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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

90–93

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Marx, Reinhard, u. Helge Wulsdorf

Titel/Untertitel:

Christliche Sozialethik. Konturen - Prinzipien - Handlungsfelder.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius 2002. 449 S. 8 = AMATECA, 21. Kart. Euro 34,90. ISBN 3-89710-203-X.

Rezensent:

Friedrich Heckmann

Mit ihrer Christlichen Sozialethik haben Reinhard Marx und Helge Wulsdorf im Jahr 2002 ein Lehrbuch christlicher Sozialethik vorgelegt, das sich einerseits rational nachvollziehbarer Argumentation und andererseits "der kirchlichen Sozialverkündigung" - der der römisch-katholischen Kirche - verpflichtet weiß (13). Wie stark die Autoren ihre "Christliche Sozialethik" als Sozialethik der Kirche verstehen, zeigt sich in den "Einleitenden Bemerkungen", die eine in aller Kürze (15-19) diagnostizierte Konjunktur der Ethik in unserer Zeit aufnehmen, um die Aufgabe der Sozialethik im Gegenüber zur Gesellschaft zu beschreiben. Die "Christliche Sozialethik" weiß sich in den Auftrag und Dienst der Kirche an der Gesellschaft eingebunden. Mit ihrer Hilfe kann die römisch-katholische Kirche sich Wege im Umgang mit der säkularisierten Gesellschaft erschließen. Im Auftrag der Kirche tritt die Sozialethik in den Gesellschaftsdiskurs ein, nachdem sie sich ihrer eigenen Konturen vergewissert hat.

Diese Selbstvergewisserung, "Konturen einer spezifisch christlichen Sozialethik", nehmen die Autoren in einem ersten großen Teil ihrer "Christlichen Sozialethik" vor, ehe sie sich den Grundlagen der christlichen Sozialethik in Teil II zuwenden (22-53). Teil III entfaltet die "Christliche Sozialethik" dann als vernunftorientierte Prinzipienethik (56-145). Auf dem Feld der Bereichsethiken entfaltet der vierte Teil ausgewählte Handlungsfelder von der Politischen Ethik ausgehend bis hin zur Medienethik.

Die Konturen einer spezifisch christlichen Sozialethik lassen sich in vier Linien nachzeichnen: erstens die "Christliche Sozialethik" als Wissenschaft, zweitens von der Motivation des Sozialethik treibenden Subjekts her (der christliche Glaube als Motivation des Sozialethikers und der Sozialethikerin), drittens von ihrer Bestimmung als "Glaubenswissenschaft", die auf "Weltwissenschaft" hin ausgerichtet ist - eine durchaus schwierige nicht entfaltete Unterscheidung -, und viertens von einem Selbstverständnis der "Christlichen Sozialethik" als "Theologie der gesellschaftlichen Belange" (51-53). In dieser Funktion ist Sozialethik (Mit-)Gestalterin, Beraterin, Vermittlerin und Anwältin und sie kann diese Funktion nur mit einer Könnens-Ethik erfüllen, die mehr sein will als eine Sollens-Ethik. Eine Theologie der gesellschaftlichen Belange ist den Autoren nach eher eine Ethik der praktischen Urteilskraft denn eine Prinzipienethik. Sie relativieren dies aber im nächsten Moment, indem sie zunächst mit Hinweis auf Franz-Xaver Kaufmann Ethik als urteilsbegründend und urteilsbildend ausgewiesen haben und danach dennoch die Notwendigkeit einer Prinzipienethik betonen. So ist es kein Zufall, dass die Autoren diesen Teil, der auch die Wissenschaftlichkeit, die Interdisziplinarität, die Handlungsbezogenheit der Sozialethik und ihre Analysefähigkeit und Methodologie thematisierte, mit einem Hinweis auf die normative Aufgabe von Sozialethik schließen. Um die prinzipiengeleitete Normativität "Christlicher Sozialethik" stark zu machen, entfalten die Autoren in einem II. Teil die Grundlagen der christlichen Sozialethik.

Zu den Grundlagen gehören wieder vier Punkte: das christliche Menschenbild, der Glaube an Jesus Christus als Sinnvorgabe für die Sozialethik, das Selbstverständnis der Kirche und die aus dem Glauben kommende Kraft der Gesellschaftsgestaltung.

