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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

97–100

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nord, Ilona

Titel/Untertitel:

Individualität, Geschlechterverhältnis und Liebe. Partnerschaft und ihre Lebensformen in der pluralen Gesellschaft.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 431 S. 8 = Öffentliche Theologie, 16. Kart. Euro 44,95. ISBN 3-579-05316-7.

Rezensent:

Dorothee Schlenke

Gesellschaftliche Modernisierungs-, Individualisierungs- und Enttraditionalisierungsprozesse haben die Konflikthaftigkeit von Liebesbeziehungen nicht nur spürbar gesteigert, sondern ebenso auch ihr faktisches Gelingen einem quasi-religiösen Idealisierungsdruck ausgesetzt. Der durch diese Prozesse und die begleitende Frauenbewegung initiierte Wandel des Geschlechterverhältnisses und die gegenwärtige gesellschaftliche wie kirchliche Diskussion um die Anerkennung pluraler Lebensgemeinschaften sind folglich auch in einer theologischen Deutung der Liebe und ihrer Lebensformen zu berücksichtigen. Dieser anspruchsvollen Aufgabe stellt sich die hier anzuzeigende Dissertation und zwar in einem konsequent interdisziplinären, sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven aufnehmenden Argumentationsgang. Mit diesem Ansatz wendet sich Ilona Nord einleitend (Kap. 1) gegen die von E. Beck-Gernsheim/ U. Beck (Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M. 1990) vertretene, soziologisch-funktionale Deutung der Liebe als moderner Nach-Religion (17-25), indem sie in der sozialphilosophischen Diskussion der Liebe als exemplarischer "Existenzweise moderner Individualität" (398) die religiösen Erfahrungsdimensionen der Liebe und ihrer Lebensformen und damit die Ansatzpunkte ihrer theologischen Deutung freizulegen sucht.

In dem umfangreichen Hauptteil ihrer Untersuchung entfaltet N. zunächst die konstitutive Bedeutung des Geschlechts bzw. des Geschlechterverhältnisses für eine moderne, individualitätsorientierte Anthropologie (Kap. 2) und rekonstruiert aus dieser geschlechtsspezifischen Perspektive anschließend (Kap. 3) wesentliche Dimensionen des Liebesbegriffes im Kontext gegenwärtiger Beziehungsdiskussionen. Inhaltliche Grundlage dieser beiden zentralen Kapitel stellen entsprechende Texte Georg Simmels und Paul Tillichs dar, ergänzt durch zeitdiagnostische Entwürfe der feministischen Sozialphilosophin Andrea Maihofer zum Verhältnis der Geschlechter und des Soziologen Anthony Giddens zur sozialpolitischen Interpretation moderner Liebesbeziehungen. Zusammenfassungen resümieren jeweils die Ergebnisse zu den Themenfeldern Geschlechterverhältnis und Liebe, orientiert an den grundlegenden Dimensionen Individualität, Sozialität und Religion (193-206 bzw. 349-372). Diese instruktiven "Zwischenbilanzen" tragen nicht nur wesentlich zum Verständnis der eindringlichen, z. T. jedoch recht verschlungenen Interpretationsgänge bei, sondern sie bereiten auch das abschließende Kap. 4 vor, in welchem N. beide Themenfelder im Sinne einer eigenen theologischen Deutung der Liebe und sozialethischen Reflexion ihrer Lebensformen zusammenführt.

Das moderne Geschlechterverhältnis (Kap. 2) sieht N. von Simmel, Tillich und Maihofer in unterschiedlicher Akzentsetzung als konfliktträchtig bestimmt: Während sich aus der kulturkritischen, lebensphilosophischen Sicht des späten Simmel (57 ff.79 ff.) gelingende Individualiät nur abseits der dissoziierenden Effekte gesellschaftlicher Modernisierung selbstnormierend qua "individuellem Gesetz" als "qualitative Individualität" zu realisieren vermag, intendiert Maihofer (152-192) die Vermittlung von sex (körperlicher Geschlechtlichkeit) und gender (soziokulturellen Geschlechtszuschreibungen) in einer "frauengerechte[n] Bestimmung geschlechtlicher Existenzweise" (157), welche sowohl faktisch gelebten Geschlechtsdifferenzen Rechnung trägt als auch die Rechtsgleichheit der Geschlechter im Postulat der "Gleichberechtigung in der Differenz" (158) einfordert. In dieser differenztheoretischen Bestimmung des Geschlechterverhältnisses verneinen sowohl Simmel als auch Maihofer die Vorstellung real gelingender Sozialität (202), verweisen gleichwohl zur Überwindung des Geschlechterantagonismus auf ein transzendierendes "erlösendes Drittes" (206): das "Leben" (Simmel) bzw. die "herrschaftsfreie Gesellschaft" (Maihofer). Tillich (87-151) konzipiert essentielles Menschsein als individualisierte, in seiner Existentialität gleichwohl nicht konfliktfreie Integration männlicher und weiblicher Polaritäten des Seins. Angesichts der zunehmenden Flexibilisierung der traditionellen Geschlechtergrenzen durch den Modernisierungs- und Differenzierungsprozess, sieht N. in dieser androgynen Anthropologie "das Modell moderner hochkomplexer Gesellschaften" (149).

Die Liebe (Kap. 3) versteht G. Simmel (207-256) als ekstatisch-momenthaftes individuelles Selbsterleben in hohem Maße ambivalent, insofern sie zwar einerseits durch die im Gefühl verbürgte "momenthafte Anschauung der lebendigen individuellen Integrität" (254) an der transzendenten Dimension des Lebens abseits aller rationalistischen Verzweckung partizipiert, in diesem transitorischen Erleben jedoch zugleich andererseits prinzipieller Unerschwinglichkeit der eigenen wie fremden Individualität gewiss wird.

