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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

202–204

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Geist, Matthias

Titel/Untertitel:

Religion im Pfarrhaus. Eine empirische Untersuchung zu Biografie, Sozialisation und religiösem Selbstbewusstsein evangelischer Pfarrerskinder in Österreich am Ende des 20. Jahrhunderts.

Verlag:

Würzburg: Stephans-Buchhandlung M. Mittelstädt 2002. 323 S. m. Abb. 8 = Studien zur Theologie, 23. Kart. Euro 24,50. ISBN 3-929734-23-0.

Rezensent:

Wolfgang Marhold

Pfarrerskinder und überhaupt der Pfarrerberuf und das (deutsche) evangelische Pfarrhaus sind in der Vergangenheit oft Gegenstand von teils bewundernden, teils durchaus auch kritischen Darstellungen geworden. Denn es steht unstrittig fest, dass dieser Berufsstand mit seiner eigentümlichen Lebensweise eine große Prägekraft nach innen - eben auf die meist zahlreichen Pfarrerskinder - und mittelbar und unmittelbar auch nach außen auf viele kulturelle Bereiche entfaltet hat. Wie heute allgemein üblich, verrät erst der Untertitel des Werkes von Matthias Geist, worum es exakt in seiner Wiener theologischen Dissertation geht. G. nimmt sich also der österreichischen Pfarrhaus-Kultur "mit allen ihren Besonderheiten" (13) an, die bis auf die ausgeprägte Diasporasituation generell mit der deutschen vergleichbar ist, wie sich der Rez. - selbst Pfarrerskind - an den vielen Beispielen versichern konnte, so dass seine Ergebnisse durchaus für den gesamten deutschsprachigen Raum von Interesse sind. So stehen im Zentrum der ziemlich aufwändigen empirischen Erhebung die Lebensgeschichte, die Religiosität, besonders die religiöse Sozialisation von Pfarrerskindern, um "den Zusammenhang von konkreter Auto-Biografie und Religiosität, wie auch jenen zwischen allgemeiner Biografie und Religion" (13) aufzuhellen. Letztendlich geht es um eine religionstheoretische Untersuchung mit empirischer Unterfütterung, um einen Beitrag zur gelebten Religion der Moderne zu leisten.

Die empirische Grundlage bildet zunächst eine für Österreich durchaus repräsentative quantitative schriftliche Erhebung unter Pfarrerinnen und Pfarrern, Theologinnen und Theologen und deren Witwen mit standardisiertem Fragebogen und entsprechender statistischer Auswertung. Sie fördert hauptsächlich die Daten über die Grundgesamtheit der Pfarrerskinder, ihre Kinder- und Jugendzeit, ihre Familie und die sozialen Verhältnisse zutage (Kap. 3,1). Darauf aufbauend wurden 30 Tiefeninterviews mit Pfarrerskindern geführt, die folgende Fragehorizonte aus der subjektiven Sicht der Befragten thematisierten: "familiäres Umfeld, beruflicher Werdegang, Erlebnisse in Kindheit, Jugend (und Erwachsenenalter), Ursachen (derselben), religiöse Sozialisation, Persönlichkeit der Eltern, Erziehung durch die Eltern, Dimensionen von Religiosität, Kirchlichkeit, religiöse Brüche u. v. a. m." (76).

Die Auswertung, d. h. die Dokumentation der wörtlichen Transskriptionen zu bestimmten Themen bildet den größten Teil des Buches (Kap. 3,2), dem Vorüberlegungen zu Zielbestimmung und Methodologie (Kap. 2) vorangestellt sind. Das theoretische Fazit wird dann unter der Überschrift "Religion in der Spätmoderne" in Kap. 4 gezogen.

Die vielfältigen quantitativen Ergebnisse, die nicht immer leserfreundlich aufbereitet sind, und besonders die ausführlichen, zum großen Teil mundartlichen Zitate aus den Transkriptionen werden von G. unter verschiedenen, jedoch theoretisch stets fundierten Themenbereichen dargeboten wie z. B. die Differenzierung der Religion bzw. Religiosität in ihre dogmatische, ethische, rituelle, ästhetische und emotionale Dimension. So vermeidet er die kurzatmige Fliegenbeinzählerei z. B. dogmatischer Inhaltsabfragen, wie sie in vielen kirchensoziologischen Untersuchungen im letzten Jahrhundert üblich waren.