Der Pluralismus wissenschaftlicher Erkenntnisse und Auffassungen vom Menschen bringt aber die "Christliche Sozialethik" auch durch die "sogenannten Humanwissenschaften" (60), so meinen die Autoren, in zunehmende Schwierigkeiten. In einem philosophischen Rekurs fragen sie nach Konstanten ideengeschichtlicher Ansichten und werden bei Scheler, Plessner und Gehlen fündig. Erst in einem zweiten Schritt bemühen sie sich um eine biblisch-theologische Grundlegung der Anthropologie mit Hilfe der theologischen Kategorie der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Sie bringt den speziellen Eigenwert des Menschen zur Sprache. Philosophisch wollen die Autoren die Sonderstellung des Menschen begründet sehen. Ob die daraus sich ergebende theologisch-philosophische Anthropologie dem biblischen Befund gerecht werden kann, darüber hinaus aber vor allem eine Ethik ist, die in der ökologischen Krise an der Zeit ist, bezweifele ich.

In einem zweiten Schritt theologischer Reflexion der menschlichen Selbstwerdung verweisen die Autoren auf die Verwirklichung wahren Menschseins durch Jesus Christus und begründen so den Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität. Der sich daraus ergebende Einsatz aus dem Glauben für die Gesellschaft realisiert sich in dem Anspruch der Kirche, das neue Leben in Jesus Christus sichtbar zu machen. So verkörpert (römisch-katholische) Kirche den Anspruch Jesu in der Welt (94). Die Bedeutung der real existierenden Kirche in ihrer Auffassung, diesen Anspruch Jesu zu verkörpern und Gesellschaft zu gestalten, wird deutlich in einem umfangreichen "Kompendium sozialethischer Entwicklungslinien" (114-145), die "Die Sozialverkündigung der Kirche" seit 1891 referiert und in das Kapitel von der "sozialethischen Kompetenz der Kirche in der Welt" mündet.

In Teil III kommen die Autoren dann zu dem Kernstück ihrer Sozialethik, der Entfaltung einer vernunftorientierten Prinzipienethik (148-195), wobei sie Prinzipien als "Generalformeln" verstanden wissen wollen, die "Zielrichtungen" und den Handlungsnormen ihren Sinn vorgeben. Generalformel und Handlungsnorm bedingen sich. Sie sehen in der Sozialethik keine Einigkeit, fügen ihrerseits dem Prinzip der Gerechtigkeit und den traditionellen katholischen Sozialprinzipien - Personalität, Solidarität, Subsidiarität - das Sozialprinzip der Nachhaltigkeit hinzu. Interessant scheint mir die Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs durch die Autoren. Sie sehen durch die Verortung der Gerechtigkeit in einem "Prinzipienkanon" mehr Fragen aufgeworfen als beispielsweise durch das "Prinzip" der Solidarität. Dass sie sich an dieser Stelle quer zum gegenwärtigen philosophischen Diskurs bewegen, wird nicht erwähnt; nicht die Gerechtigkeit ist das Problem bei der Diskussion normativer Grundlagen, sondern Solidarität und mit ihr auch die Subsidiarität. Letztlich ist auch die hier vorgelegte Diskussion der Personalität (154-156) als prinzipieller Ausgangs- und Zielpunkt der Sozialethik in der von den Autoren aus ihrer philosophisch-theologischen Tradition hergeleiteten Normativität Ausdruck eines katholischen Sonderweges in der Begründung normativer Grundlagen in der Ethik (vgl. die neuere Diskussion durch O. Höffe, K. Bayertz, U. Steinvorth). Die Aufnahme des Nachhaltigkeitsprinzips ist eine logische Konsequenz der Autoren aus der ökologischen Krise, zeigt aber auch wiederum die Grenzen der Konstruktion des "Prinzipienkanon" ausgehend von der menschlichen Person und wieder zur Personalität hinführend. Der Versuch, die ökologische Frage mit Hilfe des Nachhaltigkeitsgedankens "in den Rahmen des sozialethischen Prinzipientraktats" zu integrieren, ist im Rahmen des Traktats eine wichtige Korrektur, bleibt aber im allgemeinen ethischen Diskurs vermittlungsbedürftig (187-195).

