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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

163–165

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Scoralick, Ruth

Titel/Untertitel:

Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien-Barcelona-Rom-New York: Herder 2002. X, 246 S. gr.8 = Herders biblische Studien, 33. Geb. Euro 40,00. ISBN 3-451-27849-9.

Rezensent:

Walter Groß

Die in den letzten Jahrzehnten mehrfach untersuchte Gottesprädikation Ex 34,6 f. ermöglicht, wie diese in Münster bei Erich Zenger verfertigte Habilitationsschrift zeigt, noch manche be-deutsamen bibeltheologischen Erkenntnisse, wenn sie, wie hier, in eindringenden Analysen auf ihre Kontexteinbindung und auf Aussagekorrespondenzen innerhalb des Kanons befragt wird. S. beschreibt ihre Methode als "kanonischintertextuelle Lektüre", mittels derer sie aus formulierungsmäßigen und konzeptionellen Text-Text-Relationen, die aber nicht als textentstehungsgeschichtliche Zuordnungen zu verstehen sind, übergreifende biblisch-theologische "Sinnbezüge" erheben kann.

Diese Sinnbezüge müssen von den Autoren/Redaktoren keineswegs intendiert sein. S. fragt vielmehr rezeptionshermeneutisch nach der Wahrnehmung des impliziten Lesers, dessen Standpunkt in den Text selbst eingeschrieben ist. Sie konzentriert sich auf Bezüge von Ex 34,6f. einerseits innerhalb des Pentateuchs, andererseits zum Zwölfprophetenbuch als gegliederter literarischer Einheit.

Was immer von der methodischen Konsistenz dieses Ansatzes und einer kanonischen Lektüre von Texten für einen Zeitpunkt lange vor der Entstehung dieses Kanons zu halten sein mag, fällt hier Folgendes auf: Die Gegenprobe, was daraus folgen könnte, dass diese Gottesprädikation als Ganze im priesterlichen Schrifttum, im deuteronomistischen Geschichtswerk, den großen Propheten, Amos und der älteren Weisheit nicht aufgenommen wird, entfällt. Wegen der Konzentration auf das Zwölfprophetenbuch begegnen auch die einschlägigen Teilformulierungen Jer 30,11; 32,18; 46,28 nur im Forschungsüberblick, obgleich die Leserichtung bei dieser Art Untersuchungen zu Recht eine wichtige Rolle spielt. Gab es einen "Kanon", in dem das Zwölfprophetenbuch unter Ignorierung der großen Propheten unmittelbar mit dem Pentateuch kurzgeschlossen wurde? Bei diesem innerkanonischen Gespräch "bleibt die durch die Kanonstruktur eingeschriebene hermeneutische Vorrangstellung des Pentateuchtextes unangetastet" (294). Ist das eine Voraussetzung, oder wie kann es erwiesen werden und was kann es bedeuten, wenn unter Umständen bezugnehmende außerpentateuchische Wendungen älter sind als das vorrangige Pentateuchzitat? Vor allem erwartet man bei einem rezeptionshermeneutischen Ansatz eine präzise Definition des implizierten rezipierenden Subjekts; hier führt S. aber über einen vagen nachexilischen Bezugspunkt nicht hinaus.

Auf den forschungsgeschichtlichen Überblick folgen zwei umfangreiche Kapitel zu Ex 34,6 f. in der Sinaiperikope und im Zwölfprophetenbuch sowie Schlussüberlegungen, in denen S. ihre Ergebnisse zusammenfasst, daraus weitere Forschungsdesiderata ableitet und schließlich einige diachrone Überlegungen anstellt. S. analysiert Ex 34,6 f. sehr gründlich und deckt die vielfältigen Kontextbezüge innerhalb Ex 32-34, zu Ex 3, zum Dekalog und zu Ex 22,26 auf. Das bedeutet gegenüber der bisherigen Forschung einen deutlichen Gewinn an Bedeutungskomplexität. Sie sieht in Ex 34,6 f. einen poetischen Text, der schon nach seiner eigenen Struktur den Schwerpunkt auf Barmherzigkeit, Gnade und vergebende Zuwendung legt. Während die Identität des Subjekts (YHWH oder Mose) in Ex 34,5bc offen bleibt, sprechen in V. 6 mehr Indizien für YHWH als Sprecher. Das doppelte YHWH gehört, wie sie gegen Scharbert unter Auswertung auch der hebräischen Akzente betont, zum Spruch selbst. Bezüglich V. 7 spricht sie zwar weiterhin auch von strafender Heimsuchung, verstärkt aber zunehmend die Auslegung, pq bezeichne lediglich die ergebnisoffene Überprüfung der Schuld, die nur bei dann festgestellter eigener Schuld zu Strafe führe.

