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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

85–90

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

1) Hoppe, Thomas 2) Saberschinsky, Alexander

Titel/Untertitel:

1) Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und Partikularitätsverdacht. 2) Die Begründung universeller Menschenrechte. Zum Ansatz der Katholischen Soziallehre.

Verlag:

1) Stuttgart: Kohlhammer 2002. 236 S. gr.8 = Theologie und Frieden, 17. Geb. Euro 29,80. ISBN 3-17-015585-7. 2) Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2002. 547 S. gr.8 = Abhandlungen zur Sozialethik, 45. Kart. Euro 72,80. ISBN 3-506-70245-9.

Rezensent:

Jörg Dierken

Die Menschenrechte rücken zunehmend ins Blickfeld der Theologie. Dies geht mit deutlichen Einstellungsverschiebungen einher - und zwar auf evangelischer wie auf katholischer Seite. Hier ähnelt der Einstellungsschwenk nahezu einer Wende. Wurden die Menschenrechte zur Zeit ihrer Proklamation noch in direkten Zusammenhang mit "Säkularismus, Indifferentismus" und antiklerikalem "Laizismus" gebracht und galten "als mit dem Selbstverständnis der Kirche unvereinbar" (Saberschinsky, 388), so hat sich dies in der neueren Theologie- und Kirchengeschichte umgekehrt. An die Stelle des Programms: "Keine Freiheit für den Irrtum" (396 u. ö. [zit. Isensee]) tritt eine klare Wertschätzung der Menschenrechte. Sie avancieren geradezu zu einem Äquivalent für die im Gottesglauben verwurzelte Anthropologie. In dieser Funktion sollen sie die Allgemeinheit christlich-ethischer Gehalte extra muros ecclesiae repräsentieren. Dies lässt Fragen nach dem Verhältnis zwischen der Partikularität ihrer theologisch-ethischen Begründung und der Universalität ihrer religionsübergreifenden Geltung aufkommen.

Daneben treten Fragen nach der inneren Systematik der Menschenrechte. Hier geht die Debatte um das Verhältnis von freiheitsgewährleistenden Abwehrrechten (erste Generation der Menschenrechte) und gerechtigkeitsorientierten Teilhaberechten (je nach Zählung des Sklavereiverbots: zweite oder dritte Generation). Diese Debatte verschränkt sich mit dem Streit um ein westlich inspiriertes, klassisches Menschenrechtsverständnis, das die Freiheitsrechte des Individuums in Eingriffsabwehr umsetzt: Ihm werden andere Menschenrechtskonzepte gegenübergestellt, die das Individuum von übergeordneten Sozialstrukturen her wahrnehmen.

Diesen Fragen widmen sich die aus katholisch-theologischer Feder stammenden Studien von Thomas Hoppe und Alexander Saberschinsky. Indem beide den Bemühungen der katholischen Theologie bzw. kirchlichen Soziallehre um gedankliche Grundlegung und praktische Umsetzung der Menschenrechte nachgehen, verwickeln sich beide in eine unausweichliche Dialektik. Aufgespannt ist sie zwischen dem besonderen historisch-religiösen Ort, von dem die Grundlegung der Menschenrechte ihren Ausgang nimmt, und dem allgemeinen Geltungsanspruch der Menschenrechte, also ihrer Universalitätsdimension. Bei H. drängt sich diese Dialektik stärker von praktischen Realisierungsproblemen aus auf, bei S. eher von Fragen nach einer heutigen theologischen Fundierung. Durch diese Dialektik exemplifizieren die beiden Studien zum christlichen Menschenrechtsverständnis zugleich ein generelles Problem. Für ihre Beurteilung fragt sich nur, inwieweit sie reflektieren, was sie tun.

Die aus einer Münsteraner Habilitationsschrift hervorgegangene Arbeit des nunmehr an der Hamburger Universität der Bundeswehr lehrenden H. bezweckt eine Klärung des Zusammenhangs, der "zwischen der Wahrung der Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl, der Garantie größtmöglicher damit vereinbarer Freiheitsräume und der Gewährleistung eines sozialen Mindeststandards" (17) waltet. Damit ist der Menschenrechtsgedanke gegenüber dem klassischen Abwehrrecht weit aufgefächert. Für eine innere Ordnung dieser schnell konkurrierenden Zielrichtungen habe eine sozialethische "Vorzugsregel" zu sorgen (19). Über sie müsse Einverständnis erzielt werden, und zwar angesichts von schweren Menschenrechtsverletzungen gleichsam als kontrafaktische Normativität. Zurückhaltung gegenüber Letztbegründungen ermögliche dabei Zustimmung aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Kontexten. Gleichwohl seien in christlicher Perspektive die Menschenrechte schöpfungs- und bundestheologisch zu fundieren. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen und der Heilswille Gottes seien sodann in sozialethische Gerechtigkeitsgrundsätze zu überführen, die der "Sündhaft[igkeit]" sozialer Systeme durch "elementare Rechtsstandards" entgegenwirken (26 f.). Dieses einleitend skizzierte Programm (13-28) bearbeitet H. in fünf Schritten.

