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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

153–157

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

1)Collins, John J., and Peter W. Flint [Eds.] 2) Collins, John J., and Peter W. Flint [Eds.]

Titel/Untertitel:

1) The Book of Daniel. Composition and Reception. Vol. 1.

2) The Book of Daniel. Composition and Reception. Vol. 2.

Verlag:

1) Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. XXII, 290 S. gr.8 = Vetus Testamentum Supplements, 83/1. Lw. Euro 118,00. ISBN 90-04-11675-3.

2) Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. XXIV, S. 291-769 gr.8 = Vetus Testamentum Supplements, 83/2. Lw. Euro 118,00. ISBN 90-04-12200-1.

Rezensent:

Klaus Koch

Eine groß angelegte Überschau über Ergebnisse und Aporien der Danielforschung mit 30 Beiträgen internationaler Experten hatte 1993 A. S. van der Woude veröffentlicht: The Book of Daniel in the Light of New Findings (BETL 106) als Ertrag eines Colloquium Biblicum Lovaniense von 1991. Zwei Jahrzehnte danach haben nun der US-Amerikaner Collins und der Kanadier Flint, beide ausgewiesene Kenner nicht nur der alttestamentlichen, sondern auch der Qumran-Literatur, ein ähnliches Unternehmen gestartet, mit 32 Beiträgen, diesmal auf zwei Bände verteilt. Neue Funde treten diesmal nicht hervor, dafür wird der Rezeptionsgeschichte ein eigener Teil eingeräumt und ebenso abschließend der Theologie des Buches.

Im einführenden 1. Teil berichtet J. J. Collins, Current Issues in the Study of Daniel (1-15), über das, was als wissenschaftlicher Konsens gelten kann, und über offene Probleme. Allgemein anerkannt ist, dass Dan 1-6 älter sind und die Fremdherrschaft anders beurteilen als die aus der Makkabäerzeit stammenden Kap. (7?) 8-12, und ebenso, dass das masoretische Buch eine Auswahl from a wider corpus of Danielic literature darstellt. Most controversial ist die Deutung der Menschensohnvision in Dan 7, und nach wie vor ungeklärt das social setting der Schrift. - M. A. Knibb, The Book of Daniel in Its Context (16-35), zeigt enge Beziehungen zu den Pseudodanielfragmenten und den der Apokalyptik nahe stehenden Weisheitstexten aus Qumran, die wie das Buch auf Kreise von maskîlîm zurückgehen dürften, die mit innerbiblischen Exegesen vertraut sind. Dagegen haben die Zusätze der griechischen Bibel eine andere Herkunft und waren einst selbständig umlaufende Erzählungen.

Ein 2. Teil untersucht das Near Eastern Milieu des Buches allein im Blick auf Mesopotamien. K. van der Toorn, Scholars at the Oriental Court: The Figure of Daniel Against Its Mesopotamian Background, vergleicht die Karriere Daniels mit der mantischer Gelehrter am neuassyrischen Hof, die in ihren Unheilsbeschreibungen ähnliche Motive anklingen lassen (bis zur Metapher des Löwenzwingers). - Sh. M. Paul, The Mesopotamian Babylonian Background of Daniel 1-6 (55-68), weist auf einige dem Akkadischen entnommene Wendungen im Danielaramäisch.- J. Walton, The Anzu Myth as Relevant Background for Daniel 7? (69-89), schließt für das Kapitel auf ein übernommenes chaos conflict genre, das auch im Enuma elisch und im ugaritischen Baal-Zyklus zu Tage getreten sei.

Teil 3 ist Specific Passages gewidmet. R. G. Kratz, The Visions of Daniel (91-113), versucht freilich literarkritisch im ganzen Buch eine sukzessive Entstehung nachzuweisen und stellt dabei ein wachsendes Interesse an the simple course of history wie an heavenly meditation of the vision fest. - A. Lacocque, Allusions to Creation in Daniel 7 (114-131), malt die schon von anderen vertreten These einer dem Kapitel zu Grunde liegenden Canaanite version of the cosmogony weiter aus. - Nach E. Haag, Daniel 12 und die Auferstehung der Toten (132-148), bezieht sich diese auf die in Kap. 11 geschilderte Spaltung des Volkes: Die Märtyrer erwartet postmortales Heil, die Frevler von 11,32. 40-45 hingegen die Verdammnis. - J. W. van Henten, Daniel 3 and 6 in Early Christian Literature (149-169), untersucht die häufigen Anspielungen auf beide Geschichten im Neuen Testament und in der altkirchlichen Literatur, wo die alttestamentlichen Helden vor allem zu models for and forerunners of Christian martyrs werden.

