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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

81–84

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bedford-Strohm, Heinrich

Titel/Untertitel:

Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 503 S. gr.8 = Öffentliche Theologie, 11. Kart. Euro 35,95. ISBN 3-579-02626-7.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Bedford-Strohms Buch nimmt Bezug auf die kulturelle Identitätskrise, die Traditionsabbrüche, Säkularisierung bzw. Postkonfessionalität und den weltanschaulichen Pluralismus in der westlichen Gegenwartsgesellschaft. Zugleich thematisiert es Probleme des Selbstverständnisses von Staat, Kirche und Theologie, so wie sie sich unter diesen kulturellen Bedingungen stellen, und rückt einen theologisch-sozialethischen Freiheitsgedanken in das Zentrum, der Kommunikation ermöglichen und sozial-kulturellen Zusammenhalt stiften soll. Das 1998 abgeschlossene Buch ist von der in den 1990er Jahren relevanten Thematik Liberalismus versus Kommunitarismus geprägt. In diesem Zusammenhang referiert es den Denkansatz von Michael Walzer besonders wohlwollend (389 ff.). Walzer korrigierend weist der Vf. aber darauf hin, dass im derzeitigen Pluralismus ein Schritt über partikularistische Positionen hinaus von Nöten ist und man es auch nicht bei Walzers modifizierter, der Universalität durchaus zugewandteren Version eines Kommunitarismus und Partikularismus - "partikularistische Blickrichtung" mit "pluralisierender Tendenz" - belassen darf. Für die Grundlegung der Ethik, auch für die christliche Ethik sei es vielmehr unumgänglich, den Stellenwert und die tragende Bedeutung des ethischen Universalismus zu beachten.

Diesem Anliegen, kommunitaristische Engführungen hinter sich zu lassen, kann aus Sicht des Rez. nur zugestimmt werden. Erst die Akzeptanz universalisierbarer Moralprinzipien ermöglicht Diskurse und Konsensfindungsprozesse über eingegrenzt religiöse, konfessionelle, nationale oder regionale Kontexte hinaus. Aus gutem Grund distanziert sich der Vf. daher auch von der in problematischer Weise anti-neuzeitlich und vormodern bleibenden Moralkonzeption des Philosophen Alasdair MacIntyre (392 f.). Auf theologischer Seite wurden MacIntyres Intentionen von Stanley Hauerwas rezipiert. Dessen Denken verleitet jedoch zu binnenkirchlichen Reduktionismen und zu theologischen Abschottungen. Im Unterschied hierzu unterstreicht der Vf. sein Interesse an einem konstruktiven Dialog mit außerkirchlichen Positionen (32 f.).

Das vorliegende Buch ist weit ausgreifend angelegt. Es stellt die soziologischen Theorien zur Gemeinschaft bei den Klassikern Ferdinand Tönnies sowie Emile Durkheim dar, denn Gemeinschaft bildet in den Augen des Vf.s das Korrelat zu Freiheit und Kommunikation; sodann erörtert es moderne Individualisierungstheorien, thematisiert die theologische Interpretation von Liebe, und zwar sowohl im Spiegel der theologischen Literatur des 20. Jh.s als auch in der Entfaltung biblischer Aussagen, und plädiert für eine konstruktive Beteiligung der Kirche an den heutigen zivilgesellschaftlichen Debatten. Insgesamt wäre es dem umfangreichen Buch sicher zugute gekommen, wenn thematische Konzentrationen vorgenommen worden wären und auf manche Wiedergabe von Auffassungen einzelner Autorinnen oder Autoren verzichtet worden wäre. Davon abgesehen enthält es dann aber zahlreiche beachtenswerte Impulse. Es lässt die Vorbehalte, die in der neueren evangelischen Theologie gegenüber dem Individualitätsbegriff anzutreffen waren, hinter sich. Die Position evangelischer Anthropologie, der Mensch sei nur ein "Verhältniswesen" (E. Jüngel), dessen Individualität, Individuation oder persönliche Identitätsfindung nicht eigens thematisiert zu werden brauche, wird überwunden. Zu Recht wird auch Levinas' asymmetrische Anthropologie, die einen grundsätzlichen Vorrang des Anderen vor dem Ich behauptet, einer kritischen Analyse unterzogen (331 ff.410 f.). Stattdessen werden Nächsten- und Selbstliebe in ein Gleichgewicht gebracht (248 ff.) und traditionelle christliche Ideale der Selbstaufopferung überschritten (41.194.445). Ferner gelangt der wichtige, heutzutage unabweisbar gewordene Gedanke zur Sprache, dass ethisches Handeln nicht nur den unmittelbaren Nahbereich, sondern ebenso den Fernhorizont betrifft (285- 323).

