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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

106–108

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rehm, Johannes

Titel/Untertitel:

Erziehung zum Weltethos. Projekte interreligiösen Lernens in multikulturellen Kontexten.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 400 S. gr.8 = Arbeiten zur Religionspädagogik, 20. Kart. Euro 49,00. ISBN 3-525-61490-X.

Rezensent:

Bernd Schröder

Das vorliegende Buch ist die "gekürzte Fassung" einer praktisch-theologischen Habilitationsschrift, die im Jahr 2000 von der Theologischen Fakultät Erlangen angenommen wurde (10). Die Studie sucht "vom Modell des Projekts Weltethos ausgehend ... [im In- und Ausland] nach ... Modellen und Projekten religiöser Erziehung in multikulturellem Kontext" (12). Gefragt wird, "wie dieses Programm [sc. das Weltethos-Projekt] in der religiösen Erziehung vorkommt und ob es sich tatsächlich um eine die Religionen verbindende Basis im Bereich religiöser ethischer Erziehung handelt" (18). "Der Impuls des Weltethosprogramms wird also in dieser Studie ... für die religionspädagogische Praxis auf seine Tragfähigkeit überprüft" (12).

Nach einem Vorwort (9 f.) und einer kurzen "Einführung" (11-21), die eine Skizze des Weltethos-Prozesses bietet und die Aufgaben der Studie benennt, werden im Hauptteil der Arbeit ("Elemente eines Weltethos in der religiösen Erziehung anhand ausgewählter Beispiele"; 22-373) religionspädagogisch relevante Modelle und Projekte aus vier Kontexten vorgestellt, nämlich aus England (22-99), Israel und Palästina (100-169), Südafrika (170-247) und Deutschland (248-373). Kriterium für die Auswahl dieser Länder ist deren multikulturelle Bevölkerung (vgl. 18 f.). Am Ende steht ein bündelndes Kapitel ("Das Weltethosprogramm - eine Perspektive für religionspädagogische Aufgaben in multikulturellen Kontexten", 374-392), dem zufolge "das Projekt Weltethos" nicht nur ein "politisches" und "prophetisches" Programm ist, sondern "ein Programm religiöser ethischer Erziehung" (392).

Das Kernstück der Studie bilden die Länderberichte. Jeder von ihnen bietet zunächst "eine geschichtliche Einführung in die religiöse Schulerziehung" und die "gegenwärtigen Rahmenbedingungen religionspädagogischer Arbeit" des jeweiligen Landes (19 f.), dann werden "Modelle ... religionspädagogischer Praxis" beschrieben, "die in den betreffenden Ländern besonders verbreitet und repräsentativ sind" (20). Dazu zählt R. u. a. in England das "Warwick Project", in Israel die Friedensschule "Oase des Friedens", in Palästina die evangelische Schule "Talita Kumi", in Südafrika das "Camps Bay High School Co-Curricular Programme", in Deutschland den Brandenburger Modellversuch "LER". Diese Konzepte werden unter zwei Gesichtspunkten analysiert: "In welcher Weise ist Rede von Gott und menschliches Handeln aufeinander bezogen und miteinander vermittelt?" Wie behandeln sie die "vier unverrückbaren Weisungen des Weltethos", also "Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben", "Solidarität und Gerechtigkeit", "Toleranz und Wahrhaftigkeit" sowie "Gleichberechtigung und Partnerschaft"? (20). Die einschlägigen Befunde werden zunächst im Blick auf jedes der vier Länder, dann noch einmal alle Kontexte umgreifend dargestellt.

Dabei kann R. rückblickend feststellen, dass alle angeführten Programme - ungeachtet einiger Divergenzen im Einzelnen, die der Autor vor allem im Judentum ausmacht (z. B. 387.388 f.) - "in Richtung auf einen ethischen Minimalkonsens im Sinne des Weltethos-Projekts" konvergieren (381; vgl. 382.384.386). Dies nimmt der Autor zum Anlass, abschließend für eine "verstärkt ... ethische Fragen aufgreifende theologische Weltreligionen-Didaktik" zu optieren (389) und weitere "dem Weltethosprogramm verpflichtete Bildungs- oder Unterrichtsprojekte" zu bejahen (391).

So wenig man diesen Plädoyers widersprechen will und so interessant die Leitfrage nach der religionspädagogischen Relevanz des Weltethos-Programms auch ist: Die Durchführung der Studie lässt in vielerlei Hinsicht zu wünschen übrig.