In einem ersten Schritt (29-67) werden in historischen Fallstudien u. a. zur Religions- und Gewissensfreiheit Konflikte beschrieben, die sich aus Kollisionen dieser individuellen Freiheit mit "Interessen und Ansprüchen Dritter oder des Staates" ergeben können (61). Gemeint ist etwa das Toleranzgebot angesichts wenig staatstragender Religionsbekenntnisse; im Blick auf die Kirche kommen Konstellationen von Wahrheitsdurchsetzung angesichts unwahrer religiöser Positionen zur Sprache. Überlegungen zu den Debatten um Wehrdienstverweigerung aus ethischen Motiven führen sodann an die nähere Gegenwart heran. Den beschriebenen Konflikten sei mit den Mitteln eines um Epikie (Billigkeit) erweiterten sekundär-naturrechtlichen Erkenntnisverfahrens zu begegnen. In einem zweiten Schritt (69-90) erörtert H. sodann "Vorschläge zur Abmilderung des Kohärenzproblems", das sich aus dem menschenrechtlichen Erfordernis des geregelten Ausgleichs von konfligierenden Ansprüchen ergibt. Eine im strengen Sinn umfassende und kohärente Theorie der Menschenrechte erachtet H. jedoch für nicht konzipierbar. Diese ähnele eher einem "System offener Sätze" (89). Mit einem solcherart offenen Menschenrechtskonzept geht H. in seinem nächsten Schritt (91-141) das Problem der interkulturellen Strittigkeit von Grundlegung und Regelungsweite der Menschenrechte an. Während ein westliches - und z. T. auch christliches- Menschenrechtsdenken von der Würde des Individuums ausgehe und diese in Freiheitsrechte ausfälle, konzentrierten sich andere Kulturkreise auf ein von empirischen Gruppen- und Sozialbeziehungen hergeleitetes Verständnis des Menschen und fassten die hieraus abgeleiteten Rechte als Partizipationsrechte, teils gar auch als Pflichten gegenüber dem Kollektiv. Überdies werde hier aus sozio-kulturellen und religiösen Gründen gar die soziale Gleichheit aller Menschen in Frage gestellt, etwa im Blick auf Frauen oder Kastenlose. Schließlich stoße die für die westliche Konzeption maßgebliche Trennung von Religion, Politik und Recht z. T. auf programmatische Ablehnung, vor allem im islamischen Kulturkreis. Pikanterweise werde all dies gelegentlich mit einem menschenrechtlich begründeten Kulturschutz legitimiert. Von den diskutierten Gegenstrategien - normative Modernisierung nach westlichem Muster, minimalistische Reduktion der Menschenrechte um maximaler Zustimmung willen und Abstufung menschenrechtlicher Kernbereiche mit Ausstrahlungskraft auf Randzonen - löse letztlich keine das Universalisierungsproblem. Ihm widmet sich H. im folgenden Schritt (143-178).

Ausgehend von einer gleichsam "existentiellen Letztbegründung" der Menschenrechte angesichts der kulturübergreifend gleichbewerteten Erfahrung von "verabscheuungswürdige[m] Unrecht" (151.146) beschreibt H. ein lose zusammenhängendes Bündel von Strategien, um der für richtig befundenen, also eigenen menschenrechtlichen Entschiedenheit zu universaler politischer Realität zu verhelfen. Dieses Bündel reicht von der Suche nach ethischen Äquivalenten zum Menschenrechtsgedanken in anderen Kulturen über die Verstärkung des politischen Drucks durch Konzentration der Kräfte gegen "besonders gravierende" Menschenrechtsverletzungen (158) bis hin zu politischer Stärkung internationaler Strukturen zur Durchsetzung von Menschenrechten. Kirchen und anderen Verbänden komme dabei eine besondere Aufgabe zu - gerade auch bei der öffentlichkeitswirksamen Präsenz an den Orten der Barbarei. Von einer "kontextuellen Sozialtheologie" (178) ausgehend, widmet sich H. in seinem letzten Schritt (179-204) den Verletzungen und Realisierungen der Menschenrechte: Sie werden als "Themen christlicher Theologie" behandelt. Von dem "ethischen Imperativ" der Leidvermeidung (180) aus werden auf gut 20 Seiten die Theodizeethematik und die eschatologische Friedenshoffnung abgehandelt.

