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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

159–162

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lange, Armin

Titel/Untertitel:

Vom prophetischen Wort zur prophetischen Tradition. Studien zur Traditions- und Redaktionsgeschichte innerprophetischer Konflikte in der Hebräischen Bibel. Mit einem Index von K. F. D. Römheld.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XI, 371 S. gr.8 = Forschungen zum Alten Testament, 34. Lw. Euro 74,00. ISBN 3-16-147732-4.

Rezensent:

Aaron Schart

In seiner von Bernd Janowski betreuten und im Jahr 2000 in Tübingen vorgelegten Habilitationsschrift untersucht Armin Lange alle alttestamentlichen Texte, die mit innerprophetischen Konflikten zu tun haben. Nach einer Einleitung (Kap. 1, 1-55) widmet er sich zunächst den Texten, die er vor der deuteronomistischen Jeremiaredaktion ansetzt (Kap. 2, 57-184), sodann denen, die er der deuteronomistischen Jeremiaredaktion zuschreibt (Kap. 3, 185-268), um schließlich noch spätere Texte zu besprechen (Kap. 4, 269-308). Zum Schluss fasst er die erzielten Ergebnisse zusammen (Kap. 5, 309-318). Ein erschöpfendes Literaturverzeichnis (321-358) und ein Anhang (359- 365), der unkommentierte Übersetzungen der textkritisch rekonstruierten Fassungen der längeren Textpassagen enthält, sind beigefügt.

Auf der Grundlage eines umfangreichen Forschungsüberblicks zum Thema "wahre und falsche Prophetie" (4-35) formuliert L. in Kap. 1 zunächst seine Fragestellung (35-38): Was "hat dazu geführt, daß man in exilisch-nachexilischer Zeit begann, die Tradentenprophetie der kerygmatischen Prophetie vorzuziehen?" (38) Diese Frage kann man nach L. am besten an den Texten klären, die (andere) Prophetinnen und Propheten offen oder implizit negativ darstellen. Dahinter steht die Annahme, dass die kerygmatische Prophetie nicht einfach als Phänomen erlosch, sondern deshalb in Misskredit kam, weil sie in nachexilischer Zeit zunehmend als "falsche" Prophetie eingestuft wurde. Aus der in der bisherigen Forschung traditionell herangezogenen Textbasis scheidet L. sodann Num 22,22-35; 1Kön 13, die Elischaerzählung, Jona und Neh 6,10-14 und überraschenderweise auch 1Kön 22 aus, obwohl er zugibt, dass dieser Text durch die letzte Redaktion "zu einem theologischen Lehrstück zum Thema wahre und falsche Prophetie umgestaltet" (48) wurde.

In Kap. 2 werden zunächst (Kap. 2.1), dem Mainstream folgend, Am 7,14; Mi 2,6-11; 3,5-8.11; Jes 3,1-3; 9,13-15; 28,7-13 und Zeph 3,4 vor den historischen Propheten Jeremia datiert. In der als Aufzeichnung eines historischen Vorfalls durch einen Amos-Schüler verstandenen Amazja-Erzählung (Am 7, 10-17) bezeichne nabi (7,14) den vom König unterhaltenen Berufspropheten, von dem sich Amos als Laie unterscheide, was diesen aber nicht daran hindere, sich von YHWH zu einer prophetischen Botschaft berufen zu wissen (60). In ähnlichen Bahnen argumentierten Micha, Jesaja und Zephanja: Alle vier halten sie den nebiim ihrer Zeit vor, sie korrumpierten das YHWH-Wort aus Rücksicht auf Zwänge, die die Oberschicht oder bestimmte Adressaten auf sie ausübten (83). Auf diese Weise aber trügen sie zum Untergang des Volkes bei, anstatt ihn zu verhindern.