Im Zentrum des Buches steht der Begriff der mitmenschlichen Reziprozität. Die Kategorie der Reziprozität wird mit Hilfe der Theologie des Bundes zur Geltung gebracht (359 ff.). Dem Rez. legt sich freilich die Anfrage nahe, warum für die theologische sowie für die ethisch-kulturelle Entfaltung von Reziprozität nicht auf die Analysen zurückgegriffen wird, die Schleiermacher in seiner Glaubenslehre von 1830 in 4 oder zuvor z. B. in seiner Schrift "Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" von 1799 dargelegt hatte. Diese letztere Schrift wird vom Vf. anmerkungsweise knapp erwähnt (25, Anm. 33), aber nicht ausgewertet. Schleiermachers Reflexionen zur interindividuellen Wechselwirkung sowie zur sozialen Korrelation von Abhängigkeit und Freiheit haben Pate gestanden für die Grundlegung der Kultur- und Sozialphilosophie, die zu Beginn des 20. Jh.s z. B. bei Georg Simmel erfolgte. Hier hätte sich ein nahe liegender Bezug zu Durkheim und Tönnies ergeben. Doch von solchen theoriegeschichtlichen Zusammenhängen abgesehen: B.s Buch zielt darauf ab, Reziprozität bzw. Freiheit und soziale Kommunikation als Basis moderner Verfassungsordnungen (435 ff.) und einer funktionierenden pluralistischen Gesellschaftsordnung zu interpretieren. In dieser Hinsicht komme auch der evangelischen Kirche eine Rolle als Impulsgeber zu (454 ff.). Durch ihre eigenen ethischen Diskurse könne sie die plurale Demokratie inhaltlich bereichern und auf die moderne Zivilgesellschaft normativ stabilisierend einwirken.

Inzwischen scheint es freilich fraglich, wie realistisch diese an die evangelische Kirche gerichtete Erwartung ist (die katholische Kirche wird im vorliegenden Buch kaum berücksichtigt). Sicherlich waren manche Denkschriften der EKD bahnbrechend, darunter die Ost-Denkschrift aus den 1960er Jahren. In der Bioethikdebatte, die nach 2000 entstand, haben sich evangelische Kirchen und Kirchenvertreter indessen oft eng an katholische Voten angelehnt; dies wirkte auf Dritte gelegentlich so, als vollzöge man katholische Festlegungen, ja Normativismen nach. In der Bioethik-Debatte hat die EKD öffentlich erst relativ spät klargestellt, welch hoher Stellenwert auf evangelischer Seite der persönlichen Verantwortung eines jeden, der Gewissensfreiheit und - auch innerkirchlich - dem Pluralismus der Meinungsbildung zukommt (vgl. Kirchenamt der EKD [Hrsg.], Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen, EKD-Texte 71, Hannover 2002, bes. 4). Im Übrigen finden Denkschriften oder andere kirchliche Voten zu wissenschaftlichen oder politischen Fragen heutzutage viel weniger Beachtung als früher. In diesem Buch bildet der viel zitierte Gedanke des Verfassungsrechtlers Böckenförde, der säkularisierte Staat zehre von den religiösen, christlichen Wertvorstellungen seiner Bürger (vgl. z. B. 26 f.), einen Anknüpfungspunkt, ja geradezu den Schlüssel für seine Argumentation, welche für ein kirchliches Engagement zu Gunsten gesellschaftlicher Kohäsion plädiert. Jedoch hat jetzt Böckenförde selbst anders lautende Akzente gesetzt; denn er akzeptiert nun, dass im europäischen Rahmen Religion "nicht mehr die verbindliche Grundlage des gemeinsamen Zusammenlebens" bildet und dass die christliche Religion ungeachtet ihrer Relevanz doch "nicht mehr aktuell eine Identität der Europäer" zu begründen vermag (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundlagen europäischer Solidarität, FAZ 20.06. 2003, 8). Hinzu kommt, dass ethische Fragen gleichfalls innerkirchlich an die Peripherie gerückt sind.

Der Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes Hermann Barth stellte jüngst fest, dass "sich die Gewichte der Themen in der evangelischen Kirche verschieben und die Tagesordnung kirchlicher Arbeit neu aufgestellt wird", und zwar fort von der Ethik hin zu Glaubens- und Missionsthemen (Hermann Barth, Evangelische Ethik und Kirche, in: ZEE 47 [2003], 153-155, Zitat 154). Dieser Trend zeigt sich auch am Gewichtsverlust der Ethik in den novellierten theologischen Prüfungsordnungen (vgl. Christopher Frey, Was gilt die Ethik noch?, in: ZEE 46 [2002], 82-85). Nur wenige Jahre nachdem B.s Buch erschienen ist, ist es daher zu einer ganz offenen, ja zu einer skeptisch zu beantwortenden Frage geworden, ob kirchlich nicht doch engführende, quasi kommunitaristische Tendenzen Platz greifen. Der das vorliegende Buch in den 1990er Jahren bestimmende Optimismus, die Kirchen würden Erhebliches zur Freiheitskultur, zum Wertediskurs und, so sei ergänzt, zur ethischen Bildung und Aufklärung im Pluralismus beisteuern, bestätigt sich derzeit allenfalls in begrenztem Maß. Das Thema des Buches, die Verortung der Kirchen im pluralistischen Kontext, bleibt dringlich.