Methodisch sehr anregend ist ihr Versuch, gezielt eingesetzte Unbestimmtheitsstellen nachzuweisen, die den Leser zunächst irritieren und im Leseverlauf von ihm dann vereindeutigt werden können/müssen. Bezüglich pq unterbewertet S. m. E. den von ihr diskutierten Konstruktionsunterschied, dass das Verb bei positiver Bedeutung in Ex 3,16; 4,31; 13,19 persönliches direktes Objekt regiert, in Ex 20,5; 32,34 und 34,7 dagegen die Schuld als direktes Objekt bei sich hat, während die Personen mit l[ eingeführt werden. Für pq im Dekalog (Ex 20,5) nimmt auch sie nur die Bedeutung "strafen" an, anderes ist dort wohl auch nicht möglich. Warum das Verb in Ex 34,7 innerhalb der gleichen Wendung seine Bedeutung gewandelt haben sollte (zumal S. entsprechend für Ex 32,35 annehmen muss, hier sei nicht von einem im Sinne von 32,34 notwendigen, sondern lediglich von einem faktisch zu dieser Zeit erfolgten Schlag YHWHs die Rede), ist aus der Perspektive eines kanonischen Lesers kaum einzusehen. Freilich existiert, wenn man auch in Ex 34,7 bei der Bedeutung "strafende Heimsuchung" bleibt, eine starke Spannung zwischen V. 6 und V. 7. In deren Beurteilung zeigt sich weniger eine einzeltextbezogene Auslegungsdifferenz als vielmehr eine grundsätzliche hermeneutische Position. S. akzeptiert zwar "Dialektik von Macht und Vergebung, Strafe und Gewährenlassen", aber keinen "Widerspruch" (205 f.). Besonders gegen W. Brueggemann, der in seiner in Deutschland zu Unrecht kaum rezipierten Theologie des Alten Testaments von 1997 gerade an Ex 34,6 f. den Widerspruch im Zentrum der Rede von Gott aufweist, weil er in der unaufhebbaren Vielfalt des Gotteszeugnisses dessen definitive Unabschließbarkeit gewahrt sieht, bringt sie die "kanonische Theologie" und "die innerbiblische Darstellung einer Geschichte der Selbstfestlegung Gottes" (71) argumentativ in Stellung und verstärkt so meinen Verdacht, dass eine so konzipierte "kanonische Theologie" zwangsläufig zum Abschleifen der Kanten widerspenstiger, im Alten Testament aufbewahrter Einzeltexte führt.

Die steilsten Thesen, die bedeutendsten Anregungen und Provokationen für die weitere Diskussion enthält das Kapitel über das Zwölfpropheten-Buch, in dem S. Ex 34,6 f. samt Kontext in Ex 32-34 "als Schlüsseltext zum Verständnis der Einheit des Zwölfprophetenbuches und der Schriftenfolge in seiner MT-Endgestalt" zu erweisen sucht (204), in Weiterführung von und Kritik an Raymond C. van Leeuwen (Scribal Wisdom and Theodicy in the Book of the Twelve, 1993). Sie behandelt die zwei expliziten Rückgriffe auf Ex 34,6 f. in Joel 2,13; Jona 4,2 und "kreative Verarbeitungen" in Mi 7,18-20; Nah 1,2.3a und erhebt als Struktur des ganzen Buches: Hos benennt die theologische Perspektive: die Liebe Gottes; Joel als hermeneutischer Schlüssel betont den Umkehrruf YHWHs; Mi, die Mitte des Buches, charakterisiert YHWHs Barmherzigkeit als Vergebung. Da S. auch Prophetenschriften ohne jeden einschlägigen Rückbezug, wie vor allem das unter solchen Rücksichten stets sperrige Am, berücksichtigen muss, ergibt sich eine komplexe und hoch konzentrierte Argumentation, in der S. zahlreiche Textbeobachtungen originell bündelt und auswertet. Abschließend können nur einige Fragen aufgeworfen werden.

