängig fixierte Inhalte vermieden. Zudem erschließe sich die semantische Valenz der gewählten Terminologie erst dann, wenn deutlich werde, welche eigenen Assoziationen die Autoren mit ihr verbinden (8). Dem Untertitel entsprechend ist der Hauptteil in drei Abschnitte gegliedert (11-103.104-147.148-266), wobei jedes Stichwort - bis auf Hebräer - in mehreren Kapiteln behandelt wird. Deren Reihenfolge orientiert sich weitgehend an der Entstehungszeit der untersuchten Texte.

Zum Einzelnen: Im biblischen Sprachgebrauch bezeichnet Juda a) Individuen, vor allem den jüngsten Sohn Leas, b) dessen Nachkommenschaft, c) das Stammesgebiet mit dem Zentrum Jerusalem. Der dominierende territoriale Aspekt wird durch das Gegenüber zum Nordreich oft noch zusätzlich betont. Das Wortspiel Juda/jadah (preisen) begegnet nur an zwei Stellen (Gen 29,35; 49,8). Ansonsten tritt der ursprünglich theophore (oder geographisch bedingte?) Charakter des Namens völlig zurück. Qumran knüpft zunächst an den biblischen Befund an, geht dann aber einen Schritt weiter. Aufgrund ihrer Herkunft (CD 4,3, vgl. Ez 44,15) versteht sich die Gemeinde als das Juda par excellence (21.41), ohne daß der Begriff damit zu einem Synonym für Israel wird (39 f.). Denn obwohl in Wahrheit nur die zum "Hause Juda" gehören, die das Gesetz erfüllen und dem Lehrer der Gerechtigkeit die Treue bewahren (1QpHab 8,1-3), kann es Außenstehende mit einschließen (CD 20,26 f.; 4Q175). Mit anderen Worten: trotz der Tendenz, das biblische Erbe für den "Bund der Einung" (1QS 8,16 f.) zu reservieren, behauptet die Gemeinde nicht, das "wahre Israel" zu sein. Im Gegensatz zu Qumran gebraucht Philo das bei ihm mehrheitlich begegnende ioudaios (Adj./Subst.) gleichsam wertneutral. Neben dem religiösen steht der ethnische Aspekt im Vordergrund. Gemeint ist primär das geschichtliche und empirische jüdische Volk, das sich von den übrigen Völkern durch Alter und Tiefe seiner Philosophie fundamental unterscheidet (Virt 65). Die Gen 29,35 entlehnte symbolische Deutung (Plant 134 f.) spielt kaum eine Rolle (45 f.). Josephus bevorzugt ebenfalls ioudaios zur Kennzeichnung des nachexilischen Judentums (Ant 11,173), vermerkt jedoch, daß frühere Generationen Hebräer genannt wurden (Ant 1,146). Die Juden und Heiden jeweils zugeordneten kultisch-religiösen Statusmerkmale lassen erkennen, worin die eigentlichen Differenzen zwischen ihnen bestehen: Jude zu sein heißt konstitutiv, die väterlichen Gesetze (Beschneidung, Sabbatheiligung, Speisegebote) zu praktizieren und loyal zum Tempel zu stehen (54-59).

Im neutestamentlichen Kapitel (62-98) beschränkt sich H. auf zwei Evangelien (Lk, Joh), die Apg und drei Beispiele aus der Briefliteratur (Röm, Gal, Offb), ergänzt durch einen Seitenblick auf Ignatius (95). Prinzipiell gilt: je jünger eine Schrift, desto ausgeprägter sind die negativen Züge, die sich mit Jude usw. verbinden. Im lk Doppelwerk wird den ioudaioi die Schuld am Tod Jesu angelastet. Weil sie ihn, seine Botschaft und die der Apostel abgelehnt haben, wird das Evangelium jetzt den Heiden verkündigt (78-84). Das JohEv liefert ein Zerrbild der historischen Wirklichkeit, indem es die Juden insgesamt zu Gegnern Jesu stempelt (92 f.). Nikodemus bildet keine Ausnahme. Er ist geradezu die archetypische Verkörperung dessen, der sich von Jesus nicht überzeugen läßt, darum der Welt verhaftet und "blind" bleibt (vgl. Joh 9 [87 f.]). Diese auf der literarischen Ebene vollzogene Identifizierung hat mit der konkreten geschichtlichen Erfahrung der joh Gemeinde wenig zu tun. Sie entspringt der christologischen Konzeption des 4. Evangelisten, die er, wie schon der Prolog signalisiert (1,11 f.), in Abgrenzung zum Judentum entworfen hat (93 f.). Die Offb setzt die Juden mit der "Synagoge des Satans" gleich (2,9; 3,9). An ihre Stelle treten die Christen, die nun als die "wahren Juden" gelten (94.250). Ignatius schließlich degradiert alles Jüdische zu einem todgeweihten Relikt (Phld 6,1, vgl. Magn 8,1; 10,3). Ganz anders noch Paulus. Der Apostel selbst hat sich zeitlebens als Jude verstanden (Röm 9,3; Gal 2,15). Seine Berufung vor Damaskus (Gal 1,15 f.) führte nicht zum Bruch mit der eigenen Vergangenheit (vgl. 1,13 f), sondern lediglich zu einer Umorientierung "from Pharisaism to Jewish Christianity" (68), mit der er aber im Rahmen des jüdischen Spektrums verblieb. Auch Gal 2,14 ff. ist weder von dem Kontrast Juden-Christen bestimmt noch wird Petrus angeklagt. Paulus argumentiert vielmehr vom Boden eines die Heiden inkludierenden Judentums(!) aus und kritisiert eine ethnozentrische "hypocrisy" (70. 72), die die Zugehörigkeit zum Abrahambund von der Beachtung halachischer Vorschriften, nicht vom Glauben (Gal 3,8) abhängig macht (69-73.75).