Anschlussfähig für eine theologische Deutung erweist sich Simmels Liebesbegriff für N. in der "Reflexion der Bedeutung eines subjektiv erfüllenden Gefühls der Ebenbildlichkeit Gottes" (368). Anders dagegen A. Giddens (307-347), der aus den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen auch positiv einen entsprechenden "Wandel der Intimität" von asymmetrischen, auf Komplementarität angelegten Formationen romantischer Liebe (312 ff.) hin zu einer "demokratisierten Intimität" (333) folgert, welche als "reine Beziehung" auf demokratischen Prinzipien der Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit, Freiwilligkeit etc. beruhe (327 ff.) und durch wechselseitige Anerkennung je individuelle "emotionale Erfüllung" (343 f.) gewährleiste. Diese "demokratisierte Intimität" verbürge zwar keine dauerhaften Lebensgemeinschaften, wohl aber eine "überschaubare Zukunft der Beziehung" (363). Als Stärke von Giddens Sozialtheorie wertet N. ihre Offenheit für "egalitäre Beziehungsverhältnisse und deren Ressourcen für gelingende Intimität" (366), als Schwäche ihre selbstgenügsame Beschränkung der Liebe auf die Paarintimität.

Diese Beschränkung sieht N. in Tillichs (257-306) integrativem, ontologisch begründeten Liebesbegriff programmatisch durchbrochen: Als "die bewegende Macht im Leben" (268) artikuliert sich die Liebe in der existentiellen Zweideutigkeit allen Seins als "das Verlangen nach der Einheit des Getrennten" (281). Als "dialektische Bewegung des Geistes" (282) konkretisiert die Liebe zugleich die essentielle Dimension allen Seins durch fragmentarische Antizipation der Einheit des Getrennten, die sich in gelingenden Lebensformen zu objektivieren sucht. In der differenzierten Quaternität als Libido, Philia und Eros einerseits sowie alles bestimmender Agape andererseits werden Mensch und Gott durchgängig korreliert. Diese integrierende Komplexität des Tillichschen Liebesbegriffs, welche die vielfältigen lebensweltlichen Realisationen der Liebe und ihrer Lebensformen gleichermaßen in den Blick nimmt, macht ihn für N. zu einem "theologisch und sozialethisch fruchtbaren Ansatz" (260).

In ihren abschließenden Thesen für die christliche Sozialethik (Kap. 4) betont N. daher noch einmal die zentrale Bedeutung der Androgynie als "hochmoderne geschlechtsspezifisch reflektierte Anthropologie" (390), deren auch bei Tillich (vgl. 143 ff.) zu konstatierende Defizite N. in der Ausblendung faktisch gelebter, sozialpolitischer Geschlechtsdifferenzen sieht, wie sie sich insbesondere auch aus der regenerativen Geschlechtlichkeit von Frauen ergeben (390 f.). Hier gelte es mit A. Maihofer differenztheoretisch nachzubessern. Ein androgyn reflektierter Begriff der Liebe und ihrer Lebensformen hätte nach N. (385ff.) das ekstatisch-momenthafte Verständnis der Liebe als "Abenteuer" und "amour passion" (Simmel) mit dem romantischen Ideal intimer Lebensgemeinschaft so zu vermitteln, dass die individualitätsstiftende Kraft der Liebe (mit Simmel) nicht in einer individuellen Enklave verkümmert (gegen Simmel), sondern eine dauerhafte, Intimität und Öffentlichkeit verschränkende Sozialität initiiert, die sowohl der Autonomie moderner Individualität (Giddens) Rechnung trägt, als auch wirkliche Partizipation am geliebten Anderen (gegen Giddens) verbürgt. In der konstruktiven Wahrnehmung der damit verbundenen Spannungen und Ambivalenzen liegt nach N. mit Tillich der "Ort einer religiösen Rede von der Liebe" (399), denn in der "Zweideutigkeit" menschlichen Lebens werde die Unmöglichkeit ihrer selbsttätigen Vermittlung ineins mit der transzendierenden, ipso facto religiös verweisenden Kraft der Liebe erfahren. Die Leistung einer theologischen Deutung der Liebe und ihrer Lebensformen bestehe folglich darin, die Überwindung vielfältiger Entfremdung moderner Individualität durch reale Partizipation am Anderen, an der Welt und so letztlich am "Grund des Seins" symbolisierend und antizipierend zu ermöglichen (398). Ein vieldimensionaler Liebesbegriff Tillichscher Prägung wirke dabei sowohl entlastend als auch bereichernd, indem er den individuellen Vollzug der Liebe in der "vieldimensionaleren Bezüglichkeit menschlichen Lebens" (399) situiere. Dass es für eine solche theologische Deutung der Liebe auch einer entsprechenden Konzeption des Gefühlsbegriffes bedarf, konstatiert N. lediglich abschließend mit dem Verweis auf Schleiermacher (402, Anm. 1290).

Es ist zu bedauern, dass diese theologisch-sozialethischen Ausführungen N.s abseits ihrer Tillich-Interpretationen erklärtermaßen (26) hinter dem sozialphilosophischen Schwerpunkt ihrer Argumentation zurücktreten. Unbeschadet der Strittigkeit einzelner sozialethischer Schlussfolgerungen der Autorin bleibt es das Verdienst dieser Arbeit, in der gegenwärtigen Diskussion um die Pluralität von Lebensgemeinschaften überzeugende, hier nur partiell vorgeführte Anschlussmöglichkeiten einer theologischen Deutung der Liebe und ihrer Lebensformen aufzuweisen und damit zugleich zu zeigen, dass in dieser Frage theologische Anthropologie und Wirklichkeitsdeutung im Ganzen zur Diskussion stehen bzw. sich stellen müssen.