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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

178–180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

An Diognet. Übers. u. erklärt v. H. E. Lona

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2001. 378 S. gr.8 = Kommentar zu frühchristlichen Apologeten, 8. Geb. Euro 105,00. ISBN 3-451-27679-8.

Rezensent:

Winrich Löhr

Als erster Band aus der neubegründeten Reihe Kommentar zu frühchristlichen Apologeten (Herder Verlag) erscheint nun die Übersetzung und Erklärung der Schrift An Diognet aus der Feder eines der Herausgeber der Reihe, Horacio Lona. Lona bestimmt die Schrift An Diognet nach ihrer literarischen Gattung als logos protreptikos, d. h. als literarische Werbung für eine bestimmte Philosophie oder Lebensweise. In plausibler Reklassifizierung wandelt sich An Diognet somit von einem Apostolischen Vater (vgl. z. B. die Ausgabe der Apostolischen Väter von Lindemann/Paulsen) zu einem frühchristlichen Apologeten (I. C. Th. Otto hatte die Schrift im 19. Jh. in seinem Corpus Apologetarum abgedruckt). Der neuen Kommentarreihe möchte man ein gutes Gelingen wünschen und hoffen, dass die projektierten Kommentare zur eigenständigen Lektüre frühchristlicher Apologeten anleiten und motivieren mögen.

Die Schrift An Diognet gibt seit jeher einige ungelöste Rätsel auf: Die einzige Handschrift, der Codex Argentoranensis gr.9, die nebst einigen pseudojustinischen Schriften sowie zwei Werken des Athenagoras An Diognet enthielt, verbrannte am 24.8.1870 beim Beschuss Straßburgs in der Stadtbibliothek. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Handschrift schon ein bemerkenswertes, von Lona sorgfältig nachgezeichnetes Itinerar hinter sich (11-17), das seinen rekonstruierbaren Ursprung ca. 1436 in Konstantinopel nahm, die Bibliothek des Humanisten Reuchlin einschloss und 1592 zu einer vermutlich in Paris erschienenen Erstedition durch den berühmten Verleger Henri (II) Estienne führte. Estienne hatte 1586 eine eigene Abschrift anfertigen lassen, die noch heute in der Universitätsbibliothek Leiden bewahrt wird. Eine zweite, heute verlorene Abschrift wurde zwischen 1587 und 1591 von dem Freiburger Gräzisten J. J. Beurer angefertigt. Die früheste Abschrift (vermutlich des Codex Argentoranensis) findet sich aber in der Universitätsbibliothek Tübingen - sie stammt aus dem Jahre 1580 und wir verdanken sie einem Schüler des Tübinger Humanisten Martin Crusius, Bernhard Haus (die Angabe zu den Abschriften in der einschlägigen Ausgabe der Apostolischen Väter von Lindemann-Paulsen, 304, ist demnach zu korrigieren).

Von der Schrift An Diognet gibt es in der gesamten patristischen Literatur keine Spur - wir kennen weder ihren Verfasser noch ihren Adressaten noch ihr Datum. Man könnte zugespitzt sagen: An Diognet steht abseits der theologischen Diskurse der christlichen Antike. Andererseits enthält sie Passagen, die in der Prägnanz ihrer Formulierung immer wieder und auf verschiedene Weise dazu verführen können, das eigene christliche Selbstverständnis in diesem antiken Text wiederzuentdecken: Erinnert sei an die Beschreibung der paradoxos katastasis tês politeias der Christen (Kap. 5-6), welche gerade protestantischen Lesern als gültige Formulierung innerweltlicher Askese bzw. engagierter Weltdistanz erscheinen könnte, oder auch an den der Soteriologie gewidmeten Abschnitt (Kap. 9), der mit seiner Beschreibung des süßen Tausches Formulierungen Luthers evozieren könnte. Ein ausgeprägt offenbarungstheologischer Christozentrismus (der Name Christus fällt allerdings nicht), der auf natürliche Theologie und alttestamentliche praeparatio evangelica verzichtet, könnte ebenfalls moderner Theologie als attraktiv erscheinen.