Der nächste Abschnitt präzisiert und ergänzt Ergebnisse des ersten. Im AT ist Hebräer oft austauschbar mit Juda/Israel (105. 109), besitzt daneben aber ein eigenes semantisches Profil. Der Begriff hebt vor allem die Bedeutung einzelner Gestalten aus der Geschichte Israels hervor (Gen 14,13; 39,14; 41,12 u. ö.), unterstreicht das Alter des Gottesvolkes oder erinnert an seinen nomadischen Ursprung (cabar = dahingehen, überschreiten [109f. 146.270]). Speziell in der LXX wird er auf Gruppen und Personen appliziert ("traditionalists", "pious" [116]), die das religiöse Erbe gegen Assimilationsversuche verteidigen (2Makk 7,31; 11,13; Jdt 10,12). Während bei Philo und in den Pseudepigraphen der sprachliche und ethnische Bezug überwiegt, verwendet Josephus Hebräer wieder im qualifizierenden Sinn, indem er ein bereits im AT präformiertes Assoziationsmuster revitalisiert. Auf eine Kurzformel gebracht: ioudaioi ist "a name for good and bad, ancestors, kings and rebels", doch nur "good Jews" sind auch "Hebrews" (129.147.271). An diesen innerjüdisch differenzierenden Gebrauch schließt Paulus an, wenn er sich zweimal ausdrücklich als Hebräer bezeichnet (2Kor 11,22; Phil 3,5). Damit will er den gegnerischen Vorwurf entkräften, sein Evangelium widerstreite der biblischen Tradition (131 f.).

Ähnliches gilt für Apg 6,1. Die Spannungen zwischen ,Hellenisten’ und ,Hebräern’ wurzeln in einem tiefer greifenden Dissens, der sich jedoch in ihrer Sprache manifestiert: das Griechisch der ,Hellenisten’ indiziert "their acceptance or participation in the then predominant culture", das Aramäisch der ,Hebräer’ deren Beharren auf "’traditional’, more parochial values" (135). Die theologischen Konsequenzen illustriert Apg 6-8. Christliche Autoren des 2.-4. Jh.s (Melito v. Sardes, Origenes, Johannes Chrysostomos, Euseb) bewegen sich zumeist innerhalb des von der LXX abgesteckten Rahmens (137-143). Wenig ergiebig sind die inschriftlichen Belege, nicht zuletzt wegen ihrer späten Datierung (145 f.).

Die für Jude/Juda und Hebräer charakteristische Verwendungsbreite kennzeichnet auch das Stichwort Israel. Im AT wechselt die Bezugsgröße je nach Adressaten und Absicht der Verfasser (12 Stämmeverband, Nordreich, beide Teilstaaten zusammen, das Volk im Unterschied zum Kultpersonal). Das empirische Israel ist stets ein corpus permixtum aus Frommen und Abtrünnigen und weit davon entfernt, dem in Lev 11,44 f.; 19,2 propagierten Ideal einer "pure community" zu entsprechen (172.188). Trotzdem trägt es seinen Namen zu Recht, weil es seine Existenz nicht sich selbst, sondern JHWH verdankt, der als der Schöpfer- und Vätergott auch dem ungehorsamen Israel die Treue bewahrt (166.172.187 f.). In Qumran findet eine Akzentverschiebung statt, indem Israel stärker dissoziierend gebraucht wird (195.217). Einerseits hat Gott einen Bund mit ganz Israel geschlossen (CD 16,1), andererseits sind die Mitglieder der Gemeinde die "Auserwählten Israels" (4Q161 I 1-4; 4Q165 VI 1 [206 f.]) und legitimen Nachkommen der Sinaigeneration (CD 12,22), alle übrigen gehen in die Irre (CD 5,19 f.). Doch welche Schuld diese "Frevler im Hause Israel" auch immer auf sich geladen haben, sie bleiben Israel (218). Philo stellt einen Sonderfall dar. Durch die Übersetzung "der Gott Schauende" (Abr 57; Praem 44, vgl. Conf 72) erhebt er Israel in den Rang einer zentralen Metapher im Kontext seiner philosophischen Erkenntnislehre (219.223). Aus dem geschichtlich-konkreten, politisch und religiös identifizierbaren Israel wird damit eine universale "idea about knowledge", die prinzipiell jedermann, also auch Heiden, zugänglich ist (223 f.).