Auf den historischen Jeremia (Kap. 2.2) werden Jer 28; Jer 23,16-32* und 29,21-23 zurückgeführt. In Jer 28 liege der literarisch einheitliche Bericht eines Augenzeugen vor, der kurz nach dem Tod Hananjas niedergeschrieben worden sei. Jeremia sei vermutlich selbst vom Eintreffen seiner Vorhersage des Todes Hananjas tief beeindruckt worden. "In dieser Erfahrung des Propheten könnte der Grundstein dafür zu suchen sein, daß Jeremia späterhin Tod und Untergang als die Konsequenz falscher Heilsprophetie verstand." (87) Der Augenzeuge, der Jer 28 niederschrieb, habe im Eintreffen der Todesansage das entscheidende Kriterium nicht nur der Prophetie Jeremias in diesem Einzelfall, sondern wahrer Prophetie überhaupt gesehen. Als Grundschicht von Jer 23,16-32 bestimmt er lediglich die Verse 16.17a.b,. 18.21-24.28b-31 (122). Diese hätten sich "ursprünglich gegen eine konkrete Gruppe von Propheten gewandt [...], die beanspruchten, am himmlischen Thronrat JHWHs teilzunehmen" (123). Ihnen habe Jeremia nicht, wie seine vorexilischen Vorgänger Amos, Micha und Jesaja, Verstrickung in Abhängigkeiten zum Vorwurf gemacht, sondern ihre "als Treubruch gegenüber JHWH empfundene Heilsverkündigung" (131). Diese Verschiebung der Argumentation, so deutet L. an, dürfte damit zusammenhängen, dass die Heilspropheten nach 597 nicht unbeträchtliche persönliche Risiken für ihre Botschaft in Kauf nah- men, wie die Hinrichtung der prophetischen Gegner Jeremias Ahab und Zidkija durch Nebukadnezzar (Jer 29,22) zeige. Angesichts der auch nach der 1. Eroberung Jerusalems 597 noch andauernden Heilsverkündigung seiner Gegner habe sich bei Jeremia aber die Einsicht durchgesetzt, dass alle Propheten außer ihm selbst keinen Zugang mehr zum wahren Gotteswort hätten. Seine bis dahin mündlich geäußerten Polemiken, die lediglich gegen bestimmte Gruppen von Propheten gerichtet waren, habe er auf dieser Basis persönlich zusammengestellt, neu zugespitzt und schriftlich herausgegeben (130).

Zwischen den historischen Jeremia und die deuteronomistische Jeremiaredaktion (Kap. 2.3) sind Auftritte des historischen Ezechiel sowie Hinweise in den Klageliedern (2,14; 4,13) zu datieren. In der Grundschicht von Ez 13 (= V. 3-7a.8.9*.10-15) seien Vorwürfe Ezechiels an seine - "wohl in jesajanischer Tradition stehenden" (146) - Gegner enthalten, die diesen - wie das auch Jeremia tat - unterstellen, sie beschönigten durch die Zusicherung, Israel befände sich im Schalom-Zustand, ein völlig ruiniertes Gottesverhältnis.

In einem Exkurs "Deuteronomismus und Prophetie" (163- 181) interpretiert L. die Textpassagen Dtn 13,2-6; 18,9-22, die Rolle der Propheten im DtrG und die Überordnung des Mose über alle Propheten. In der Rekonstruktion und Datierung des Ur-Deuteronomiums folgt er Eckart Otto, der gezeigt habe, dass das Ur-Deuteronomium (Dtn 13,2-10*; 28,15*.20-44*) in joschijanischer Zeit den Loyalitätseid (adê), den Asarhaddon zu Gunsten seines Sohnes Assurbanibal auch von seinem judäischen Vasallen Manasse verlangt hatte, als Vorbild nahm, um die Loyalität zu beschreiben, die YHWH von seinem Volk fordere. Die Vorstellung, dass auch die Autorität der Propheten ein Einfallstor für Gefährdungen der Loyalität gegenüber YHWH sein kann, sei vom assyrischen Vertragstext angeregt (man vergleiche 10 des Loyalitätseides mit Dtn 13,2-10; 165). Dies impliziert nach L., dass "das Urdeuteronomium ... somit eine positive Einstellung zur Prophetie" hatte (167).

Der deuteronomistischen Jeremiaredaktion (=dtrJer) (Kap. 3) schreibt L. die Passagen Jer 4,9-10; 5,12-14; 14,10-16 und die redaktionelle Bearbeitung der Sammlungen 23,9-32 und 27-29 zu. L. unterscheidet drei Argumentationsschritte: Im Rückblick auf die Geschichte Israels wird den Propheten erstens vorgeworfen, sie hätten "mit ihrer Heilsverkündigung eine Umkehr unmöglich" gemacht (262). Die falsche Botschaft resultiert daraus, so der zweite Schritt, dass "der Prophet auf eigenes Denken, Reden und Tun"(263) baut anstatt allein auf YHWHs Wort, wie es Jeremia und die vorexilischen Unheilspropheten taten (263). Drittens wird, insbesondere in Jer 27-29, am historischen Hergang illustriert, dass und wie "Jeremias Vorhersage, daß die Propheten mit dem ihrer Führung folgenden Volk umkommen werden (Jer 27,15)", sich erfüllt hat. Den falschen Heilspropheten wird die Kette derjenigen Propheten gegenübergestellt, die von YHWH als "meine Knechte" bezeichnet werden. "Dabei dürfte Jeremia, wie die Ablehnung aller nachfolgenden Prophetie zeigt, von der dtrJer als der letzte Prophet in dieser Kette Gott gesandter Propheten verstanden worden sein" (266).

Interessant ist die These, dass die Postulierung eines Endes der prophetischen Sukzession namentlich Haggai und Sacharja die prophetische Legitimation entziehen sollte. Diese kann sich allerdings nur auf zwei Anspielungen in Jer 14,13 stützen: aus Hag 2,9 stamme die Phrase "Frieden geben an diesem Ort" (198), aus Sach 8,19 der Ausdruck "beständiger Friede" (schalom emet, 199). Nach L. war die dtrJer der Auffassung, dass die Propheten ihrer Zeit, Haggai und Sacharja, die Heilsprophetie der Gegner Jeremias völlig unkritisch fortsetzten, was sie als falsche Propheten erweise (317). Die dtrJer sei zudem gegen eine Wiedererrichtung des Tempels eingestellt gewesen, hätte vielmehr ein Israel ohne "Tempelkult und Opfertheologie" (267) gewollt.

