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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

186 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Deppermann, Andreas

Titel/Untertitel:

Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XVI, 421 S. m. 1 Porträt. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 119. Lw. Euro 89,00. ISBN 3-16-147753-7.

Rezensent:

Dietrich Blaufuß

Diese Arbeit verdankt sich Hans Schneider (Marburg): Der von ihm entdeckte Schütz-Nachlass (s. versteckt S. 4 in Anm. 17), ehedem gerettet durch J. Ch. Senckenberg, von H. Dechent 1889 verwertet (gegen S. 4, Anm. 17), ist die Grundlage dieser Bochumer evangelisch-theologischen Dissertation (Ref. J. Wallmann/C. Strohm).

"Laßet unß gute correspondenz unterhalten [...]", bittet J. J. Schütz Cornelius de Hase (269) - frühe korrespondierende Pietisten sozusagen. Davon lebt diese Arbeit. Sie ist eines der nicht so sehr zahlreichen Bücher zum Pietismus, die vornehmlich auf epistolo- (und autobio)graphisches Material zurückgreifen (H.-W. Erbe 1928; H. Pleijel 1935; D. Blaufuß 1971/1977, s. ThLZ 99 [1974], 299-302). D. hat das oft spröde Quellenmaterial auszuwerten und darzustellen verstanden - unter einer vorgegebenen Leitfrage: "[...] die Anfänge des Pietismus". Damit wird der 1970 vorgelegten Arbeit "Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus" nach über 30 Jahren das Seitenstück zugesellt. Die seinerzeitige starke Gewichtung Schütz' neben Spener war nicht ohne weiteres rezipiert worden, wohl auch wegen mangelnder Quellenevidenz: Die damals tragende Quelle, Schurmann-Briefe an Schütz in der ÖB Basel, sind immer noch nicht publiziert und so nicht generell überprüfbar. D. zieht sie natürlich heran (z. B. 289), hält freilich Labadies Einfluss für "wesentlich geringer" (101). - Die beiden Arbeiten zu den "Anfänge[n] des Pietismus" sind Programm.

Die Darstellung ruht auf zwei Säulen: "Schütz und der Pietismus in Frankfurt" (56-221) und (etwas kürzer) "[...] Schütz und seine Beziehungen nach außen" (222-335 [351]). Das reißt zeitlich Zusammengehöriges auseinander, dient aber der Konzentration des ersten genannten Blocks. In der Pietismusforschung umstrittene Fragen wie z. B. die Bedeutung des Chiliasmus werden noch einmal mit einer solchen Wucht von Hinweisen auf Grund von neuem Quellenmaterial durchschritten, dass man sich fast dagegen wehren will, Spener nicht zur Randfigur werden zu lassen ("[...] ich gleichsam ein schiffmann, der das ruder verlohren [...]": So sieht sich in den 90er Jahren Spener selbst in der damaligen Lage!). Aber Abschnitt III.5, "Schütz als Verfasser erbaulicher Schriften" lässt nun doch den Abstand zu Spener, dem Theologen, krass hervortreten (ausgenommen natürlich "Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut", 170f.).

Bedeutend sind die Erhebungen zu den Außenbeziehungen Schütz' in Deutschland und bis nach Übersee (IV.2 und IV.4). Unentbehrliche Hinweise aus Briefen Schütz' führen an Sachverhalte und zu Personen(-Gruppen) und werden auf Grund weiterer Quellen durchleuchtet - ich nenne hier nur exemplarisch den Abschnitt IV.1 zu Sulzbach/Pfalz. Schütz' Biographie kommt nicht zu kurz (31-55.206-221). Ein "Werkverzeichnis Johann Jakob Schütz" ist Pflichtübung (355-367).

