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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

175–177

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schunack, Gerd

Titel/Untertitel:

Der Hebräerbrief.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2002. 247 S. gr.8 = Zürcher Bibelkommentare. NT, 14. Kart. Euro 30,00. ISBN 3-290-14747-9.

Rezensent:

Martin Karrer

Die Kommentierung des Hebr gehört zu den reizvollsten, freilich auch besonders schwierigen Aufgaben der neutestamentlichen Forschung. Denn der Hebr steht Paulus, den johanneischen Schriften und - wie der Marburger Emeritus Sch. ergänzt- dem Mk an theologischer Dichte nicht nach, bietet jedoch schwer zu erschließende und noch schwerer in die heutige Zeit zu vermittelnde Eigentümlichkeiten (9 f.):

Er entsteht laut Sch. zwischen 80 und 90, also zur Zeit des Deuteropaulinismus, und der Autor kennt Timotheus, einen bedeutenden Mitarbeiter des Paulus, persönlich (13,23; von Sch. 239 "auf reale, aktuelle Verhältnisse" gedeutet). Doch jenseits von 13,22-25, einem kleinen Begleitschreiben (12.238 f.), das er seinem "homiletische[n] Traktat" der Kap. 1,1-13,21 (13; vgl. 232) zur Erleichterung der Verbreitung beigab, verrät er (nach Sch.) keinerlei Interesse für paulinischen Stil und paulinische Überlieferung (10), und das, obwohl der Verfasser des Hebr (vielleicht von Alexandria aus) nach Rom schreibt und dieser Gemeinde (der Gemeinde des Röm) persönlich verbunden zu sein scheint (was Sch. 11 vor allem aus 13,24b und der von ihm angenommenen Rezeption des Hebr in 1Clem 36 schließt).

Sch. lädt sich mit dieser Entscheidung der Einleitungsfragen ein schwieriges Problem auf. Die Datierung entspricht der Mehrheit der Forschung (und auch der Rez. kann sich den derzeit vordringenden Frühdatierungen vor 70 nicht anschließen). Aber die weiteren Entscheidungen werden umstritten bleiben: Da Sch. in der Einzelexegese von 10,32-34 (156 f.), 12,4 (196f.) u. ö. keine eindeutigen Bezüge zu Rom findet, das Verhältnis zum 1Clem in der knappen Kommentierung von Kap. 1-2 (21-43) zurückstellt, man schließlich 13,22-25 literarkritisch und das Verhältnis zum Paulinismus theologisch anders sehen kann (vgl. Backhaus BZ NF 37 [1993], 183-208), fehlt der reizvollen These die Verifizierung.

Der Aufbau des Hebr entfaltet nach Sch. "kommunikative Dynamik" (13). Der Text schreitet in drei Hauptteilen 1,1-4,13 ("Gottes endgültiges Reden im Sohn", 21-59), 4,14-10,18 ("Der christologische Grund der Paraklese", 60-143) und 10,19-13,21.25 ("Die christologisch begründete Paraklese", 144-231.240) fort (eine Variante des dreigliedrigen Schemas nach Nauck). Rhetorik spielt eine beträchtliche Rolle (13). Sch. bestimmt sie von Abschnitt zu Abschnitt, wobei er die Analysen unterschiedlich dicht hält (s. z. B. 21 zu 1,1-4 oder 222 zur peroratio 13,7-17) und terminologisch auch durchbricht (5,11- 6,20 gilt ihm als "metakommunikatives Zwischenstück", eine für antike Leser beschwerliche Bestimmung, 74).

Die Intention des Hebr ist "lebenspraktisch". Um Adressaten aus einer "Situation der Anfechtung und Ermüdung" "ins rechte Verhältnis zu ihrem Christsein" zu setzen (16, teils hervorg.), konzentriert er sich auf eine "parakletische Christologie, Christologie als Lebenshilfe" (16, teils hervorg. und unter Berufung auf W. Marxsen; der Ausdruck "Paraklese" bleibt bis 238 [zu 13,22] leicht unbestimmt).