Die Faszination der Schrift An Diognet verbunden mit ihrer historischen Kontextlosigkeit reizte natürlich zur Spekulation, und Lona hat sich dankenswerterweise die Mühe gemacht, die im Laufe der Jahre gelehrter Forschung gemachten Vorschläge in Bezug auf Verfasser und Datierung aufzulisten (64-66): Justin der Märtyrer, Markion, Valentin, Lukian von Antiochien sind nur einige der in der Diskussion lancierten Verfassernamen; die Datierungsvorschläge reichen von Le Nain Tillemonts Ansatz auf 70 n. Chr. als terminus ante quem bis zu F. C. Overbecks Vermutung, die Schrift sei eine in die nachkonstantinische Zeit zu datierende Fälschung - angesichts dieser Forschungsgeschichte möchte man vanitas vanitatum murmeln. Lona selbst betont die literarische Nähe und Verwandtschaft von An Diognet besonders zum Protreptikos des Clemens von Alexandrien und kommt zu dem Schluss, dass der Brief in den Kontext des christlichen Schulbetriebs in Alexandrien zur Zeit des Clemens gehört. Offenbar meint Lona, dass der Verfasser der Schrift Mitglied der Schule von Alexandrien war. Die Schrift sei dann in Vergessenheit geraten, weil sie in der Konkurrenz mit dem gleichzeitig entstandenen uvre des Clemens von Alexandrien unterlag. Eine Entstehungszeit nach 202/3 n. Chr. in Alexandrien kann sich Lona schwer vorstellen, da - so lautet anscheinend das elliptisch formulierte Argument - der zunehmende Einfluss des Origenes auf die Schule in Alexandrien sich in der Schrift nicht niederschlägt (69). Freilich ist dies eine - angesichts der Quellenlage - entschuldbare Hypothese faute de mieux, die das argumentum e silentio wohl doch etwas überstrapaziert.

Die Übersetzung und Kommentierung von Lona verbindet eindringliche, gerade auch die sprachlichen und rhetorischen Aspekte des Textes beachtende Analyse mit präziser Deutung der Details und einer gründlich die Alternativen darlegenden Besprechung der Rätsel und Probleme der Schrift An Diognet. So votiert Lona z. B. mit kumulativer Argumentation für die Einheit der Schrift (also gegen eine Abtrennung der Kap. 11-12).

Nicht überall kann man Lona zustimmen: So widmet er der aggressiven antijüdischen Polemik in Diog 3-4 einen instruktiven Exkurs (141-150), der das eigentümliche Profil der Argumentation der Schrift An Diognet, die pagane Argumentationen gegen das Judentum adaptiert, treffend herausarbeitet. Wenn aber Lona am Ende dieses Exkurses versuchsweise den Vorschlag macht, die antijüdische Polemik in An Diognet sei durch eine ebenso scharfe antichristliche Kritik von jüdischer Seite motiviert, so erscheint mir diese Behauptung alles andere als überzeugend. Der von Lona angestrengte Verweis auf den antichristlich argumentierenden Juden im Alêthês Logos des Platonikers Kelsos trägt nicht viel aus, da auch Lona nicht behauptet, dass die Polemik in An Diognet geeignet ist, dessen Kritik zu entkräften. Overbeck hatte seinerzeit gerade die Aggressivität der antijüdischen Polemik in der Schrift An Diognet als Indiz dafür genommen, dass die Schrift zu einer Zeit verfasst wurde, als es längst keine lebendige Kontroverse mehr zwischen Juden und Christen gab. Antijüdische christliche Polemik ist nicht notwendigerweise Antwort auf vorausgegangene antichristliche jüdische Polemik (F. C. Overbeck, Über den pseudojustinischen Brief an Diognet, in: E. W. Stegemann/R. Brändle: Franz Overbeck. Werke und Nachlaß. Band 2: Schriften bis 1880, 69-71).

Eine ergänzende Bemerkung zu Diog 8,8: Im Kontext dieses Verses geht es um die exklusive Offenbarung Gottes in seinem Sohn. Gott wird als reine Güte beschrieben: "Ja er war doch immer so, und ist und wird sein; mild und gütig und zornfrei und wahrhaftig, und nur er ist gut" (Übersetzung Lona, 234). Die letzte Phrase evoziert natürlich Mk 10,18 (245); sie erinnert aber auch an das bei Clemens von Alexandrien, Str. II,114,3 überlieferte Fragment aus einem Brief des christlichen Lehrers Valentin. Auch im Valentinfragment folgt auf die Betonung der exklusiven Güte Gottes der Hinweis auf die Offenbarung dieses Gottes durch seinen Sohn; es schließen sich Reflexionen darüber an, wie allein durch die Fürsorge des exklusiv guten Vaters das menschliche Herz von den bösen Geistern befreit werden kann. Diog 9,1 beschreibt die Menschen vor der Offenbarung der Güte Gottes als durch ungeordnete Leidenschaften und Begierden bestimmt (auf die Parallelität hatten bereits S. Pétrement, RHPhR 46 [1966], 55 sowie Ch. Markschies, Valentinus gnosticus [WUNT 65], Tübingen 1992, 64 hingewiesen). Das in An Diognet verwendete heilsgeschichtliche Offenbarungsschema (vgl. dazu den Exkurs, 279-282) wird im Valentinfragment seelsorgerlich appliziert. Denkbar ist auch, dass der Valentinbrief - wie die Schrift An Diognet - ein logos protreptikos war.

Eine letzte Bemerkung: Der schöne Kommentarband ist mit gut 350 Textseiten recht umfangreich geraten - was Liebhaber der Schrift An Diognet erfreuen wird. Dennoch möchte man wünschen, dass die Bearbeiter der weiteren Bände Mittel und Wege finden, sich knapper zu fassen, um nicht die breitere Rezeption des eigenen wissenschaftlichen Fleißes zu behindern.