Einige Monita seien angedeutet: Die Auswahl der Projekte wirkt zufällig - sie haben nach Zielgruppe (Primarstufe bis Hochschule) und Verfasstheit (Lehrplan bis Modellversuch) sehr unterschiedliche Zuschnitte; Repräsentativität jedenfalls kann ihnen nicht pauschal zuerkannt werden. Wofür ist die Arbeit des Al-Liqà Zentrums repräsentativ, wofür LER oder ein Lehrplan für jüdischen RU in Bayern? Inwiefern sind diese - sehr verschieden verfassten Beispiele - in ihrem Kontext "besonders verbreitet"? Die Projekte, die nach Auskunft des Autors durch "umfangreiche Feldstudien" erschlossen wurden (21), werden de facto in fast allen Fällen anhand vorliegender Literatur lediglich beschrieben (oft wird nur ein einschlägiges Werk referiert; vgl. etwa 37 ff.119 ff. u. ö.; dazu wird auf Gespräche mit den jeweiligen Initiatoren verwiesen, die Mitte der 90er Jahre geführt wurden). Die beiden analytischen Leitfragen prüfen einerseits anhand eines aus "der Tradition reformatorischer Theologie" (20) gewonnenen Kriteriums die ethisch-theologische Richtigkeit der Modelle, andererseits die Berücksichtigung der Weltethos-Kriterien. Die Angemessenheit dieser Kriterien wird weder innertheologisch noch im Blick auf die z. T. islamisch, jüdisch oder multireligiös geprägten Gegenstände der Untersuchung reflektiert (Warum etwa sollte sich das "Jewish values project" Michael Rosenaks an reformatorischen Kriterien prüfen lassen? Was eigentlich bedeutet es, wenn Modelle, die sich selbst durchgängig nicht im Weltethos-Programm verorten, dessen Kriterien genügen oder eben nicht genügen? Können die angeführten Modelle und ihre theologischen Hintergründe nicht ihrerseits potentiell über die Einsichten des Weltethos hinaus führen?).

Von religionspädagogischen Beurteilungskriterien ist in systematisch entfalteter Form nirgends die Rede. Als eine seiner Zielsetzungen führt R. an, "die internationale Entwicklung als kritische Anfrage an die deutsche Praxis" ernst nehmen zu wollen (16); entsprechend bietet er - obwohl "ein Vergleich zwischen Deutschland/England, Israel/ Palästina und Südafrika ... schwer vorstellbar" ist (374) - am Ende eine Blütenlese dessen, was von den angeführten Modellen s. E. zu lernen ist (374- 380). Ob und unter welchen Bedingungen Erfahrungen aus anderen Kontexten übertragbar sind, wird nicht methodisch reflektiert.

Diese m. E. durchgängige methodische Unterbestimmtheit der Studie geht mit inhaltlichen Mängeln einher. Die Skizzen zur Geschichte und Gegenwart religiöser Schulerziehung in den einzelnen Ländern entbehren einer erkennbaren Struktur und ermöglichen schwerlich die Einordnung der anschließend vorgestellten Modelle in die landesspezifische religiöse Schulerziehung (so etwa im Falle Südafrikas, dessen aktuelle Regelungen zum RU gar nicht in den Blick kommen; referiert wird der Stand von 1994); inwiefern die Kontexte multikulturell bzw. multireligiös sind, wird nicht einmal ansatzweise expliziert. Selbst deutschsprachige einschlägige Literatur wird nur eklektisch aufgenommen (so fehlt zu England etwa die Studie von Karlo Meyer aus dem Jahr 1999; im Blick auf LER wird der Diskussionsstand von 1995 reflektiert), kritische Auseinandersetzung mit Literatur fehlt durchweg - die Darstellung des palästinensischen Schulwesens beispielsweise folgt exklusiv einer Magisterarbeit Viola Rahebs (die zudem im Text als "Violet Al Raheb" geführt wird; vgl. 107-111).

Auch sachliche Fehler sind keine Seltenheit. So heißt es - ich greife Beispiele aus einem Kapitel heraus - etwa auf S. 102 fälschlich, auf Grund des israelischen Erziehungsgesetzes von 1953 sei "das staatliche säkulare Erziehungswesen ... das einzig legale Schulsystem" geworden; S. 165 wird von den "Jeschiwas" gesprochen (korrekt wäre: Jeschiwot), "in denen auf die Unterweisung in der mündlichen Thora verzichtet wird" - das Gegenteil ist richtig: Diese bildet dort den Kern des Unterrichtsprogramms; R. redet stets von "Religionsunterricht" im Staat Israel, obwohl es ein solches Fach an den dortigen jüdischen Schulen nicht gibt. Und nicht zuletzt finden sich vielfach unverständliche bzw. irreführende Formulierungen:

Warum etwa ist das Erziehungswesen des Staates Israel ein "künstlich konstruiertes System" (112)? Was soll man sich unter "Versuchen" des "staatliche[n] System[s] religiöser Erziehung" in Israel, "den westlichen Ashkenazi-Lebensstil den orientalischen Sephardi-Schülern aufzuoktroyieren", vorstellen (103)?

Gewiss: Das Buch stellt eine Auswahl von interessanten Projekten religiöser Erziehung in verschiedenen multireligiösen Kontexten zusammen, die der Autor vielfach aus eigener Anschauung kennen gelernt hat. Insbesondere die Beispiele aus Südafrika sind hierzulande noch weitgehend unbekannt. Darin liegt ein positives Moment. Doch die unklare konzeptionelle Einordnung der so verschiedenen Befunde und die Fehlerhaftigkeit der Darstellung lassen dieses Buch zu einer streckenweise Ärgernis erregenden Lektüre werden, die weder den diversen vorgestellten religionspädagogischen Anstrengungen in ihrem jeweiligen Kontext gerecht wird noch den (religions-)pädagogischen Ambitionen des Weltethos-Programms.