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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

188 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kuhlemann, Frank-Michael

Titel/Untertitel:

Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860-1914.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 555 S. gr.8 = Bürgertum, 20. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-525-35685-4.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Frank-Michael Kuhlemanns Habilitationsschrift ist in Bielefeld im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs zur Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums entstanden. In der Untersuchung geht es um die bürgerliche Mentalität badischer Pfarrer von 1860 bis 1914. K. stellt diese Mentalität mit den Paradigmen "Bürgerlichkeit" und "Verbürgerlichung" im Kontext der Kulturbedeutung von Religion in der Moderne dar. Dazu werden allerhand Quellen z. B. aus Landeskirchlichen Archiven, Pfarrvereinsblättern, lokalen Zeitungen, wissenschaftlichen Publikationen oder Vereinsmitteilungen beigezogen. K. kann aufzeigen, dass die badische Pfarrerschaft dieser Jahre nicht nur theologische und dogmatische Fragen, sondern auch die Probleme der gesellschaftlichen Entwicklung als Kulturprobleme diskutierte. Dabei waren die Pfarrer sich dessen bewusst, dass der Protestantismus die Moderne prägen sollte, ohne dass christliche Grundüberzeugungen dabei verloren gehen müssten. Auf diese Weise ist die liberale- und mit Verzögerung dann auch die konservative - Fraktion der Pfarrerschaft wesentlich daran beteiligt gewesen, das Gesicht der Kirche entsprechend mitzuprägen. Entscheidend waren die Individualisierung des religiösen Lebens, das subjektive Glaubensbekenntnis und das Ideal der freien wissenschaftlichen Forschung. In diesem Sinne hatte die bürgerliche Gesellschaft mit der ihr eigenen Pluralität, Mündigkeit und Freiheit wesentliche Daten gesetzt, die theologisch rezipiert wurden.

Gleichzeitig zu dem sich ausbreitenden Atheismus war eine erneute Hinwendung zur Kirche festzustellen, die sich mit den Anliegen der konservativen Pfarrer traf: Die Kirche als religiöses und theologisches Gravitationszentrum inmitten moderner Welt, so dass es zur Besinnung auf eine Frömmigkeit und Kulturauffassung kam, die stärker ekklesiologisch geprägt war, ja der kirchlich gebundene Protestantismus konnte sogar als Garant wahrer Bürgerlichkeit verstanden werden. All diese und weitere Themen wurden unter den Pfarrern öffentlich in selbstverwalteten Publikationen, aber auch in der Tagespresse diskutiert. Sie nahmen damit am bürgerlichen Diskurs teil und gaben Einblick in kirchliche Belange, ja vielmehr nahmen sie die Bürger mit in die sich etablierende Selbstverwaltung der Kirche hinein. K. widerspricht einer weitverbreiteten Auffassung, dass sich das Bürgertum im Verlauf des 19. Jh.s entkirchlichte. Im süddeutschen Raum kann diese Ansicht auch für die zweite Hälfte des 19. Jh.s nicht aufrecht erhalten werden. Denn ihr widersprechen jene gutbürgerlichen Berufsgruppen, die sich vom Kirchengemeinderat bis zur Synode wiederfanden. Sie nahmen Einfluss auf Entscheidungen selbst dann, wenn das allerletzte Wort beim badischen Großherzog lag.

Diese Entwicklung ging damit einher, dass der Pfarrberuf an der gesellschaftlichen bürgerlichen Entwicklung der Berufsbilder teilnahm. Die Einkommen der Pfarrer lösten sich aus feudalen und ständischen Abhängigkeiten und wurden überführt in ein dem Staatsdienst angelehntes Besoldungssystem mit Gehaltsklassen und Versorgungsansprüchen. So trennte sich der Pfarrberuf von feudalen Abhängigkeiten und wurde an bildungsbürgerliche Sozialstandards angepasst. Dahinter steckte der Wunsch, dass die Söhne der Pfarrer entsprechende Ausbildungen und Studienmöglichkeiten erhalten sollten; die vormoderne typische Pfarrerdynastie näherte sich ihrem Ende. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s nahm die Selbstrekrutierung der Pfarrerschaft erheblich ab, was zugleich bedeutete, dass nun viele Männer den Pfarrberuf ergreifen konnten, die aus Familien mit anderen bürgerlichen Berufen kamen, ohne dabei soziale Abstiegssorgen haben zu müssen. Dazu mag beigetragen haben, dass die Ausbildung zum Pfarrberuf akademisiert wurde, was sogar zum universitätsnahen Predigerseminar in Heidelberg führte. So konnte sich auch die Pfarrfamilie erheblich an der Reproduktion des Bildungsbürgertums beteiligen.

Ein ganz eigenes bürgerliches Betätigungsfeld der Pfarrer lag im konfessionsnahen Vereinswesen. Dies hebt K. besonders hervor, weil die damit verbundene Bedeutung, wie Religion in der Moderne ausgeübt wird, nur wenig Beachtung gefunden hat. Denn die Pfarrer konnten sich auf diese Art ein neues Tätigkeitsfeld außerhalb der Amtskirche eröffnen, was sowohl der Kirche als auch dem bürgerlichen Gemeinwesen zugute kommen sollte. So wirkten Pfarrer oftmals in kirchennahen wissenschaftlichen, kulturellen, kirchenpolitischen oder sozialkaritativen Vereinen als Vorsitzende, Schriftführer, Vorstandsmitglieder etc. mit und bestimmten wesentlich die Richtung, in der dieses Vereinswesen tätig wurde. Darüber hinaus wirkten sie in dieser Position als Meinungsmacher und hatten erheblichen Einfluss auf Werte- und Normenbildung.

Sie nahmen auch an den allgemeinpolitischen wie kirchenpolitischen Diskursen rege teil oder forcierten sie sogar und optierten für politische Parteien. Ihnen war selbstverständlich, dass ihre christliche Existenz auch eine politische Dimension beinhaltete - sei es, dass sie eine Reich-Gottes-Theologie vertraten, sei es, dass sie dem Konzept eines christlichen Kulturstaates folgten.

Mit Hilfe dieser Beobachtungen widerspricht K. der These von Oliver Janz, der am Beispiel der westfälisch-preußischen Pfarrerschaft - die Daten sind mit den badischen vergleichbar - darlegte, dass es zu einer Verkirchlichung und damit zu einer Abschottung der Pfarrer vom Bürgertum kam. K. hält dagegen, dass eine Verkirchlichung nicht zugleich eine Entbürgerlichung bedeuten müsse. Vielmehr müsse der Modernisierungsprozess im Gesamten gesehen werden, weil sich nicht nur die Pfarrerschaft, sondern auch andere Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten aus feudalen Verhältnissen befreiten. Hinzu tritt die Beobachtung, dass die Kirche zunehmend bürgerlich geworden ist.

K. hat es verstanden, das In- und Miteinander von Pfarrerschaft, Kirche, Staat und Gesellschaft in vielen Facetten zu beleuchten, so dass einseitige Aussagen oder monokausale Erklärungen obsolet sind. Vielmehr wird ein lebendiges Ringen um ein geeignetes und rechtes Verständnis des Glaubens und der Kirche in einer sich ändernden Gesellschaft deutlich. Dass dieses Ringen entsprechende Früchte für die badische Kirchengeschichte auch nach der von K. untersuchten Zeitspanne erbracht hat, zeigt sich u. a. daran, dass sich die Kirche nach 1918 ohne landesherrliches Summepiskopat zu einer eigenständigen und vom Staat losgelösten Organisation entwickeln und weiterexistieren konnte, ohne Schaden zu nehmen.