In der Entfaltung sucht der Hebr Kontinuitäten zur Überlieferung, ohne feste Traditionen zu zitieren (Sch. entscheidet sich 13.16.22 etc. wie die Mehrheit der gegenwärtigen Forschung gegen Traditionsstücke in 1,1-4 etc.; gelegentlich entstehen fließende Übergänge, so 235 zu 13,20 f.). Zugleich wagt er neue Interpretationen:

"Gesandter" und "Hohepriester" (2,17; 3,1) aktualisieren das der Gemeinde vertraute Bekenntnis zum "Sohn", das sich auf die intime, leidensferne Nähe zum Vater konzentrierte und ohne Fortschreibung nicht zureichte, um die aktuelle Paraklese zu begründen (S. 17.73 stützen das kühn durch das "obgleich Sohn" in 5,8). Zum Proprium des Hebr wird darauf das Hohepriestertum Jesu "nach der Weise Melchisedeks" (angeregt durch Ps 110; Zitat 67 zu 5,6). Es fasst Jesu Geschichtlichkeit (Erniedrigung) und Erhöhung, Aktivität und Leiden in eins (gegen Thesen, die erst den Erhöhten als Hohepriester sehen). In der Paradoxie eines "hohepriesterliche[n] Opfer[s] seiner selbst" wird Jesus Ende aller Opfer und Kontrast aller zerstörerischen Gewalt (18 u. ö.). Er hebt "die Sünde schlechthin, deren Macht im Widerspruch des Unglaubens gegen Gott besteht", auf (133 zu 9,26) und eröffnet den lebendigen Zugang zu Gott (145 ff. zu 10,19 f.; S. 147 deutet die umstrittene Stelle 10,20 in einem "Übergang von kultmetaphorischer zu existenzieller Sprache" fernab zu Gnosis). Trotz seiner kultischen Sprache sprengt der Hebr also die kultische Kategorie der Opfer und hebt sie auf (eine angesichts der kultischen Formulierungen des Hebr kühne These).

Dem theologischen Gefälle korrespondiert ein "vor-läufige[r] Glaubensvollzug" (20, teils hervorg.). Der Glaube orientiert sich strikt an "Gott im Wort seiner Verheißung" (191). Das macht ihn zum "eschatologische[n] Vollzug, der erst vollbracht ist, wenn das geschichtliche Dasein abgeschlossen ist". Obwohl er "im Aufschauen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens", wahrgenommen wird, wird er auf diese Weise nie Glaube "an Jesus Christus". Deshalb bedarf dieser Schwerpunkt des Hebr hermeneutisch der johanneisch-paulinischen Relativierung durch den Glauben an Jesus (20.164 ff.191 f. zu 11,1; 12,2, Zitate 192, dort teils hervorg.).

Insgesamt entsteht ein eindrückliches, in sich stimmiges Bild des Hebr als eigenwilligem Zeugen eines hellenistisch-eschatologischen Urchristentums mit einem paradoxen, den Kult zu Gunsten eines existentiellen Geschehens zerbrechenden Interesse an Kult und Transzendenz. Der knappe Raum des Kommentars verbietet Sch. allerdings manche Präzisierung (etwa bei dem von ihm sehr geliebten Ausdruck "existenziell"). Einfache und hochkomplexe Sprache vermengen sich (z. B. 81 f. bei der viel diskutierten Passage 6,4-6). Auseinandersetzungen mit Quellen und Literatur sind selten möglich, und die Liste wichtiger Literatur fällt äußerst knapp aus (241; nicht einmal die Kommentare Hegermanns oder März' und die Monographie Backhaus' zum Bund werden erwähnt).

Doch soll das Sch.s Verdienst nicht schmälern. Er hat die Reihe der Zürcher Bibelkommentare um einen lesenswerten Band mit eigenem Profil bereichert.