Das Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zwar sind viele Problem- und Konfliktbeschreibungen plausibel. Aber es erhebt sich die Frage, ob das Konzept eines Systems offener Sätze nicht zu wenig und zu viel zugleich intendiert: Zu viel, weil es den Menschenrechtsgedanken inflationär auf eine tendenziell grenzenlose Fülle von Leidens- und Unrechtstatbeständen ausweitet, und zu wenig, weil es eben damit eine klare rechtssystematische Struktur der kontrafaktischen Normativität der Menschenrechtsidee hintertreibt. Gerade die von H. beschriebene Zerreibung zentraler Gehalte der klassischen Menschenrechtsidee durch menschenrechtlich legitimierten Kulturschutz lässt Skepsis gegen solche Ausweitungstendenzen aufkommen. Zu wenig und zu viel zugleich: Diesen Eindruck erzeugen auch die ethischen und theologisch-dogmatischen Gedanken. Sosehr dem induktiven und konfliktorientierten Analyseansatz zuzustimmen ist, so sehr schlägt die anfängliche normative Zurückhaltung in den abschließenden fundamentaltheologischen Eindämmungsversuchen der Negativität allen Leidens in ein Pathos des ethischen Appells und der theologischen Paränese um.

Im Unterschied zu dem aus recht unterschiedlichen Einzelstücken zusammengefügten Mosaik H.s verficht Saberschinsky in seiner Trierer Dissertation durchgängig eine steile These: Einzig ein am Naturrechtskonzept des Aquinaten ausgerichtetes Menschenrechtsverständnis erlaube es, eine unverkürzte theologische Begründung der Menschenrechte mit ihrer menschheitlichen Universalität zusammenzubringen. Und dieses Menschenrechtsverständnis bilde grundsätzlich die Fluchtlinie der neueren Kirchlichen Soziallehre ("KSL") - wenngleich sie ein wenig vom neuzeitlichen Geist der liberalen Ausrichtung auf das Individuum angekränkelt sei. Dies rühre von der neuscholastischen Umschmelzung der scholastischen Naturrechtslehre her. In Aufnahme von Tendenzen des neuzeitlichen Empirismus und Rationalismus sei dabei die Orientierung an einer empirisch abzulesenden, diesseitigen, aber gleichwohl invarianten Wesensnatur des Menschen an die Stelle seiner Ausrichtung auf das transzendente Ziel getreten. Demgegenüber sei auf Thomas zurückzugehen. Insofern Thomas das Naturrecht als zweckursächliche Teilhabe der Prinzipien des endlichen Lebens am ewigen Gesetz begreife, beinhalte das theologisch-naturrechtlich in gestufter analogia entis zum Ewigen gefasste Menschenrecht zugleich eine Einheit mit universaler Vernunft. Allerdings- und hier verschiebt S. massiv die Akzente des modernen Menschenrechtskonzepts wie auch die der neueren "KSL" - forderten die Menschenrechte einen Vorrang des "Gemeinwohls" (passim) vor dem Wohl der Einzelnen. S.s Darlegungen verbinden sich denn auch mit deutlicher Kritik am westlichen Menschenrechtskonzept. Diese Kritik teilt viele Einwände gegen die Menschenrechte aus der islamischen Welt. Freilich bleibt der Testfall unerörtert, was dieser Vorrang des Gemeinwohls im Konflikt etwa mit kollektivistischen und freiheitsbeschneidenden Praktiken besagt. Hier hält sich S. ebenso bedeckt wie im Hinblick auf Fragen nach den politisch-rechtlichen Gestalten der Menschenrechte.