Ein paar kleinere Desideria sind anzumelden. Über den Dresdner Oberhofprediger Martin Geier, einen der Vorgänger Speners, ist nach der ADB duchaus einiges erschienen (s. J. Hahns Diss. zu Geier, Leipzig 1990). Sind Wotschkes oft nicht nachgewiesene Quellen aufgespürt? (Zu den zahlreichen Aufsätzen sind 1928 und 1940 zwei Verzeichnisse erschienen.) Auf eine Druckfehlerliste kann hier verzichtet werden - mit einer Ausnahme: Der bedeutende Chiliast Johann Wilhelm Petersen ist 1727 gestorben, nicht 1726, wie gelegentlich in die Forschung eingeführt wurde (108; s. TRE s. v.). Ein Wunsch an dieses auch schön gestaltete, mit einem herrlichen Porträt von Schütz versehene Buch aber bleibt offen. Ein übersichtliches Verzeichnis der erhaltenen Korrespondenz von Schütz wäre ein große Hilfe (s. nun - wohl nicht vollständig! - 85, Anm. 139; 110, Anm. 259 f.; 116, Anm. 285; 225, Anm. 15; 226; 259, Anm. 226; 265, Anm. 279; 272, Anm. 313; 280, Anm. 274; 302, Anm. 488; 310, Anm. 533; 313, Anm. 554; 342, Anm. 724).

Die Arbeit ist ein großer Schritt nach vorn. Sie stellt nicht wenige Fragen und Gestalten (wieder) auf die Tagesordnung der Pietismusfoschung. Endlich ist der "Vorgeschichte des Pietismus in Frankfurt" gebührende Aufmerksamkeit zuteil geworden (7- 30; vgl. Ruth Elsner v. Gronows Diss. Marburg 1935, 32-35). Christian Hoburg wird wieder eine Figur der Pietismusforschung (als die er vielleicht wegen gewisser Überinterpretationen durch Martin Schmidt etwas vorschnell verabschiedet worden war). Das Reformiertentum wird als tragendes Element des frühen Pietismus markiert (Voetius hrsg. durch Schütz! 97.361 Nr. 7): Hier ist Versäulung durch Vernetzung abgelöst (z. B. 142). Die Fülle der kleinen und größeren neuen Einblicke in Zusammenhänge, Verfasserschaften, biographische Sachverhalte, Verlagsaktivitäten etc. ist groß. Zum Glück gegen Schütz' Praxis der Vernichtung seiner Briefe ist doch viel erhalten geblieben.

"Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus" - wer ist nun Schütz? "[...] gewissermaßen der Mitbegründer des lutherischen Pietismus" und "Urheber" des radikalen Frankfurter Pietismus (Hans Schneider)? Oder einer der beiden "Urheber des lutherischen Pietismus", der "Anführer dieses radikalen Flügels und Urheber der ersten pietistischen Separation im Luthertum", der aber auch die "Hauptrolle" im Collegium pietatis spiele (J. Wallmann)? Deutet D.s leichte Kritik an der "ungleichgewichtige[n] Behandlung von Spener und Schütz [...]" seine (D.s) eigene Sicht der Gleichgewichtigkeit beider an (alles 3)? Johanna Eleonore von Merlau sehe "ganz selbstverständlich" in J. J. Schütz den "Urheber und Motor [...] der in Frankfurt gerühmten Erneuerung" (112). D. selbst redet vom "zweiten Begründer des Pietismus" (142), im abschließenden Rückblick "mit gutem Grund [vom] [...] Urheber und Mitbegründer des Pietismus". "Die führende Stellung von Schütz sei bei den Frankfurter Pietisten - nicht nur bei den Radikalen - über lange Jahre völlig unangefochten" gewesen (352). Nur daneben habe seine Bedeutung als "Urheber der ersten pietistischen Separation im Luthertum" ihr Recht (354). Solche Gleichstellung von Schütz, gar Vorrangstellung vor Spener - Martin Friedrich warnte im Jahr 2000 vor einer Überschätzung von Schütz - wird man künftig für "die Anfänge des Pietismus"- auf Grund von D.s Buch intensiv prüfen und seriös diskutieren können. Das ist das hohe Verdienst dieser Arbeit.

Das Urteil Martin Brechts über Spener/Schütz indessen ist gefällt im Blick auf den ganzen Spener (dazu mit Blick auf den Pietismus als Gesamterscheinung; Gesch. des Pietismus 1. 1993, 297), und hier dürfte es Bestand haben - ohne D.s Arbeit Abbruch zu tun! -: "[...] An das Format und die Ausstrahlung Speners (kam) [J. J. Schütz] nicht heran".