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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

93–96

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Drechsel, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus biographischer Perspektive.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 409 S. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 7. Kart. Euro 34,95. ISBN 3-579-03486-3.

Rezensent:

Uta Pohl-Patalong

Es zeichnet die gegenwärtige poimenische Debatte aus, dass man sich von sehr unterschiedlichen Seiten dem Gegenstand "Seelsorge" nähert und oft über einzelne Aspekte zu grundsätzlichen poimenischen Fragen vorstößt. Dies gilt auch für die Neuendettelsauer Habilitation von Wolfgang Drechsel, die in der Thematik "Lebensgeschichte" sowie der Aufmerksamkeit für die vielen großen und kleinen Lebens-Geschichten ihren Zugang zur Seelsorge findet. Die Arbeit verortet sich dezidiert in der kontrovers geführten Debatte um die Zukunftsfähigkeit des pastoralpsychologischen Paradigmas. In dieser nimmt sie insofern eine besonders interessante Position ein, als sie die kritische Auseinandersetzung (meist der jüngeren Generation) mit den pastoralpsychologischen Entwürfen konstruktiv aufnimmt, sich dabei aber pastoralpsychologisch versteht. Insofern lässt sich die Arbeit auch als Kritik der Kritik der Seelsorgebewegung lesen, wie es sie überhaupt auszeichnet, dass sie unterschiedliche inhaltliche Linien bietet, die auch jeweils für sich genommen von Interesse sind, wie beispielsweise die Frage nach dem Wesen von Seelsorge, das Verhältnis von christlicher Tradition und heutigem Leben oder die Frage nach Kollektivität in der individualisierten Gesellschaft. Material bietet das Buch eine in seiner Breite und Reflexionsfähigkeit beeindruckende Bearbeitung der Thematik "Lebensgeschichte". Damit folgt D. der Tendenz, Lebensgeschichte mit geschärfter Aufmerksamkeit zu begegnen, setzt aber einen eigenen Fokus auf das Erzählgeschehen in der seelsorglichen Begegnung. Diesem nähert er sich von unterschiedlichen Zugängen.

In einem vorläufigen eigenen Entwurf markiert der Autor seine Ausgangsposition: "Seelsorge hat das Ziel, daß das Gegenüber in der Seelsorge seine alten Lebengeschichten so neu erzählen kann, daß sie ihm zu Geschichten zum Leben werden" (15). D. verortet seinen Ansatz wie die gesamte Lebensgeschichtsthematik im gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart, den er unter dem Fokus der Individualisierung beschreibt. Diese fördere die Frage nach der Lebensgeschichte mit dem Zwang zur subjektiven Lebensführung, die der Selbstreflexion bedarf, und der Problematik einer gelingenden Identität, die ein Erinnern von Geschichte benötigt. D. versteht seinen Entwurf dabei durchaus als kritisches Gegenüber zur gesellschaftlichen Entwicklung der Gegenwart und teilweise auch zu postmodern geprägten Gesellschaftsdeutungen.

Während sich bei anderen poimenischen Entwürfen die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Dimension oft mit einer Abwendung vom oder zumindest mit einem Desinteresse am psychoanalytischen Paradigma verbindet, stellt D. gerade das Lebensgeschichtsmodell der Psychoanalyse in den Vordergrund und zeigt, dass dieses durchaus auf die Herausforderungen der Gegenwart zu antworten vermag, indem es mit seiner Aufmerksamkeit für die Geschichte die immer neue Arbeit an der Identität fördert. Dies ist durchaus ein interessanter Zugang, ich hätte mir hier allerdings eine klarere Benennung des Stellenwertes der Psychoanalyse für den Entwurf gewünscht: Einerseits betont D., dass dies ein mögliches Modell ist, das er exemplarisch bearbeitet, andererseits erhält es durch das Fehlen anderer Lebensgeschichtsmodelle und das Aufzeigen seiner Vorzüge eine Monopolstellung und wird faktisch quasi normativ.