S.s umfangreiche, mitunter weitschweifige und gelegentlich redundante Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Hauptteil (33-237) geht in vier Kapiteln der Entwicklung der Katholischen Soziallehre anhand lehramtlicher Dokumente nach. Rerum novarum (1891) von Leo XIII. (Kap. 1: 33-116), Quadragesimo anno (1931) von Pius XI. (Kap. 2: 117- 175), die Sozialverkündigung Pius' XII. (Kap. 3: 177-211) werden ausführlich referiert und mit einem Ausblick auf die Sozialverkündigung Johannes Pauls II. (Kap. 4: 213-237) verbunden. Diese fast einer kirchengeschichtlichen Dissertation entsprechenden Darlegungen zeigen vor allem an wirtschaftsethischen Aussagen des Lehramts - insbesondere zu Eigentum und Wohlstandsverteilung -, dass die "KSL" zunehmend von ständischen Sozialkonzepten abweicht, um sich einem eher liberalen Verständnis der Person und ihres Wohls als grundlegender sozialethischer Größe zuzuwenden. Rhetorisch zwar noch in Figuren wie Gottebenbildlichkeit und Christuserlösung verwurzelt, stütze sich dieses Personverständnis tatsächlich aber zunehmend auf die vorgeblich empirische Wesensnatur des Menschen. Aus ihr gehe die sozialethisch zu traktierende Natur der Sache hervor. Da dieses Personverständnis aber nicht im Sinne des mittelalterlichen Naturrechts durch eine in Gott gegründete objektive Teleologie geleitet sei, rekurriere es mit dem Rückgriff auf die essistentialistisch bzw. empiristisch verstandene Natur des Menschen auf seine Bedürfnisse. Sosehr von hier aus die neuzeitlichem Menschenrechte aufgenommen werden könnten, sosehr komme es zu einer "Überordnung der Person gegenüber der Gesellschaft" (190). Thomas hingegen setze "nicht beim Individuum an, sondern beim Sozialen" (198) - bis hin zum Eigentumsverständnis als einer Gretchenfrage der Menschenrechte.

Wenngleich S. sich nirgends von der "KSL" direkt distanziert - allenfalls von einigen ihrer prominenten Vertreter, so etwa O. Nell-Breuning (vgl. 336 u. ö.) - und wenngleich er sich immer wieder ihrer Autorität versichert, sucht er doch ihren liberalistischen Ansatz durch eine Kritik der naturrechtlichen Grundbegriffe zu korrigieren. Dem dient der zweite, systematische Hauptteil der Arbeit (239-513). Dessen erster Abschnitt (Kap. 5: 239-284) zeigt exegetisch überzeugend, dass zwischen Thomas' Naturrechtskonzeption, die auf einer teleologischen Ausrichtung auf das transzendente Ziel fußt, und der Naturrechtskonzeption der Neuscholastik mit ihrer Konzentration auf eine vorgeblich empirisch erhobene, gleichwohl "universelle menschliche Wesensnatur" (283) klare Differenzen bestehen. Vor diesem Hintergrund wird nochmals ein Blick auf die lehramtlichen Quellen geworfen (Kap. 6: 285-324). Darlegungen zum Verhältnis von Naturrecht und Seinsanalogie (Kap. 7: 325-366) führen zu dem Ergebnis, dass der Einzelne als Teil der auf Gott als causa finalis hin geschaffenen Menschheit zu verstehen sei - weshalb die "Begründung der Menschenrechte nicht bei den Rechten des Individuums ihren Ansatz haben" könne (357). Da die Individuen sich in das "Gemeinwohl als allen übergeordneter sittlicher Wert" "ein[zu]fügen" hätten, könne es auch keine "bedingungslose Gleichheit der Rechte" geben (358.364). Den Höhepunkt des Buches bildet das der Begründung der Menschenrechte gewidmete Kapitel (Kap. 8: 367-477). Angesichts des unterschiedlichen Gepräges der historischen Menschenrechtsdeklarationen - etwa des protestantischen der amerikanischen, des antiklerikalen der französischen (vgl. 386) -, aber auch angesichts der zwischen Freiheitssicherung und Teilhabegerechtigkeit schwankenden Ziele bedürfe es eines festen normativen Grundes der universalen Menschenrechte. Dieser sei allein im naturrechtlichen Ansatz zu finden. Kirchlich-theologische Begründung und universale Zustimmung kämen in ihm überein, da er "schlichtweg vernünftig" sei (401). Man mag fragen, warum dann noch beide Hinsichten zu unterscheiden sind. Offensichtlich wird die proklamierte Einheit universal-teleologischer Vernunft durch die Erfahrung einer "unaufhebbar[en]" kulturellen "Pluralität der Moralen" relativiert (420). Dies scheint für S. eine nichtpluralistische Fundierung der Menschenrechte in der einen metaphysischen Letztwahrheit erforderlich zu machen - wie auch immer das Verhältnis dieser Wahrheit zu den Instanzen ihrer empirischen Artikulation und empirisch-politischen Umsetzung gedacht sein mag. Prozedurale Bearbeitungen des Problems von einheitlicher Letztvoraussetzung und empirischer Vielheit greifen nach S. jedenfalls zu kurz. Denn, so unterstreicht S. etwa gegenüber K. O. Apels Transzendentalpragmatik, das transzendente Prinzip lasse sich nicht zum empirischen Faktum machen. Es sei dahingestellt, inwieweit dies überhaupt Apels Konzept trifft. Nicht überzeugend ist der Kern jenes Einwands, den S. sodann gegen alle Transzendentaltheorie ausweitet und insbesondere gegen Kant mobilisiert: Bei ihm sei die Vernunft als "ein Faktum unter anderen Fakten" gefasst (452)- und damit sogleich in ihrem Vernunftkern zerstört. An dieser Verkehrung des Vernunftprinzips zum bloßen Faktum habe alles konstruktiv auf Kant fußende Denken teil.

