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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

103 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Braunwarth, Matthias

Titel/Untertitel:

Gedächtnis der Gegenwart. Signatur eines religiös-kulturellen Gedächtnisses. Annäherung an eine Theologie der Relationierung und Relativierung.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2002. 319 S. m. Abb. gr.8 = Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik, 16. Kart. Euro 15,90. ISBN 3-8258-5912-6.

Rezensent:

Ingrid Schoberth

Die Aktualität des Themas, die Frage nach dem religiös-kulturellen Gedächtnis, bildet sich ab im Interesse unterschiedlicher Forschungsgebiete; auch die Theologie stellt sich dem Thema immer wieder neu. B. geht dem im Gespräch mit konstruktivistischen Theorien nach und sucht nach einer theologisch verantworteten Wahrnehmung des religiös-kulturellen Gedächtnisses in der Absicht, "die personal und sozial sinnstiftende, d.h. identitätsrelevante und kulturrelevante, Suche nach einer erneuerten Verhältnisbestimmung gegenüber Zukunft und Vergangenheit aus einem Ernstnehmen der Gegenwart heraus aufzugreifen" (19). Die Gegenwart wird auf ihr Gedächtnis hin befragt, indem aktuell gemachte Erfahrungen als organisiert durch ein religiös-kulturelles Gedächtnis verstanden werden.

Teil I greift verschiedene Theorien auf, um zu einer Wahrnehmung der Organisationsbedingungen des religiös-kulturellen Gedächtnisses zu gelangen: B. referiert die klassische Gedächtnisforschung (34-38), stellt die Ansätze des radikalen Konstruktivismus (39-89) dar, greift die soziologische Gedächtnisforschung am Beispiel der Überlegungen von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis auf (90-110) und vertieft diese Konzeption mit Jan Assmanns kulturtheoretischem Ansatz, der sich im Besonderen der kulturellen Identität des Volkes Israel zuwendet (111-202). Die hier entfalteten Theorien dienen dem Autor als Forschungstraditionen, die sowohl zur Erhellung des Gedächtnisphänomens beitragen, aber sich auch "als anschlussfähig an eine kritische Selbstvergewisserung des Christentums" (205) erweisen sollen. Teil II entfaltet das religiös-kulturelle Gedächtnis der Gegenwart als Modell für eine christliche Theologie der Relationierung und Relativierung (205- 291). Dabei geht es um eine zeitgemäße und strukturell funktional angemessene Erschließung des Offenbarungsgeschehens und der Entstehung des christlichen Glaubens "als ein Geschehen transzendierend kosmologischer Relationierung und Relativierung, welches sich unter den Organisationsbedingungen des Gedächtnisses vollzieht" (205).

Für ein Verständnis eines kulturverwobenen Christentums seien die Funktion und Struktur des religiös-kulturellen Gedächtnisses entscheidend. Es lasse sich als ein zweidimensionales Beziehungsgeschehen beschreiben: einmal als Konstruktion von Beziehungskonstellationen (Relationierung) und als je neue Annäherung an solche Beziehungskonstellationen (Relativierung). Diese grundlegenden Erörterungen werden umgesetzt in einer gedächtnisfundierten Theologie, mit der vor allem der Religionspädagogik neue Möglichkeiten der Reflexion zuwachsen sollen (282-291): Die Möglichkeitsbedingungen religiösen Tradierens werden durch die Wahrnehmung der Organisationsbedingungen des religiös-kulturellen Gedächtnisses anschaubar. Zugleich hat die Religionspädagogik damit die Chance, ein Verständnis von Offenbarung zu entwerfen, das die Wahrnehmung der religiösen Wirklichkeit von Lehrenden und Lernenden unterstützt. Im Anhang werden Gedächtnistypologien im Überblick vorgestellt, an denen der Leser die unterschiedlichen Gedächtniskonstruktionen des ersten Teils noch einmal nachvoll- ziehen kann.

Wirklichkeit, Realität und Konstruktion sind die bestimmenden Begriffe, die in der Komplexität des verhandelten Themas immer wieder durchscheinen und den Leser an die eigentliche Problematik heranführen. Manchmal meint man sich beim Lesen im Begriffsdschungel etwas zu verlaufen, da der Zugang zur Darstellung des religiös-kulturellen Gedächtnisses sehr komplex gewählt ist. Mit den im zweiten Teil tragenden Begriffen der Relationierung und Relativierung ist der Leser in derselben Weise gefordert, sich in der Komplexität der Begriffsbestimmungen zu orientieren. Die Arbeit zeichnet sich immer wieder als mühevolle Begriffsarbeit aus, was freilich durch die Forschungskontexte vorgegeben ist. Nicht immer ganz einsichtig ist der Status der Theologie, die bei B. vorwiegend rezeptiv erscheint: Damit kommt das, was die Theologie zum Thema beitragen kann, nur wenig zum Tragen. Die sehr informative Aufarbeitung der Gedächtnisphänomene bleibt zu würdigen wie auch die dezidiert praktisch-theologische Ausrichtung der Untersuchung, die der Religionspädagogik für ihre Bildungsaufgabe an der Schule vertiefende Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet: Einmal erinnert die Arbeit die Religionspädagogik an ihre Sache, die sie gerade nicht in der Lebenswirklichkeit der Schüler allein auffindet, sondern in der Überlieferung, aus der christliche Religion ihre Inhalte schöpft. Sie ermahnt die Religionspädagogik, das Lernen christlicher Religion als ein Kennenlernen von Geschichten zu begreifen, die im Gedächtnispotential christlichen Glaubens enthalten sind. Sie führt zugleich in die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen gegenwärtigen Unterrichts in christlicher Religion, sei es in der Jugendarbeit oder im Religionsunterricht, dem es um die Erprobung einer religiös-kulturell begründeten Identität gehen muss, damit deutlich bleibt, worauf sich christliche Identität stützt: "Ziel bleibt die Wahrnehmung von Beziehungsmustern (Relationierung) und Beziehungsveränderungen (Relativierung), in denen sich die eigene Person in der gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart mit einer christlich-religiösen Sinngebung wiederfindet" (288).