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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

173–175

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schimanowski, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes. Die frühjüdischen Traditionen in Offenbarung 4-5 unter Einschluß der Hekhalotliteratur.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XII, 367 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 154. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-147777-4.

Rezensent:

Otto Böcher

Nur selten werden heute noch Dokumente entdeckt, die ein neues Licht auf Schriften des Neuen Testaments und auf Probleme ihrer Exegese werfen. Die Funde des Thomas-Evangeliums (1945/46) und der Texte von Qumran (1947 ff.) waren solche Glücksfälle.

Dass für die Johannes-Apokalypse der religions- und traditionsgeschichtliche Hintergrund im antiken Judentum gesucht werden muss, war nicht immer akzeptiert, ist jedoch heute ebenso unbestritten wie die Erkenntnis, dass die Grenze zwischen "apokalyptischem" und "rabbinischem" Judentum längst nicht so scharf gezogen werden kann, wie es die ältere Forschung annehmen zu müssen glaubte. Mit Apk 4 f. eng verwandt sind die Texte der jüdischen Hekhalot-Literatur, die im Anschluss an Jes 6,1-4; Ez 1,4-28; 10,1-22 und im Rahmen des rabbinischen Judentums mystische Visionen über den Thron Gottes und seinen himmlischen Hofstaat entfalten. Erst vor etwa vier Jahrzehnten wurde die Zusammengehörigkeit dieser Texte (und ihre Beziehung zur sog. Henoch-Literatur) erkannt, und erst seit der Hekhalot-Synopse Peter Schäfers (1981) sowie seiner Ausgabe einer vollständigen Übersetzung (4 Bde., 1987-1995) steht die Hekhalot-Literatur, deren Anfänge bis in die palästinische Antike zurückreichen dürften, deren jüngste Ausformungen jedoch dem europäischen Mittelalter entstammen, der Forschung uneingeschränkt zur Verfügung.

Die hier vorzustellende Monographie Gottfried Schimanowskis, angeregt und begleitet durch Martin Hengel, Jörg Frey und Hermann Lichtenberger, bietet zum ersten Mal eine detaillierte Exegese von Apk 4 f. unter Berücksichtigung der Hekhalot-Literatur. Nach einem kurzen Vorwort (VII f.) enthält das Buch zunächst eine Einleitung (1-3), einen forschungsgeschichtlichen Überblick (4-29) und eine Darstellung der eigenen Vorgehensweise (30-36). Ausführlich behandelt Sch. die Verknüpfung von Apk 4 f. mit der gesamten Johannes-Offenbarung (37-42). Auf den Seiten 43-61 findet sich eine Übersetzung von Apk 4 f. mit "Anmerkungen zum griechischen Text und zum Stil der Johannesoffenbarung".

Den Kern des Buches bildet die sorgfältige und detaillierte Exegese der Kapitel 4 und 5 der Johannes-Apokalypse (62-268). Die zahlreichen Einzelergebnisse können hier aus Platzgründen nicht referiert werden. Eigens hervorgehoben seien immerhin die acht vorzüglichen Exkurse: "Der Gottesthron in der Johannesoffenbarung und sein religionsgeschichtlicher Hintergrund", "Zur Geschichte der Qeduscha", "Zur Proskynese", "Zu den drei Gottesprädikationen", "Zur Traditionsgeschichte des biblion in apokalyptischen Texten", "Der Hintergrund der beiden messianischen Titel (Offb 5,5)", "Zum Siegesmotiv", "Zu Herkunft und Hintergrund der axios-Prädikation".

Das letzte Kapitel resümiert "Ergebnisse und offene Fragen" (269-289). Hier stellt Sch. "Die Schlüsselfunktion von Offb 4-5 für das ganze Werk" und das Verhältnis zwischen "Theologie und Christologie" heraus. Ein Schlussabschnitt nennt noch einmal "die für die zentrale Thronvision Offb 4-5 entscheidenden hymnischen Stichworte", "Ruhm, Ehre, Herrlichkeit und Kraft", und ihre Bedeutung für die Liturgie des himmlischen Gottesdienstes, an dem der Seher teilnimmt (288 f.). Ein Anhang bietet den griechischen Text von Apk 4 f. in einer drucktechnisch veranschaulichten Feingliederung (291-294). Literaturverzeichnis (295- 338), Stellenregister (339-359) und ein Register der Namen und Sachen (360-367) beschließen den Band.