Eine solche Vermengung von Vernunft und Faktizität kann freilich Kant nur vorwerfen, wer wie S. den systematischen Ort der Kantischen Formel vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft verkennt und ihn flugs aus dem Kontext der Moralphilosophie in den der Erkenntnistheorie versetzt. Neben diesem groben Missgriff lässt S.s empiristisch-faktizitäre Deutung von Kants Vernunft kein Verständnis für deren aktual-reflexiven Charakter erkennen. Der Schluss (479-513) fasst S.s Gedankengang noch einmal zusammen und betont dabei die überzeitliche und universal gültige Einheitlichkeit der Begründung der Menschenrechte (primäres Naturrecht) bei gleichzeitiger Variabilität von deren konkreter Ausgestaltung (sekundäres Naturrecht). Die Leistung dieser Differenzierung hätte man freilich gern an einem Fall aus dem umstrittenen Feld der politisch-rechtlichen Umsetzung der Menschenrechte expliziert gefunden.

S.s Konzeption besticht durch innere Geschlossenheit. Deren Preis ist freilich eine Glättung von Problemen. Dies betrifft einmal die rechtliche Umsetzung der Gemeinwohlorientierung: Wie lässt sich ausschließen, dass im Namen des kulturell elastisch interpretierbaren Gemeinwohls individuelle Freiheitsrechte suspendiert werden? Zum anderen unterschlägt das als universal vernünftig proklamierte Naturrechtskonzept, dass es empirisch von partikularer Warte aus artikuliert wird: Wie ist damit umzugehen, dass seine vorgeblich alternativlose Vernünftigkeit sich keineswegs allgemeiner Zustimmung erfreut? S. sieht selbst, dass der Universalitätsanspruch der Menschenrechtsbegründung eine kontrafaktische Dimension besitzt. Eben darum sucht er von einer empirisch partikularen Position aus nach Begründungen, deren innere Konsistenz einen universalen Geltungsanspruch nach außen rechtfertigt.

Dieses Ansinnen ist von protestantischer Seite aus keineswegs zu kritisieren - ebenso wenig wie das Bemühen um eine konstruktive Verzahnung von Glaube und Vernunft. Allerdings ist Zurückhaltung gegenüber einer unmittelbaren Gleichsetzung von eigener Konzeptualisierung der Menschenrechte mit deren alternativlos-vernünftiger Universalität geboten. Denn eine exklusiv-religiöse Begründung der Menschenrechte muss inkludieren, dass diese als Rechte eben für alle gelten - unabhängig von Religion und Konfession. Dies darf allerdings nicht mit einer Ermäßigung ihres Konsistenzanspruchs und ihrer Unbedingtheitsdimension verwechselt werden. Deshalb konzentriert sich das protestantische Menschenrechtsdenken auf das Prinzip der Freiheit. Denn Freiheit ist unbedingt und darin selbstgründend; sie ist aber gleichermaßen die Freiheit aller. Die Zurückhaltung in Sachen Alleinvertretung der Menschenrechtsbegründung kommt mit der Bekräftigung in Sachen Begründungskon- sistenz und Geltungsunbedingtheit insofern überein, als für die protestantische Optik der Mensch als empirisches Wesen intrinsisch immer auch mehr ist, als faktisch der Fall sein mag: Hat er doch vermöge des Unbedingtheitsmerkmals der Freiheit an einem Charakter des Absoluten teil, freilich im Rechtsverhältnis stets in endlicher Weise. Denn das Rechtsverhältnis ist als ein Verhältnis des Ausgleichs zwischen empirisch verschiedenen Subjekten eo ipso auf Endlichkeitsverhältnisse bezogen. In guter ökumenischer Nachbarschaft mit den katholischen Bemühungen um die Menschenrechtsthematik akzentuiert ein protestantisches Konzept wohl die jede Empirie übersteigende Transzendenz menschlicher Würde, die zur Teilhabe am göttlichen Sein ausgezogen werden mag. Allerdings ist solche Teilhabe auf die immanenten Lebensverhältnisse zu beziehen - sei es als wechselseitige Transzendenz von eigener und fremder Freiheit, sei es als kontrafaktisch einklagbarer Schutz vor Verletzungen solcher Freiheit.