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Ausgabe:

Februar/2004

Spalte:

146–148

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Knittel, Thomas

Titel/Untertitel:

Das griechische Leben Adams und Evas. Studien zu einer narrativen Anthropologie im frühen Judentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 349 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 88. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147712-X.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Das "griechische Leben Adams und Evas", in dieser Rezension wie gewohnt "Apokalypse des Mose" genannt und mit dem Kürzel ApcMos bezeichnet, ist seit der Edition Tischendorfs (1866) der Forschung bekannt und hat schon bald eine gewisse Wertschätzung als "Parallelstellenreservoir" für das Neue Testament erfahren. Es gehört zu einer Gruppe von miteinander verwandten Adamschriften, die vom Leben Adams und Evas nach der Vertreibung aus dem Paradies erzählen und das Paradiesgeschehen durch narrative Rückblenden reflektieren. In den letzten Jahren wird dieses Schrifttum, das rezeptionsgeschichtlich außerordentlich wirksam geworden ist, verstärkt um seiner selbst willen untersucht. Die Arbeit von Thomas Knittel, auf einer Leipziger Dissertation beruhend, steht ebenfalls für diese Tendenz; sie kann außerdem als die erste deutschsprachige Monographie zum Thema gelten.

K. fasst die ApcMos als "Entwurf einer narrativen Anthropologie" auf (95). Sie nehme ihren Ausgangspunkt bei der Geschöpflichkeit des Menschen (101). Vorrangig gehe es ihr aber darum, die Widernisse der gegenwärtigen Existenzweise des Menschen ("Krankheit, Mühsal und Unfriede" [95]) zu erklären. Diese würden monokausal von der Übertretung des göttlichen Gebots durch Adam und Eva im Paradies hergeleitet. Gleichzeitig gehe es aber auch darum, dem Menschen eine Hoffnungsperspektive zu eröffnen, die auf dem "Bekenntnis zu Gott als dem Schöpfer" (95) beruhe. "Dieser habe den Menschen mit seinen eigenen Händen und nach seinem Bild geschaffen und werde sein Ja zum Menschen aufrecht erhalten und ihn am Ende auch erretten. Zu diesem hoffnungsvollen Bild ... gehört auch der Glaube an die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten" (95). Dieser Einschätzung der ApcMos entspricht im Wesentlichen die Disposition der Arbeit: Sie gliedert sich in einen Einführungsteil, der die Forschungsgeschichte und die klassischen Einleitungsfragen behandelt (Kap. 1-4), und einen Hauptteil (Kap. 5-9), welcher der soeben angedeuteten Systematik entsprechend ausgewählte Texte zu den Themen "Geschöpf und Ebenbild Gottes" (Kap. 6), "Opfer und Täter: Der Fall des Menschen" (Kap. 7), "Krankheit, Mühsal und Unfriede" (Kap. 8) und "Tod und Auferstehung" exegesiert. Die Einzelexegesen sind durchgehend klar gegliedert (zum Verfahren vgl. Kap. 5): Zunächst wird eine Rekonstruktion des jeweiligen Textes präsentiert (1.). Darauf folgen eine Übersetzung (2.), eine Textanalyse (3.), eine quellen- und traditionskritische Analyse, die reichlich Parallelstellen vor allem aus dem frühjüdischen Bereich bietet (4.), eine Darstellung der Theologie des betreffenden Abschnittes (5.) und schließlich ein synoptischer Vergleich mit parallelen Passagen in verwandten Adamschriften, etwa der lateinischen Vita Adae et Evae oder der armenischen "Buße Adams" (6.). Ein Resümee, das ausgehend von den Einzelexegesen noch einmal zu den zentralen Einleitungsfragen zurücklenkt, rundet die Arbeit ab (Kap. 10). Diese ist im Übrigen flüssig geschrieben und sauber redigiert. Sie wird unbestreitbar von Nutzen sein; so wird man z. B. das religionsgeschichtliche Material in den Einzelexegesen dankbar auswerten. Zudem werden hier erstmalig weite Passagen nicht nur übersetzt, sondern auch in ihrer Textur beschrieben und kommentiert.