Im zweiten Kapitel liegt der Fokus dann auf dem Erzählen der Lebensgeschichte. Dies wird im Fortgang der Ausführungen mehr als plausibel, denn gerade an dem Erzählakt lassen sich die wesentlichen Erkenntnisse zur Lebensgeschichte aufzeigen: Erst durch das Erzählen wird das Erlebte zu Lebensgeschichte und damit zu einem Text. Dieser ist zwar an das tatsächlich Geschehene gebunden, ist jedoch auch immer Deutung des Erlebten. Das lebensgeschichtliche Erzählen schafft neue Wirklichkeit und ist eine Neukonstitution des Subjekts. Hermeneutisch wird das Erzählgeschehen vor allem aber durch die Notwendigkeit des "Anderen" - zumindest als vorgestelltes, meist aber als reales Gegenüber - spannend. Über die Aufgabe des Zuhörens hinaus haben (systemisch inspiriert) nach D. die Wirklichkeitsinterpretationen des "Anderen" Einfluss auf die Konstruktion des lebensgeschichtlichen Textes. Gleichzeitig ist auch die Lebensgeschichte des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin Teil des seelsorglichen Geschehens und wird potenziell ebenfalls neu ausgelegt.

Von der horizontalen Ebene des Erzählgeschehens schreitet der Gedankengang fort zur vertikalen Ebene, indem er die lebensgeschichtliche Perspektive theologisch bearbeitet. Die theologische Perspektive ist nach D. der Lebensgeschichtsthematik inhärent, insofern in der Lebensgeschichtsthematik die Selbsttranszendenz des Menschen zum Ausdruck kommt, die "Ausdruck von etwas Religiösem" (232) ist. Die grundsätzliche religiöse Dimension von Lebensgeschichte zeige sich in dem "Verwiesensein auf den konkreten Anderen", in der "zugesprochenen Identität als Einheit in, mit und unter Pluralität und Fragmentarischem" und "im Transzendentwerden des Andern auf den Grund des eigenen Lebens hin" (239). Dies gilt auch dann, wenn keine explizit religiösen Inhalte im Gespräch benannt werden.

In einem dritten Schritt wird die christliche Tradition aus lebensgeschichtlicher Perspektive bearbeitet. Hier nimmt D. hermeneutisch eine interessante und m. E. wirklich weiterführende Bestimmung vor: Er versteht die Überlieferungsgeschichte des Christentums als kollektive Lebensgeschichte und kann damit jegliches theologische Reden in struktureller Analogie zum lebensgeschichtlichen Erzählgeschehen begreifen. Dies wird exemplarisch an einigen dogmatischen Topoi (Rechtfertigung, Sünde, Imago Dei und Trinität) durchgeführt, deren aktuelle Relevanz auf diese Weise in neuer Perspektive zum Ausdruck kommt. Vom Lebensgeschichtsthema aus begreift D. die Bibel in neuer Weise, aber auch die Kirche als Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft, die in ihrer eigenen Lebensgeschichte die Lebens- und Liebesgeschichte Gottes in jeder Zeit vergegenwärtigt. Auch diese steht in jedem Seelsorgegeschehen auf dem Spiel und wird in diesem neu weitererzählt - hier ergeben sich diskussionswürdige Konsequenzen für den Offenbarungsbegriff. Das Verständnis der christlichen Überlieferungsgeschichte als kollektiver Lebensgeschichte hat aber nicht nur eine theologische, sondern auch eine grundlegend anthropologische Dimension als Lebensgeschichte einer Gemeinschaft, die die Grenzen individueller Lebensgeschichten überschreitet, aber an der die Lebensgeschichten der Mitglieder dieser Gemeinschaft Anteil haben. Hier führt der Gedankengang zurück zur Gesellschaftsanalyse: Gerade in einer Zeit biographischer Unsicherheit kommt der Dimension einer kollektiven Lebensgeschichte hohe Bedeutung zu, denn diese kann ein Fundament für die eigene biografische Arbeit bilden. Benennt D. dies als "positiven Fundamentalismus", reflektiert er durchaus die Gefahr, von hier aus in einen "Fundamentalismus im geläufigen Sinne" abzurutschen und benennt überzeugend die Möglichkeit, subjektive Elemente der kollektiven Lebensgeschichte auszuwählen und sich kritisch gegen andere abzugrenzen, als grundlegendes Kriterium. Offen bleibt jedoch die Frage, wie sich dieses Verständnis der christlichen kollektiven Geschichte als Fundament lebensgeschichtlicher Arbeit zu der Tatsache verhält, dass wir längst in einer multireligiösen Gesellschaft leben und sich daraus wesentliche Herausforderungen des Zusammenlebens ergeben, die eng mit Identitätsfragen verbunden sind.