Die frühchristliche Literatur weist im Blick auf Israel eine beträchtliche Spannbreite auf. Paulus sieht in ihm primär das erwählte Bundesvolk und den eigentlichen Adressaten von Gottes Heilsplan (Röm 9-11 [229]). Der limitierende Vorbehalt in Röm 9,6-8 widerspricht dem nicht, da der Apostel das christusgläubige "Israel der Verheißung" dem "fleischlichen Israel" als "sub-group" inkorporiert (11,16-24 [230 f.]). In Gal 6,16 bezieht sich Israel zwar auf (Heiden-)Christen, an eine Substitution durch die Kirche denkt Paulus aber nicht. Die Assoziationen an das biblische Gottesvolk auslösende Begriffswahl soll vielmehr deutlich machen, "that when all barriers [sc. zwischen Juden und Heiden] are down God has one people regardless of their origin" (226). In nachpaulinischer Zeit gewinnt Israel zunehmend den Charakter einer überzeitlichen Größe ("supratemporal entity" [234.256]), anhand derer Aufnahme und Ablehnung der Christusverkündigung exemplarisch demonstriert werden (237 f. 244 f.). Doch schon Lk und Joh, bei denen Israel ähnlich negativ konnotiert ist wie "Jude" (249, vgl. 245), kennen diese Alternative nicht mehr. Für den 1Clem schließlich ist Israel nur noch ein Gebilde der Vergangenheit, das mit dem zeitgenössischen Judentum nichts mehr zu tun hat (251). Den Schlußpunkt setzen der Barnabasbrief und Justin. Barnabas zufolge hat es nie einen Bund Gottes mit Israel gegeben (Barn 4,8, vgl. Dtn 9,16 f.), sondern allein mit der christlichen Gemeinde, und zwar vermittelt durch Jesus (2,6; 4,8; 14,4). Justin ist der erste, der die sich daraus ergebende Konsequenz für das christliche Selbstverständnis formuliert: die Kirche ist das "wahre Israel" (Dial.c. Tryphon 11,5; 135,3 [253 f.]). Dieser in seiner Exklusivität singuläre Anspruch begegnet im jüdischen Bereich nirgends, auch nicht in der Mischna (257-266).

Das Buch hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Seine Stärken liegen zweifellos in der Aufarbeitung des umfangreichen Textmaterials - manche Seiten muten geradezu wie eine in Sätze gefaßte Konkordanz an -, auf dem die wortfeldanalytischen Untersuchungen basieren. Wenngleich sie schon Bekanntes vielfach nur bestätigen (11.41 f., 152-160.), gelingt es dem Vf. immer wieder zu zeigen, in welch hohem Maße der literarische Kontext die auktoriale Intention erschließen hilft, das semantische Profil der gewählten Begriffe schärfer konturiert und Assoziationen freisetzt, die eine an der Etymologie orientierte Interpretation durch ihre Fixierung auf traditionsgebundene Sprachkonventionen nicht oder kaum zu erkennen vermag. Anders sieht es freilich mit der eigentlichen These aus, keine einzige jüdische Gruppierung habe sich in dem befragten Zeitraum als das "wahre Israel" verstanden. Denn sie beruht auf Voraussetzungen, die m.E. höchst problematisch sind.

Zu ihnen gehört die an keiner Stelle einer kritischen Prüfung für würdig befundene Behauptung, weite Teile der frühchristlichen Literatur und insbesondere das NT bildeten einen integralen Bestandteil der "Jewish literature of the period" (4). Nur unter dieser Prämisse kann H. etwa das Beweisziel der paulinischen Rede in Gal 2,14 ff. darin erblicken, auch die christusgläubigen Heiden seien trotz des Verzichts auf die Beschneidung und das Einhalten der Speise- und Reinheitsgebote Juden (75). Es ist daher folgerichtig, wenn H. der Wendung "Israel Gottes" in Gal 6,16 die christologisch-soteriologische Spitze abbricht (225 f.) oder den dissoziierenden Gebrauch von Israel in Röm 9,6-8 überspielt, indem er die Heilsgemeinde Israel dem empirischen Israel inkorporiert und damit die dialektische Struktur der paulinischen Aussagen in den Kap. 9-11 von vorneherein einebnet (228-232). Und ob der in Qumran zu beobachtende Partikularismus nicht doch stärker, als H. zugesteht, in der Überzeugung wurzelt, Israel schlechthin zu repräsentieren, bleibt für mich auch nach seinen Ausführungen eine nicht abschließend beantwortete Frage.

Aufs Ganze gesehen hat H. eine Studie vorgelegt, die vor allem in ihren neutestamentlichen Teilen Widerspruch provoziert. Deshalb ist es mehr als bedauerlich, daß abweichende Positionen fast nirgends zu Wort kommen, selbst dort nicht, wo es die gegenwärtige Diskussionslage erforderte. Ein gravierendes Manko, das hoffentlich nicht Schule machen wird.