Die gegenwärtige Forschungsdiskussion zur ApcMos ist durch heftige Kontroversen vor allem hinsichtlich der religionsgeschichtlichen Verortung geprägt. In dieser Szenerie positioniert sich die Arbeit K.s in der Nähe dessen, was einmal als Mainstream galt: Die ApcMos ist ein frühjüdischer Text, entstanden im ersten oder frühen zweiten Jh. n. Chr. (62-63). Dieser Standpunkt hat auch heute noch Anhänger (Meiser, Merk, Heininger, Dochhorn, Elridge), vor allem in Deutschland, findet jedoch mittlerweile Widerspruch von Forschern, die eine Spätdatierung und Verortung der Schrift im christlichen Milieu favorisieren (De Jonge, Tromp, Anderson, Stone). Was das Entstehungsmilieu angeht, legt sich K. nicht näher fest; einiges spreche freilich für die Herkunft aus dem Diasporajudentum (68-69). Die zweite heiß umstrittene Frage, die nach dem Verhältnis der verwandten Adamschriften zueinander, entscheidet K. zu Gunsten einer von ihm so genannten "Benutzungshypothese": Die ApcMos ist die Grundschrift, von der die ihr verwandten Adamschriften abhängen (46.304). Dieser Standpunkt beginnt sich seit der grundlegenden Arbeit Nagels (1972) durchzusetzen (freilich nicht bei Anderson und Stone). Eine relativ isolierte Position nimmt K. bezüglich der literarkritischen Problematik ein: Er hält die ApcMos für ein "einheitliches" Werk; "einheitlich" bedeutet hier, dass ein diachrones Textentstehungsmodell ausgeschlossen wird (90-92). Spannungen werden dennoch präzise notiert; sie werden traditionsgeschichtlich erklärt: Der Verfasser habe unterschiedliche Traditionen über Adam und Eva montiert (92). K. geht so weit, die ApcMos als ein "Kompendium" frühjüdischer Adamüberlieferungen zu bezeichnen (8). Als Originalsprache identifiziert er das Griechische; ein hebräisches Original wird ausgeschlossen, u. a. mit dem Nachweis, dass die Hebraismen auch anders, vorwiegend als Septuagintismen, erklärt werden können (46-52; so schon Stone und Bohak).

Was die textkritische Arbeit betrifft (vgl. Kap. 3), hält sich K. eng an die Vorgaben Nagels, der (in einer unveröffentlichten Dissertation aus dem Jahre 1973) die bis dato maßgebliche Untersuchung zur Textgeschichte vorgelegt hat und die Überlieferung etwa folgendermaßen stemmatisiert: Dem Urtext am nächsten stünden - unabhängig von allen anderen Zeugen - D und St (primäre Rez I-Zeugen). Weiter entfernt anzusiedeln seien sekundäre Rez I-Zeugen (AV An' etc.), von deren Überlieferung einerseits Rez I' (bezeugt durch A AC Ath C) und andererseits Rez III (P1, P2 etc.) derivierten; Rez II sei abhängig von Rez I'. Von Rez I' hat Nagel die lateinische Vita Adam et Eva und das georgische Adambuch abgeleitet, von Rez II das slavische Adambuch, von Rez III die armenische Übersetzung der ApcMos. Dieser Stemmatisierung entsprechend gibt K. fast durchweg den Zeugen D und St den Vorzug. Ähnlich gehen Meiser und Merk (1999) vor; auch ich habe textkritische Entscheidungen in früheren Veröffentlichungen nach den genannten Vorgaben gefällt.

Es ist indessen kaum einzusehen, weswegen D und St ein derart exzeptioneller Stellenwert eingeräumt werden sollte. Lediglich an einer Stelle (ApcMos 7,1) bieten D und St gegen alle anderen Zeugen den richtigen Text (es statt u), doch hier ist die sekundäre Lesart derart nahe liegend, dass sie kaum als gemeinsamer Trennfehler angesehen werden kann (K. übrigens entscheidet sich für u, vgl. 206). An anderen Stellen sind die Sonderlesarten von D und St besser als Fehler zu werten, etwa wenn in ApcMos 17,1 D und St das durch die anderen Handschriften bezeugte angelu nicht bieten, wodurch ein sinnloses Syntagma entsteht, das K. (154, Anm. 57) als "Lectio difficilior" identifiziert. Ähnlich verfahren auch Meiser/Merk. Näher liegt es jedoch, die Lesart von D und St als Omission durch Aberratio oculi zu erklären (in der Umgebung steht zweimal angeloi). Die "Lectio difficilior" ist also ein Fehler - keine Seltenheit bei Texten, die überwiegend von ungebildeten und unkonzentrierten Kopisten abgeschrieben wurden. Die Folgen des von K. gewählten Verfahrens sind nicht ganz unerheblich (bei der Textkritik der ApcMos geht es leider nicht nur um Partikel oder Stellungsvarianten). So entgehen ihm zahlreiche Passagen, die nur in Rez I' und Rez II überliefert werden und sicher ursprünglich sind.

