Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

170–172

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gnilka, Joachim

Titel/Untertitel:

Petrus und Rom. Das Petrusbild in den ersten zwei Jahrhunderten.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2002. 286 S. gr.8. Geb. Euro 24,90. ISBN 3-451-27492-2.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Das Interesse an Petrus hat in den zurückliegenden Jahren einen beachtlichen Aufschwung genommen. Allein die Zahl der monographischen Untersuchungen ist derart angewachsen (vgl. die materialreiche Übersicht von L. Doering, BThZ 19 [2002], 203-223), dass man fast von einem boom sprechen kann. Mindestens zwei Gründe lassen sich dafür erkennen. Zum einen haben neuere methodische Entwicklungen die Entstehung prosopographischer Arbeiten gefördert. Zum anderen hat die De- batte um einen gesamtkirchlichen Petrusdienst seit den viel beachteten Äußerungen der Ökumenismus-Enzyklika Johannes Pauls II. von 1995 gerade die neutestamentliche Petrusgestalt wieder aus der Ecke exegetischer Spezialuntersuchungen in das Blickfeld einer breiteren kirchlichen Öffentlichkeit geholt.

In diesen Zusammenhang fügt sich auch das jüngste Petrus-Buch von J. Gnilka ein. Es folgt jedoch noch einer weiteren, eher persönlichen Motivation: Nach den beiden Monographien über Jesus (1990, 62000) und Paulus (1994, 1997) fasst der Autor nun auch mit dem Band über Petrus den Ertrag seiner langjährigen exegetischen Arbeit zusammen und bringt somit eine Art Trilogie zum Abschluss. Zwei Anliegen werden dabei einleitend namhaft gemacht: "Das erste richtet sich darauf, Leben, Wirken und Martyrium des Petrus zu beschreiben, das zweite seine Stellung in der Urgemeinde und die Frage nach dem Fortwirken seines Dienstes in möglichen Nachfolgern" (16). So ist auch der ökumenische Diskurs um den päpstlichen Primat durchgängig präsent, ohne jedoch bestimmend in den Vordergrund zu treten.

Der Aufbau des Buches folgt einem chronologischen Schema, das den Bogen bis ins 2. Jh. schlägt. Jedes der neun Kapitel schließt mit einer Liste ausgewählter Literaturhinweise ab. Die in den Fußnoten geführte Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand bleibt sparsam und akzentuiert. Am Anfang steht ein Überblick über die Petrusforschung (1), der - mit Konzentration auf die letzten 50 Jahre - eine Gruppierung der Untersuchungen nach Schwerpunkten bzw. Sachanliegen vornimmt. Die folgenden Kapitel zeichnen sodann den Lebensweg des Petrus vornehmlich im Lichte des neutestamentlichen Befundes nach: Unter den Stichworten Herkunft und Beruf (2) kommen die Lokalüberlieferungen zu Bethsaida und Kafarnaum auf den Prüfstand. Simon der Jünger Jesu (3) referiert die Berufung des Fischers, die Einkehr Jesu in sein Haus, die Stellung des Petrus im Jüngerkreis sowie die Ereignisse um Karfreitag und Ostern. Simons Stellung in der Urkirche (4) hat die Funktion des Petrus in der Jerusalemer Gemeinde sowie seine missionarischen Aktivitäten zum Inhalt. Martyrium und Tod (5) präsentieren das Material, aus dem sich Indizien für das Ende des Petrus sowie für die Beurteilung des Petrusgrabes gewinnen lassen. Über diese zunächst historisch orientierten Schritte hinaus gelangt daraufhin Das Petrusbild der Evangelisten (6) zur Darstellung. Einen letzten Akzent bilden Die Petrusbriefe (7) mit der Frage nach möglichen spezifisch petrinischen Zügen in beiden pseudepigraphen Schreiben sowie der Diskussion um eine Petrus-Schule in Rom. Eine Zusammenfassung schließt den neutestamentlichen Befund insgesamt ab, um nun in zwei Kapiteln auch noch einige spätere Zeugnisse über Petrus zu befragen. Das betrifft zunächst Die Bedeutung von Petrus und Rom in der frühen nachneutestamentlichen Zeit (8), wobei vor allem der 1. Clemensbrief, der Römerbrief des Ignatius, der Osterfeststreit, die römischen Bischofs-/Presbyterlisten sowie Spuren der Schriftauslegung namentlich von Mt 16,18 im Mittelpunkt stehen. Dabei kommt es zu einigen Doppelungen mit Kap. 5, wo 1Clem und IgnRöm schon für die Rekonstruktion des römischen Martyriums ausgewertet worden waren. Den Abschluss bilden Petrus-Apokryphen (9) mit der knappen Vorstellung einer Textauswahl, bevor dann auch der nachneutestamentliche Befund eine Zusammenfassung erfährt. Ein Gesamtresümee bleibt dem Leser/der Leserin überlassen - wird jedoch durch drei thesenartige Punkte am Schluss schon in eine bestimmte Richtung gelenkt: Unter dem Stichwort kirchlicher Einheit rückt Petrus rückblickend noch einmal in den Horizont ökumenischer Bemühungen; seine unterschiedliche Akzentuierung als Charismatiker und als Amtsträger wird dabei nicht im Sinne einer Alternative, sondern eines komplementären Verhältnisses bewertet.