Der 4. Teil wendet sich dem gegenwärtig gern thematisierten Social Setting des Buches zu. R. Albertz, The Social Setting of the Aramaic and Hebrew Book of Daniel (171-204), weist nach, dass die aramäischen Kap. 2-7 von vornherein eine literarische Einheit gebildet haben und - gegen Kratz u. a. - nicht auf eine nicht-apokalyptische Vorstufe zurückgehen, während die hebräischen Kapitel als Interpretation in der Makkabäerzeit zugefügt wurden. Allerdings hat die Septuaginta in Kap. 4-6 eine ältere Variante aus der upper class der alexandrinischen Diaspora aufgenommen, in der das den aramäischen Text leitende Thema des Königtums Gottes fehlte. Der aramäische Teil stammt von psalmic poets, die in ptolemäischer Zeit im Gegensatz zum priesterlichen Establishment stehen, der hebräische vom quietistischen Flügel apokalyptischer maskîlîm. - Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, ohne sich im Detail festzulegen, S. Beyerle, The Book of Daniel and its Social Setting (205- 228). Die zwei Stufen der Buchentstehung hatten einen unterschiedlichen Sitz im Leben. Die Hoferzählungen stammen aus der Diaspora, die Visionen ab Kap. 7 von verfolgten maskîlîm aus Jerusalem, well educated upper class people mit einem antihellenistischen belief system. - L. L. Grabbe, A Dan(iel) for All Seasons: For Whom was Daniel Important? (229-246), vertritt fast die gleiche Sicht: "The writer of Daniel 7-12 (who was probably the editor and compiler of the whole) was an educated person, knowledgable in Greek learning, and likely of high standing in the Jewish community" (231). - Ph. R. Davies, The Scribal School of Daniel (247-265), will einen materialistischen statt idealistischen Zugang mit social science methods einführen, gelangt aber zu keinem anderen Ergebnis. Verfasser sind maskîlîm, eine gebildete, antihasmonäische scribal community mit Wurzeln in der Diaspora, die vielleicht einst in seleukidischen Diensten stand, nun aber entrechtet ist. - Anders D. L. Smith-Christoffer, Prayers and Dreams: Power and Diaspora Identities in the Social Setting of the Daniel Tales (266-290), der statt von Textanalysen von Cultural Studies methods ausgeht. Das Ergebnis ist entsprechend: Die Erzählungen entspringen der subversiven Strategie einer Minorität, die ihre Identität sichern will.

Mit Teil 5, der dem literarischen Kontext einschließlich Qumran gewidmet ist, beginnt der zweite Band. J. W. Wesselius, The Writing of Daniel (291-310), geht von dem Tatbestand aus, dass die Zweisprachigkeit des Buches trotz vieler Theorien über dessen sukzessive Entstehung nicht hinreichend erklärt werden konnte. Ein Vergleich mit dem zweisprachigen Esrabuch lässt strukturale Parallelen erkennen, was auf eine literary strategy und jeweils einheitliche Verfasserschaft schließen lässt. - Über ausgefahrene Gleise der bisherigen Diskussion hinaus führt G. Boccaccini, The Solar Calendars of Daniel and Enoch (311- 328). Dan 7,25 rügt den Wechsel des Kalenders durch den Frevelkönig (Antiochos IV.) als schwerwiegendes Vergehen. Es handelt sich um die Einführung des hellenistischen lunaren Kalenders statt des alten in Jerusalem gültigen zadokidischen Sonnenkalenders, der ein Jahr von 360 Tagen (= 12 x 30) und vier Schalttagen voraussetzte und in Dan 12,11 f. die Differenz zwischen 1290 und 1335 Tagen in der Folge der Endereignisse begreiflich macht als 1 1/2 Monate. Leider verzichtet B. darauf, auf die Parallelen in der babylonischen astronomischen Schrift MUL.APIN einzugehen, wo ebenfalls ein 360/364-Tage-Jahr vorausgesetzt wird (s. Rez., Die aramäische Rezeption der hebräischen Bibel, 2003, 32-35). - P. W. Flint, The Daniel Tradition at Qumran (329-367), bietet einen ausgezeichneten Überblick über die acht "kanonischen" Manuskripte und die neun pseudodanielischen aus Qumran, beschreibt die Entstehungszeit und im zweiten Fall das Verhältnis zum überlieferten Buch, mit eingehenden Erörterungen zu so aufschlussreichen Fragmenten wie die des Gebets Nabonids (Vorlage für Dan 4?), dem Sohn-Gottes-Text und der Vision der vier Weltreiche. - L. T. Stuckenbruck, Daniel and Early Enoch Traditions in the Dead Sea Scrolls (368-386), weist auf, dass die Pseudodaniel-Stücke gegenüber dem "masoretischen" Daniel nicht notwendig sekundär sind. Die in Dan 7 geschaute Thron-Theophanie ist von dem Henoch zugeschriebenen Gigantenbuch beeinflusst, wie denn Daniel auch sonst vom aramäischen Henoch abhängig ist. - Ebenso urteilt im Blick auf Dan 7 E. Eshel, Possible Sources of the Book of Daniel (387-394). Daneben findet sie Vorlagen für Dan 4 und 11 f. in anderen Qumranfragmenten, so dem Gebet Nabonids. - J. F. Hobbins, Resurrection in the Daniel Tradition and Other Writings (395-420), untersucht das Aufkommen der Auferstehungserwartung in Henoch, Jubiläen und Pseudo-Ezechiel (4Q 385-388), die sich in Einzelheiten unterscheidet, vor allem in der Antithese von Repristination mit Weiterleben auf der Erde oder Auffahrt in die Gemeinschaft der Himmlischen.