Damit sei auch die Antwort auf die Ausgangsfrage gefunden, warum die aktuelle Prophetie in Misskredit kam. Die dtrJer habe erstmals in grundsätzlicher Schärfe nicht mehr innerhalb der aktuell auftretenden Propheten zwischen wahren und falschen unterschieden, sondern alle Propheten pauschal zu Gunsten der Lektüre der aufgezeichneten Prophetenworte vergangener Propheten abgelehnt (268). Diese These bedarf freilich angesichts der wenigen angeführten Indizien weiterer Prüfung. Man müsste z. B. bedenken, dass die Heilsprophetie nicht erst mit Haggai und Sacharja, sondern bereits im Exil mit Deuterojesaja wieder auflebte. Zudem ist schwer vorstellbar, dass die dtrJer nicht berücksichtigt haben sollte, dass das Eintreffen des göttlichen Strafgerichts und die geänderte politische, gesellschaftliche und religiöse Lage Israels unter persischer Herrschaft eine Neuausrichtung der Prophetie erforderlich machten. Zugeben müsste man schließlich, dass dadurch, dass Haggai und Sacharja in das Zwölfprophetenbuch aufgenommen und in ihrem Geist vorexilische Prophetenbücher weiter fortgeschrieben wurden, sie entgegen der Einschätzung der dtrJer als wahre Propheten anerkannt wurden.

In Kap. 4 wird "die nachexilische Ablehnung der Prophetie" (269) verhandelt. Während Sach 10,2 implizit noch mit dem Auftreten wahrer Propheten rechne, bestritten Ez 22,28, Jer 23, 33-40 und Sach 13,2-6 grundsätzlich "jede aktuelle und zukünftige prophetische Praxis" (308). Gleichzeitig zeigten Anspielungen auf ältere Prophetentexte, dass die Autorität der schriftlich vorliegenden Prophetentexte noch weiter gestiegen sei. Auch in diesem Fall ist darauf hinzuweisen, dass diese Position noch insofern aufgebrochen wurde, als am Ende des Kanonteils Nebiim die eschatologische Wiederkehr des Propheten Elija angekündigt wird (Mal 3,23).

L. hat ohne Zweifel eine ausgesprochen fleißige und detaillierte Arbeit vorgelegt, in der er die bisherige Diskussion zum Thema in großer Breite berücksichtigt. Dabei gelingt es ihm durchaus, neue Akzente zu setzen. Der Aufbau des Buches ist im Prinzip sehr lesefreundlich, weil Zusammenfassungen nach jedem Abschnitt den Überblick erleichtern. Störend dagegen ist, dass die Übersetzungen der längeren Textpassagen unkommentiert an das Ende des Buches gestellt wurden. So ist die umfangreiche textkritische Arbeit, die L. geleistet hat, z. B. die Rekonstruktion der hebräischen Vorlage der Septuagintafassungen der Texte, in schwer zu findenden Anmerkungen versteckt.

Die Rekonstruktion des mündlichen Prophetenwortes und des ursprünglichen Auftritts nimmt, anders als im Titel der Arbeit angedeutet, recht wenig Platz ein. L. geht in für die heutige Zeit bemerkenswerter Weise davon aus, dass der Text der ältesten literarischen Schicht mit dem Text des mündlich gesprochenen Wortes des historischen Propheten mehr oder weniger identisch ist. Die schriftliche Aufzeichnung ihrer Worte sei in aller Regel noch von den Propheten selbst vorgenommen worden.

Naturgemäß gilt der Rekonstruktion der literarischen Schichten das Hauptaugenmerk. Insbesondere zur schärferen Erfassung der deuteronomistischen Redaktion im Jeremiabuch hat L. viel beigetragen. Wohltuend ist, dass er die sekundären Textbestandteile sehr behutsam abhebt. Selten wird eine Passage in mehr als zwei Schichten zerlegt. Die relative und zum Teil auch absolute Datierung der verhandelten Textstellen gründet sich auf die weitgehende historische Glaubwürdigkeit der biblischen Berichte und ist, teilt man diese Basis, weitgehend überzeugend. Die umfangreichen Anmerkungen machen in jedem Einzelfall schnell deutlich, ob L. eine weit verbreitete oder isolierte oder neue Sicht in der Forschung vertritt.

Alles in allem hat der Autor eine Arbeit vorgelegt, die vor allem im Blick auf die Rekonstruktion der literargeschichtlichen Einordnung der relevanten Textpassagen eine reichhaltige, anregende und unverzichtbare Grundlage für weitere Forschungen zum Thema darstellt.