Er sieht die Hauptergebnisse an der Schnittstelle von Biographieforschung und religiöser Sozialisationsforschung einerseits sowie zwischen Hermeneutik und Systematischer Theologie platziert, die ihn zu folgender These leiten: "Pfarrerskinder bekommen von ihren Eltern für ihr Leben und ihre Weltsicht religiöse Deutungen geliefert, die sich aus der beruflichen Gebundenheit des Vaters (und oft auch gewissen Tätigkeiten der Mutter) begründen lassen. Je mehr von ihnen abverlangt wird, dass sie sich den Gehalten dieses Glaubens anschließen sollen, je mehr diese Gehalte einer anderen als dieser Welt entsprechen und je aufgeklärt-mündiger, pluralistischer und spät- oder post-moderner die Weltsicht und Lebensgestaltung der Menschen zu ihrer Zeit aussieht, desto mehr wenden sie sich von einer explizit religiösen Deutung, die mit der Lebenswirklichkeit und -welt nichts mehr zu tun hat, ab" (306). Salopp gesagt: Mit der herkömmlichen religiösen Sozialisation klappt es sogar im Pfarrhaus nicht mehr so richtig.

Die kirchlich vermittelte Religiosität wird häufig als verkrustet und erstarrt erlebt. Deshalb können ihre Deutungen, Angebote und Ansprüche in der Alltagswirklichkeit der Spätmoderne z. T. keine Vorteile gegenüber selbstgebastelten lebensnahen religiösen Alternativen darstellen. Kirchlich vorgeformte Religiosität wird nicht mehr in toto übernommen, sondern nur noch partiell, soweit sie sich mit der Autonomie und eigenen Lebensdeutung verträgt. Dabei scheinen die ethischen und im Ritualbereich verorteten Angebote noch am akzeptabelsten zu sein, während die dogmatische Seite des kirchlichen Lehrangebots kaum noch Chancen auf Akzeptanz hat. G. schließt daraus zu Recht, dass die kirchlich verantwortete und tradierte Theologie, sofern sie normierte und normierende Reflexionsinstanz sein will, mit ihrem objektivierenden Deutungsanspruch heutige Subjekte überfordert. Die Lebensbezüge der tradierten Religion in ihrer kirchlichen Ausprägung verlieren ihre Plausibilität mehr und mehr. Die lebensweltlich erfahrene Realität stellt die Sinnhaftigkeit spezifisch dogmatischer Deutungsmuster mit universalem Anspruch immer mehr in Frage. An ihre Stelle treten nicht-religiöse Interpretationen (Bonhoeffer), Selektionen und durchaus synkretistische Kombinationen aus dem großen Markt der religiösen und nicht-religiösen Deutungsangebote, die die Individuen in eigener Verantwortung auswählen, ohne sich dabei als irreligiös oder glaubenslos zu verstehen. Die individuelle Lebenssituation, die selbstständig-mündige Entscheidungsfähigkeit und die Fragmentarizität des Lebens machen dies in der Spätmoderne unumgänglich.

Aus diesen Erkenntnissen fordert G. für die gegenwärtige Systematische Theologie und Ekklesiologie, dass sie sich verstärkt dem Thema christlichen Deutungsanspruchs in der heutigen Zeit widmen müsse, dass sie sich "mit Fragen zeitgemäßer Chiffrierung religiöser Aussagen und Deutungskategorien menschlicher Daseinsbewältigung" (308) auseinander zu setzen und alternative Denk- und Sprachformen des Glaubens zu suchen habe. Ein Kirchenbegriff, der mit dem Anspruch regulativer Norm glaubensinhaltszentriert und metaphysisch konzipiert ist, bietet für das religiöse Individuum in spätmoderner Gesellschaft kein tragbares Fundament mehr. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.