Die von Nagel und seinen Nachfolgern D und St zugeschriebene Ausnahmestellung kommt nämlich in Wirklichkeit eher den Rez I' und Rez II gemeinsamen Sonderlesarten zu, gewöhnlich überschüssige Passagen, die Nagel in seiner Dissertation noch als Zusätze gewertet hatte. In Nagels postum erschienenem Lesetext zur Pseudepigraphenkonkordanz von Denis erscheinen sie des Öfteren dann trotzdem, was K. an Nagels Bereitschaft, einen Urtext zu rekonstruieren, zweifeln lässt (15); plausibler erscheint mir jedoch die Annahme, dass Nagel sich seine Thesen noch einmal durch den Kopf gehen ließ - leider können wir diesen so verdienten Forscher nicht mehr fragen. Insgesamt dürfte die ApcMos also etwas umfangreicher gewesen sein als in K.s Rekonstruktion. Meine demnächst erscheinende Dissertation wird die hier vorgetragene Sicht der Dinge entfalten; es ist mit Spannung zu erwarten, wie Tromp sich entscheiden wird, der mit einer editio maior critica betraut ist.

Man fragt sich auch, warum K. so wenig von der durch Nagel bereitgestellten Möglichkeit Gebrauch macht, das synoptische Problem auf dem Wege der Textkritik zu lösen. Nagel hatte - m. E. überzeugend - nachgewiesen, dass sämtliche mit der ApcMos verwandten Adamschriften von Rezensionen der ApcMos abstammen; damit erübrigt sich im Grunde der Nachweis ihrer Nachrangigkeit durch synoptischen Vergleich. Die betreffenden Passagen bei K. sind dann freilich immer noch in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht ertragreich.

Problematisch erscheint ebenfalls die Ablehnung einer diachronen Textanalyse, die durchaus auch die theologische Arbeit hätte befruchten können. Setzt man beispielsweise mit Levison voraus, dass ApcMos 15-30 ein älteres Quellenstück ist, dann lösen sich nicht nur Spannungen auf. Man wird auch bemerken, dass der Tod in ApcMos 15-30 anders als etwa in ApcMos 14,2 nicht als Folge der Sünde erscheint. Vielmehr wird in ApcMos 15-30 vom Tod ganz ähnlich geredet wie im biblischen Text: Adam wird die Frucht des Lebensbaums verweigert, damit er nicht unsterblich werde (ApcMos 28). Offenbar war er vorher also sterblich! K. muss auch hier den Gedanken vom Tod als Folge der Gebotsübertretung eintragen (277-278) und begibt sich so einer religionsgeschichtlich sicher interessanten Entdeckung: Der Gedanke, dass der Tod auf Adam zurückgehe, musste zumindest in der ApcMos erst noch entwickelt oder übernommen werden. Er war eben noch neu!

Eine letzte Anfrage ist hermeneutischer Natur: K. interpretiert, wie berichtet, die ApcMos als "Entwurf einer narrativen Anthropologie" und tendiert dementsprechend dazu, Aussagen über Adam oder auch Eva und Seth als Aussagen über den Menschen schlechthin zu fassen. Ein Beispiel soll diese Auslegungsstrategie illustrieren: In ApcMos 10-12 wird Seth von einem wilden Tier angefallen. Eva versucht vergeblich, das Tier zurechtzuweisen, Seth hingegen bleibt überlegen und gebietet dem Tier, vom Ebenbild Gottes Abstand zu nehmen "bis zum Tag des Gerichts" (ApcMos 12, 1). Für K. steht Eva hier "für das menschliche Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit", während Seth "die dem Menschen auch nach dem Fall verbliebene Würde" verkörpere (107). Doch wie sicher darf man sein, dass Eva und Seth anthropologische Universalien repräsentieren? Besonders akut wird diese Frage bei dem Begriff "Würde", der kaum zur Ideenwelt der ApcMos passen dürfte. Es erscheint näher liegend, dass in ApcMos 10-12 die Aussagen von Gen 3,15 über die Frau, ihren "Samen" und die Schlange auf Eva, Seth und das Tier gedeutet und narrativ umgesetzt werden. Darum ist Eva wie die Frau am Konflikt beteiligt, und Seth ist wie der "Same" derjenige, der das Tier besiegt. Das Tier wiederum fügt wie die Schlange dem Nachkommen Evas eine Verletzung zu. Letzteres steht freilich nur in Textzeugen, deren Sonderlesarten K. aus den oben genannten Gründen relegiert. Damit sind wir wieder bei der Textkritik.