Von Hos behandelt S. 1,2-2,3, speziell die Kindernamen; Kap. 11 und 14,2-9. Obgleich Hos keinen direkten und expliziten Rückbezug besitzt, erschließt sich ihr Hos 11 als "thematischer Horizont der ungleichgewichtigen Gottesprädikation von Ex 34,6f". Die Probleme, die Kap. 12 dieser Sicht bereitet, überwindet sie u. a. dadurch, dass sie Kap. 11 "grundsätzlichen theologischen Charakter" zuspricht und es als "nicht mehr revidiertes oder korrigiertes theologisches Zentralkapitel" (148) wertet, das seinerseits sogar schon vorwegnehmend den Visionenzyklus des Am korrigiert. Man sieht, wie massiv S. werten muss, um ihre These durchzuführen. Was rechtfertigt diese Wertungen? Obwohl die Leserichtung in kanonischer Lektüre eine wichtige Rolle spielt, war schon bei der Auswertung von Ex 34,6 f. das Achtergewicht auf den Strafaussagen nicht diskutiert worden.

Nah 1,2-3 stellt als letzte Bezugnahme auf Ex 34,6 f. mit seiner Betonung von Eifersucht, Vergeltung und Zorn YHWHs ein ungleich größeres Problem dar. Ist es der dominierende Schlussakkord? Dagegen bietet S. eine Art exegetisches argumentum e silentio auf: "Das Nahumgedicht greift also die Problematik des Dreiecksverhältnisses von JHWH, Israel und den Völkern auf und entfaltet es in die eine, in der Michaschrift angelegte Richtung, auf das Gericht hin. Die anderen Aspekte sind dabei jedoch nicht prinzipiell ausgeschaltet, sondern treten nur zeitweilig in den Hintergrund. Die entscheidende hermeneutische Vorgabe bleiben die Schriften Hosea/Joel und Micha" (196). Das Problem der Abfolge Bekehrung der Niniviten in Jona - Vernichtung Ninives in Nah - findet schließlich eine geradezu zynische Auflösung: Jona hatte in seiner Predigt (3,4) YHWH nicht genannt, so bekehren sich die Niniviten in Jona 3 nur zu Elohim, Elohim nur lässt sich des angekündigten Gerichts gereuen, während nach Joel 2,12 f. einzig die Bekehrung zu YHWH von Dauernutzen hätte sein können. "So entsteht im Buchzusammenhang kein Widerspruch zum Urteil der Nahumschrift" (184 f.). Hier erhebt sich noch einmal die hermeneutische Grundfrage: Muss kanonische Lektüre Widersprüche auflösen? Wäre es angesichts solcher Auflösungskünste nicht sowohl den Einzeltexten als auch ihrer Rezeption im kanonischen Zusammenhang angemessener, die Spannungen als solche zu belassen?

Durch die Fülle ganz eigenständiger Textbeobachtungen, das Gespräch mit der Sekundärliteratur, die originelle These hat S. eine Habilitationsschrift vorgelegt, die intensive Auseinandersetzung verdient. Sie zeigt auf eindringliche und fruchtbare Weise, was kanonisch-intertextuelle Lektüre leisten kann, auf welche Textbeziehungen sie aufmerksam macht und welche neuartigen Fragestellungen sie aufwirft. Freilich stellt sich angesichts der massiven Wertungen die Frage, ob hier die Grenze zwischen Textauslegung und Systematik nicht bereits überschritten ist.