Neue Pfade schlägt Teil 6 über die Rezeption in Judentum und Christentum ein, indem neben der traditionellen Exegese des alten Textes auch dessen vielfältige Aufnahme in der Folgezeit als historische Aufgabe begriffen wird. K. Koch, Stages in the Canonization of the Book of Daniel (421-446) untersucht, zu welcher Zeit und unter welcher Thematik Daniel in der Diaspora (LXX), Seitenströmungen wie Qumran oder im Neuen Testament rezipiert wurde. Als das Buch um 100 n. Chr. allgemein von Juden und Christen als Heilige Schrift geachtet wurde, geschah das in der Überzeugung, dass das letzte Weltreich der Visionen nicht die Griechen, sondern Rom, und der Sohn des Menschen nicht einen Engelsfürst, sondern eine menschliche Person bedeute. Was zum Canonical shape des Buches gehört, unterscheidet sich dadurch beträchtlich vom Anliegen der makkabäerzeitlichen Komposition. - Ch. Rowland, The Book of Daniel and the Radical Critique of Empire. An Essay in Apocalyptic Hermeneutics (447-467), veranschaulicht die revolutionäre Daniel-Rezeption im 16. und 17. Jh. n. Chr. bei Th. Müntzer und den Briten Winstanley und Blake. - U. Glessmer, Die "vier Reiche" aus Daniel in der targumischen Literatur (468-489), weist auf, welche wichtige Rolle die Gleichsetzung des letzten Reiches mit Rom = Edom hier spielt. - C. A. Evans, Daniel in the New Testament: Visions of God's Kingdom (490- 527) wertet den wichtigsten der über 200 Bezüge auf das alttestamentliche Buch aus mit dem Ergebnis, dass es "has made a significant contribution to Jesus' understanding of the kingdom of God, his suffering and rule as son of man, the co-regency of his disciples, and the day of judgment." - Der gleichen Spur geht nach J. D. G. Dunn, The Danielic Son of Man in the New Testament (528-549), und sieht ebenfalls in Daniel "the chief source for the whole Son of Man motif in the Gospels", lässt aber offen, ob Jesus selbst sich mit der Gestalt identifiziert hat. - Zur Alten Kirche führt hinüber M. Henze, Nebuchadnezzar's Madness (Daniel 4) in Syriac Literature (550-571), wo dessen Wandlung zu einem tierischen Leben nicht mehr als Strafe, sondern als Beispiel asketischer Buße verstanden wird.