Das letzte Kapitel bietet dann einen eigenen Entwurf, Seelsorge aus lebensgeschichtlicher Perspektive neu zu verstehen: sympathisch dezidiert nicht als eine neue Konzeption mit Alleinvertretungsanspruch, sondern als "Sicht von Seelsorge von einem spezifischen und klar benennbaren Standpunkt aus" (307), der aber nicht zufällig gewählt, sondern theologisch wie soziologisch von fundamentaler Bedeutung ist. Es geht D. um eine grundlegende "Aufmerksamkeit auf Lebensgeschichtliches, das im seelsorgerlichen Gespräch auftritt" (310). Das in der jeweiligen Situation Erzählte wird dabei als das Entscheidende betrachtet und nicht nach einem dahinter liegenden Problem oder Konflikt als dem Eigentlichen gefragt. Dabei geht es explizit um die Lebensgeschichte des Seelsorge suchenden Menschen, gleichzeitig sind aber auch die Lebensgeschichte des Seelsorgers bzw. der Seelsorgerin und - durch den "Rahmen Seel- sorge" - die christliche Religion und mit ihr die Lebensgeschichte Gottes im Spiel. Damit die Aufmerksamkeit des Seelsorgers aber ganz auf der Lebensgeschichte des Gegenübers liegen kann und er die Seelsorge-Situation nicht zum "heimlichen Sich-Erzählen" missbraucht, plädiert D. für ein vorgängiges "Satterzählen" in der Seelsorgeausbildung im Rahmen einer "Lehrseelsorge". Nicht zufällig kommt er abschließend zu Ausbildungsfragen, denn wie sich die Seelsorgebewegung ganz wesentlich in der seelsorgerlichen Aus- und Fortbildung niedergeschlagen hat, wird auch gegenwärtig die Ausbildungsfrage neu gestellt. D. plädiert für eine "posttherapeutische[n] Theologie" (331), die sich jenseits des medizinisch-therapeutischen Paradigmas verortet, aber die Errungenschaften der Seelsorgebewegung - die durch Ausbildung und Supervision geschulte seelsorglichen Kompetenz, die die Arbeit an der eigenen Person einschließt - behält.

Die Arbeit zeichnet sich auch insgesamt durch das Bemühen einer Verbindung von Reflexion seelsorglicher Praxis aus, in der die langjährigen Erfahrungen D.s einfließen, und konzeptionell-theoretischen Überlegungen. Dies überzeugt vor allem im ersten Teil, bei dieser Anlage hätte ich im konzeptionellen Teil eine Verbindung zur Praxis allerdings ebenfalls sehr reizvoll gefunden. Dennoch dürfte die Arbeit auch für die an Reflexion und konzeptionellen Überlegungen interessierten Praktikerinnen und Praktiker lesenswert sein (auch wenn sie gewisse Redundanzen und Wiederholungen enthält). Für die Seelsorgetheorie stellt sie in jedem Fall einen wichtigen Ansatz da, der in ganz verschiedener Hinsicht interessante Diskussionslinien eröffnet und das Lebensgeschichtsthema für die Seelsorge unhintergehbar bearbeitet.