Das Buch bietet eine klare und informative Lektüre. Die eigene Position wird in kontroversen Fragen stets mit großer Bestimmtheit vertreten. Dadurch gewinnen manche Details jedoch zu schnell den Charakter sicherer Fakten, noch bevor ihre jeweilige Problematik ausreichend sichtbar geworden ist. Das zeigt sich exemplarisch etwa im Blick auf das Martyrium des Petrus in Rom: Lässt sich aus Joh 21,18 wirklich schon der Verweis auf eine Kreuzigung des Petrus herauslesen (110)? Gibt es in 1Clem 5,1-4 nicht auch gute Gründe gegen die Annahme "geprägter Märtyrer-Terminologie" (115 f.)? Müsste nicht der Bericht des Tacitus über die Christenpogrome unter Nero gemeinsam mit den ganz anders gearteten Mitteilungen Suetons diskutiert werden (118-122)? Ist unter dem Tropaion des Gajus nur ein Grab zu verstehen (127), oder verdient nicht die z. B. von E. Dinkler favorisierte These eines markierten Gedächtnisortes für den Tod des Petrus mehr an Beachtung? Kann man nach den verschiedenen Turbulenzen um die Esplorazioni von 1951 wirklich sagen, dass die Ausgräber "mit größtmöglicher Sorgfalt gearbeitet" hätten (135)? Hinsichtlich der Petrusbilder bei den verschiedenen Evangelisten stellen sich ebenfalls Rückfragen ein: Die lukanische Petrusgestalt verdient m. E. stärker im Blick auf jene Tendenz akzentuiert zu werden, die Kontraste entschärft und negative Züge reduziert. Dass sich in dem Spannungsverhältnis zwischen Lieblingsjünger und Petrus bei Johannes auch die Zuordnung zwischen johanneischer Gemeinde und Großkirche spiegelt, könnte zugleich noch deutlicher die enorme gesamtkirchliche Bedeutung des Petrus für die Frühzeit unterstreichen.

In methodischer Hinsicht hat sich G. den neueren, vor allem narratologisch orientierten Ansätzen der Petrusforschung nicht angeschlossen. Seine Untersuchung arbeitet mit dem bewährten Instrumentarium historisch-kritischer Exegese, das auf die kanonischen wie die außerkanonischen Texte gleichermaßen Anwendung findet. Durchgängig ist freilich die Dimension der Wirkungsgeschichte im Blick, was für Mt 16,17-19 bedeutsam wird: Auch wenn dieser Passus im Kontext des Neuen Testamentes nur einen Aspekt der Petrusgestalt darstellt, vermag er sich doch in einer späteren Phase mit der Position des römischen Bischofs zu verbinden.

Bei zahlreichen Einzelheiten bewegt sich G. im Rahmen eines breiten Konsenses. Die herausgehobene, repräsentative Bedeutung des Petrus etwa resultiert nicht erst aus nachösterlichen Konstellationen bzw. aus dem Erlebnis der Protophanie, sondern ist bereits in der Geschichte der Jesusbewegung verwurzelt. Antipetrinische Affekte sind aus der Rolle des Petrus im Passionsgeschehen nicht zu entnehmen. In der frühen Christenheit fungiert Petrus sehr viel stärker als Integrationsfigur, als dass er einer Polarisierung zwischen Juden- und Heidenchristen Vorschub leistete. Die Frage nach einer Petrusschule wird mit aller gebotenen Vorsicht erwogen und im Licht der schwierigen Quellenlage erörtert. Für die ökumenische Relevanz der Petrusgestalt müssen dann Andeutungen genügen - sie zielen aus katholischer Perspektive auf die Beziehung zu den Kirchen des Ostens ebenso wie auf die Beziehung zu den Kirchen der Reformation. Nur sehr verhalten wird auch die eingangs gestellte Frage nach einem Fortwirken des Petrus in möglichen Nachfolgern beantwortet: Für die neutestamentlichen Texte lässt sich der Gedanke einer persönlichen Nachfolge nicht nachweisen; für die nachneutestamentliche Entwicklung ist der zunehmende Rückbezug auf Petrus von der erstarkenden römischen Gemeinde aus zu verzeichnen.

Im Konzert der jüngeren Petrusforschung vertritt das Buch so etwas wie den cantus firmus. Auf diese Stimme ist Verlass - auch wenn man die übrigen Stimmen nicht vermissen möchte.