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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

172 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ritter, Werner H. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erlösung ohne Opfer?

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. 248 S. m. 2 Abb. 8 = Biblisch-theologische Schwerpunkte, 22. Kart. Euro 19,90. ISBN 3-525-61481-0.

Rezensent:

Michael Heymel

Die christliche Rede vom Opfer ist nicht erst neuerdings einer aufgeklärt-liberalen außer- und innerkirchlichen Kritik ausgesetzt. Speziell die Vorstellung vom stellvertretenden (Sühn-)Opfer Jesu Christi bereitet vielen Menschen Schwierigkeiten. Wie kann Gott lieben und gleichzeitig den eigenen Sohn hinschlachten lassen? - so wurde und wird immer wieder gegen die Botschaft von Karfreitag und die Abendmahlsworte argumentiert.

Theologen aller Disziplinen haben in dem vorliegenden Band versucht, der "Sprachnot" und dem "Deutungsnotstand" (so Ritter, 10) des christlichen Glaubens in dieser Sache abzuhelfen. Sie wollen zum einen die biblische und theologische Herkunft und Bedeutung der Vorstellung klären, Jesus sei "für uns gestorben", zum anderen diesen Glaubenstopos mit der heutigen Lebenswelt ins Gespräch bringen. Ihre Absicht ist, "die Wirklichkeitssicht des christlichen Glaubens [zu] erschließen" und zugleich "die oft verborgenen religiösen Anteile heutigen Alltags und heutiger Alltagskultur [zu] entdecken" (12), um so zu einer theologisch verantworteten, auf die moderne Lebenswirklichkeit bezogenen Rede vom Opfer zu gelangen. Dieses methodische Verfahren bietet sich auf Grund zweier Beobachtungen an, die (scheinbar) einander widersprechen: Einerseits erscheint das traditionelle christliche Verständnis von Erlösung durch den Opfertod Jesu als nicht mehr zeitgemäß, andererseits weist vieles darauf hin, dass Opfer und Erlösungssehnsüchte durchaus in Lebenswelt und Kultur heutiger Menschen in transformierten Gestalten da sind.

Reinhard Feldmeier setzt sich mit Deutungen der Passion Jesu im Neuen Testament auseinander, besonders im Markusevangelium und bei Paulus. Am Bild des Lebensbaumkruzifixes verdeutlicht er die Sicht des Glaubens, der zufolge Gottes Sohn am Kreuz "sein Leben als Hingabe und Dienst für andere vollendet hat" (54). Gott habe dies bestätigt, "indem er gerade dort gegenwärtig ist und an seiner Lebensfülle Anteil gibt" (ebd.). Gisela Kittel fragt auf dem Hintergrund der Realität der Sünde, wie sie im Alten Testament als interaktiver, den Einzelnen und die Gemeinschaft betreffender Unheilszusammenhang dargestellt wird, nach Erlösung im Alten Testament. In Exegesen verschiedener Geschichten behandelt sie u. a. das stellvertretende Leiden des Gottesknechts (Jes 53), das kultische Sühnopfer und die Vorstellung des Lösegelds für verwirktes Leben. Kittel zeigt, wie die neutestamentlichen Zeugen vielfach auf "die Sprache und Denkvoraussetzungen" (80) des Alten Testaments zurückgreifen, um das Leiden und Sterben Jesu als für uns geschehen zu deuten. Wolfgang Schoberth formuliert 20 Thesen zum Kreuzestod Jesu, in denen er sich mit der Frage beschäftigt, ob Jesu Tod heute noch sachgemäß als Opfer bzw. Sühnopfer bezeichnet werden kann. Er betont: "Das christliche Bekenntnis steht und fällt an der Frage, ob der von Menschen bewirkte Kreuzestod Jesu doch Für uns geschehen ist ..." (These 11), und macht einsichtig, dass "alle christologischen Begriffe und Metaphern ... auf die Geschichte Jesu Christi bezogen" (These 15) zu verstehen sind. Alexander Deeg erklärt im Rückbezug auf rabbinische Diskussionen nach 70. n. Chr., welche Bedeutung das Opfer im Judentum hat. Er kennzeichnet es als Nahung (Buber/Rosenzweig) und erläutert die rabbinische Verknüpfung des Opfers mit Vollzügen des Gebets, des Lernens der Tora und des Tuns der Mizwot. Deeg sieht hierin jüdische Anregungen zu einer christlichen "Spiritualität des Opfers" (141 ff.).

Michael N. Ebertz beschreibt das Verlangen nach "Erlösung im Diesseits" in der Spannung von "Selbsterlösung und Fremderlösung" (146), indem er anhand von beiden Kategorien Phänomene der modernen Lebenswelt (z. B. Todesanzeigen, Heftromane) analysiert. An vier Beispielen zeigt Almuth Hammer, welche Rolle das Motiv "Dein Leben ist mir das meine wert" in der Fantasy-Kultur spielt. Sehr oft haben deren mythische Erzählungen eine Erlösung vom Bösen zum Thema, die unausweichlich eines Opfers bedarf. Werner H. Ritter weist anhand von popular-kulturellen Beispielen aus Kino (Titanic) und Literatur (Harry Potter) sowie von Einsichten der kultur-anthropologischen Mythosforschung nach, dass der Opfermythos in der postmodernen Gesellschaft keineswegs überholt ist. Vielmehr sei er als humane Ausdrucksweise unentbehrlich, um die ganze Existenz Jesu Christi (nicht nur sein Sterben!) als Lebens-Hingabe uns zugute (241 ff.) zu deuten.

Die Beiträge geben hilfreiche Anregungen für Predigt und Unterricht, wie heute Jesu Tod am Kreuz und seine Bedeutung für uns in einer lebensbezogenen Weise veranschaulicht und ins Gespräch gebracht werden können. Besonders erhellend sind hierfür die jüdisch-christlichen Anstöße zur Spiritualität des Opfers und die Analysen der in Popularkultur und Lebenswelt begegnenden Erlösungs- und Opfermythen.