Der besondere Wert der Untersuchung beruht auf der konsequenten Einbeziehung der Hekhalot-Texte. Auch wenn diese in ihrer heutigen Gestalt durchweg jünger sind als die Apokalypse des Johannes (vgl. 25 mit Anm. 122 f. und 270 mit Anm. 5-7), reichen die verarbeiteten Traditionen weit zurück und erweisen die altjüdischen Wurzeln der Johannes-Offenbarung auch im Bereich visionärer Mystik.

Durch behutsamen Vergleich der Details von Apk 4 f. mit den frappierend ähnlichen Aussagen der Hekhalot-Literatur (Gottes Thron, vier Lebewesen, Qeduscha bzw. Trishagion, Doxologie bzw. Akklamation, Gesang und Gebet u. a.) und unter Einbeziehung weiterer altjüdischer Texte gelingt Sch. eine sehr viel prägnantere Erfassung des jüdischen bzw. judenchristlichen Profils der Johannes-Apokalypse.

Den einzelnen Ergebnissen Sch.s, die hier nicht in extenso referiert werden können, ist beizupflichten. Apk 4 f. nimmt in der Tat eine Schlüsselstellung innerhalb der Offenbarung des Johannes ein (270-274 u. ö.); die Komposition schlägt den Bogen von der Gegenwart Gottes im himmlischen Thronsaal (Apk 4 f.) zu seiner Präsenz im himmlischen Jerusalem (Apk 21f.; 2 f. u. ö.). Der himmlische Gottesdienst mit seinen fünf Hymnen der Thronszene verbindet Himmel und Erde wie später die Vision von der Herabkunft des neuen Jerusalem (Apk 21,1 f.) und die Bitte um das Kommen des Herrn (Apk 22, 20; 274); die irdische Gemeinde kann durch die mitgeteilten Hymnen der Vision einstimmen in die Chöre der Engel (ebd.).

Die himmlische Liturgie preist Gott als den Schöpfer und Herrn der Welt; damit bezieht der Apokalyptiker Stellung ge- gen den Herrschaftsanspruch Roms (270 f.). Die doxologischen Aussagen von Apk 4 f. benutzen, wie jetzt aus den Hekhalot-Texten deutlich wird, "traditionelle Formelemente der irdischen gottesdienstlichen Liturgie aus dem synagogalen Bereich bzw. dem Tempelgottesdienst" (281). Wie die jüdische Mystik, so ist auch der Apokalyptiker davon überzeugt, dass der irdische Gottesdienst mit seinem Lob des Schöpfers bis in den Himmel vordringt (282). Dadurch wird die Gegenwart des Schöpfers antizipierend realisiert (287 f.).

Von der jüdischen Vorstellungswelt unterscheidet sich die Johannes-Offenbarung nicht nur durch die Erweiterung der "Theologie" um die "Christologie" (275-288), sondern auch durch ein anderes Verhältnis zur Geschichte. Die Hymnen der Hekhalot-Texte sind "geschichtsfern"; die Christen, an die sich der Apokalyptiker wendet, verstehen - "vor jüdischem Hintergrund" - die Weltgeschichte in ihrer Realität als "Ort und Raum des Kommens Gottes in der Gestalt des Gekreuzigten und im ... Sichtbarwerden des verheißenen Reiches Gottes" (289).

Sch. hat eine Monographie vorgelegt, die vor allem für die Exegese von Apk 4 f. unsere Kenntnisse entscheidend erweitert; darüber hinaus gewinnt die Struktur der Johannes-Offenbarung im Ganzen an Plausibilität. Gerade im Vergleich mit den Himmelsvisionen der jüdischen Mystik wird evident, dass es dem letzten Buch des neutestamentlichen Kanons nicht nur um die Zukunft geht, sondern auch um die Gegenwart: um die Verbindung von Himmel und Erde im Gotteslob der Liturgie (mit Apk 21,3 vgl. 1Clem 34,6-8; 287 f.).