In dem vierten Teil ihrer "Christlichen Sozialethik" widmen sich die Autoren ausgewählten Handlungsfeldern der Ethik. Dieser umfangreiche Teil macht etwa die Hälfte des nahezu 450-seitigen Werkes aus. Die Autoren suchen in den von ihnen ausgewählten sozialethischen Anwendungsbereichen die erarbeiteten theoretischen Grundlagen mit praktischen Fragestellungen konstruktiv zu verbinden (198). Sie beschränken sich dabei auf die ihrer Ansicht nach zentralen Bereiche von Politik, Recht, Wirtschaft, Umwelt, Technik und Medien. Die Vielfalt derzeitiger Bereichsethiken wird damit für den Leser und die Leserin sinnvoll eingegrenzt, allerdings stellt sich die Frage, warum sie unter diesen zentralen Bereichen nicht auch andere "Bereichsethiken" subsumieren, um studentischen Lesern und Leserinnen einen besseren Überblick zu ermöglichen und einen Systematisierungsvorschlag anzubieten.

In den sechs einzelnen Handlungsfeldern gehen die Autoren so vor, dass sie nach einer Aktualisierung Hinweise auf die Tradition, auf biblische Bezüge und die lehramtliche Verkündigung der katholischen Kirche geben, um schließlich Schlüsselbegriffe des jeweiligen Handlungsfeldes zu erläutern. Damit werden sie ihrem Anspruch gerecht, Überlegungen zu einer ersten grundlegenden Orientierung über zentrale ethische Problemfelder zur Verfügung zu stellen, die dem Leser und der Leserin mit Hilfe der angegebenen Literatur ein vertiefendes Selbststudium ermöglichen.

Auf den letzten neun Seiten des vierten Teils benennen die Autoren dann abschließend die "Herausforderungen der christlichen Sozialethik für das dritte Jahrtausend" (410-418). Gemeint sind natürlich Herausforderungen an die christliche Sozialethik, die sich einerseits der Globalisierungsproblematik und andererseits dem ökumenischen Dialog zu stellen hat, der auf einen "differenzierten Konsens" zielen sollte. Als positives Beispiel benennen die Autoren gemeinsame kirchliche Stellungnahmen des Kirchenamtes der EKD und des Sekretariates des DBK. Ich frage mich allerdings, ob diese ein so gutes Beispiel sinnvoller gemeinsamer sozialethischer Reflexion sind. Bei solchen Konsenspapieren scheint mir doch z. T. Zweifel an der Sinnhaftigkeit angebracht, ich erinnere nur an eines der frühen Papiere "Grundwerte und Gottes Gebot" (1979). Auf dem Weg zu einer ökumenischen Sozialethik scheint mir eher das Symposium zur evangelischen und katholischen Sozialethik zu sein. Vgl. hierzu u. a.: Solidarität ist unteilbar, hrsg. v. Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Kevelaer 1997, 378-464.

Als weiteres positives Beispiel eines gelungenen ökumenischen sozialethischen Gesprächs werten die Autoren ihr Lehrbuch: "dass neben katholischer genauso evangelische Literatur verwendet wird" (416). - Warum die Autoren Ernst Troeltsch mit seinem bedeutenden Werk "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" in einer englischen Ausgabe von 1992 aufführen, bleibt wohl ihr Geheimnis.

Dies aber, so scheint mir, sind doch noch beileibe kein Anzeichen dafür, dass wir auf "dem Weg zu einer ökumenischen Sozialethik seien" (414), insbesondere dann nicht, wenn evangelische Sozialethiker wie Rendtorff und Tödt, Frey und H. G. Ulrich, Ringeling, Ruh und Strohm als ökumenische Gesprächspartner in diesem Band fehlen. Seltsam berührt es den protestantischen Leser, wenn ausgerechnet auf Martin Honecker so hingewiesen wird, dass er seinen "Grundriß der Sozialethik" "nur den verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen gewidmet" habe, eine "systematische Darstellung von sozialethischen Grundlagenfragen und gesellschaftlichen Applikationsfeldern ... sich derzeit nicht" finde. (199) Gerade die systematische Entfaltung und Darstellung seiner Sozialethik in einer Güterlehre ist Honeckers (kulturprotestantisches) Anliegen.

Insgesamt aber liegt mit dieser "Christlichen Sozialethik" ein Studienbuch vor, mit dem katholische Studierende sich in die Sozialethik einarbeiten können und für ihre Weiterarbeit oder Vertiefung viele gezielte Hinweise erhalten. Evangelische Positionen lernen sie dabei eher weniger kennen.