Der 7. Teil behandelt die Textgeschichte. E. Ulrich, The Text of Daniel in the Qumran Scrolls (574-585), hebt die Bedeutung des Buches für den Yah.ad hervor, die Zahl von acht Manuskripten wird nur von der Anzahl der Handschriften des Pentateuchs, Psalters und Jesajas übertroffen. Die Abweichungen von MT werden sorgfältig kommentiert, sie lassen sich in keinem Fall auf spezifisch qumranische Interessen zurückführen. - A. A. DiLella, The Textual History of Septuagint-Daniel and Theodotion-Daniel (586-607), weist nach, dass es sich um zwei selbständige griechische Übersetzungen handelt, die erste aus Ägypten, die zweite aus Palästina und Kleinasien. Beide enthalten über MT hinaus "deuterokanonische", aber dem übrigen Buch gleichrangig zugeordnete Additiones und sind durch eine hexaplarische und eine lukianische Rezension hindurchgegangen: "Being Scriptures ... they deserve the same respect and consideration as the MT." - K. D. Jenner, Syriac Daniel (608-637), beschreibt die von den Exegeten meist übersehenen eigenständigen und alten Übersetzungen, besonders der Peschitta, bis hin zu ihren Paragrapheneinteilungen und ihrer liturgischen Verwendung. Bemerkenswert sind die in den Text eingefügten Anspielungen auf die Weltgeschichte, die in der Peschitta die von der historisch-kritischen Forschung erst in der Neuzeit als ursprünglich klassifizierte Reihenfolge der vier Weltreiche Babylon-Medien-Persien-Griechenland bereits erkannt haben.

Der 8. Teil wendet sich - neu in solchen Sammelwerken zum Alten Testament - der Theologie des Buches zu. Ebenso anregend wie zum Widerspruch reizend entfaltet J. Goldingay Daniel in the Context of Old Testament Theology (639-660). Zentrales Thema ist für das Buch das Verhältnis Gottes zu den weltpolitischen Ereignissen als reactive rather than proactive (643). Dagegen scheint 2,37 f. zu sprechen, wonach Gott dem Nebukadnezzar das universale Reich mit all seiner Herrlichkeit übereignet hat, doch das gelte nur für diesen König. "The initiative in history lies with human beings" (647). Auf anders lautende Stellen wie 2,21;4,14; 5,21 u. a. wird leider nicht näher eingegangen! Indirekt bleiben auch Gottes Offenbarungen, die menschliche Vermittler artikulieren. Der Schlussabschnitt betont, dass Daniel sich nicht nur an jüdische Leser, sondern auch an Heiden und ihre Führer wendet, so dass es abschließend heißen kann: "The book's portrait of people such as Nebuchadnezzar and Darius and Antiochus adresses us directly". - J. Barton, Theological Ethics in Daniel (661-670), stellt zutreffend heraus, dass Daniel keine sektiererische Moral erkennen lässt, und behauptet dann, dass er wie der mainstream Judaism eine gesonderte Ethik von Juden und Heiden fordere, von den einen strengen Gehorsam gegen das Gesetz des Mose, von den heidnischen Königen Verzicht auf Hybris. Richtig daran ist, dass von den Heiden keine Bekehrung zum Gott von Jerusalem gefordert wird. Wo aber ist vom Gesetz des Mose die Rede (außer in einem in Kap. 9 eingefügten Sonderstück)? Entspricht die Art, wie Daniel und seine Freunde sich dem heidnischen Staat zur Verfügung stellen und in ihm Karriere machen, der Moral jenes mainstream? - Der abschließende Beitrag von J. Lust, Cult and Sacrifice in Daniel. The Tamid and the Abomination of Desolation (671-688), bleibt bei einem religionsgeschichtlichen Sonderproblem und weist die verbreitete Ansicht ab, dass mit dem Gräuel des siqqu somem ein Symbol des Baal Shamajim gemeint sei, da Daniel seinen eigenen Gott als 'älah oder marê samajîm bezeichne. Meinen aber die beiden Lexeme wirklich dasselbe wie ba'al? Gemeint sei vielmehr das von Antiochos IV. nach 1Mak 1,47 f. verordnete Schweineopfer. Ist aber diese Notiz historisch? Von dem Seleukiden ist m. E. nirgends belegt, dass er auf Schweine Wert gelegt habe.

Der Band gibt eine zuverlässige Orientierung über das, was gegenwärtig als Danielforschung gilt und international diskutiert wird. Den Herausgebern ist gelungen, die Vertreter von charakteristischen Positionen zur Mitarbeit zu bewegen, so dass deutlich wird, wo inzwischen Konsens erreicht worden ist. Bezeichnenderweise bedarf die vor Jahrzehnten heftig umstrittene Ableitung der Schrift von der Prophetie oder der Weisheit (ein Gegensatz des 8./7. Jh.s v. Chr., nicht des 2.!) keiner Behandlung mehr.