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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

78–80

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Sukale, Michael

Titel/Untertitel:

Max Weber - Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XXIV, 642 S. m. Abb. gr.8. Lw. Euro 69,00. ISBN 3-16-147203-9.

Rezensent:

Winfried Gebhardt

Man soll Bücher an ihren Ansprüchen messen. Und der Anspruch der vorliegenden Studie "Max Weber - Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen" ist ein hoher: Ihr Verfasser, Michael Sukale, Professor für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaften an der Universität Oldenburg, will eine "Gesamtdarstellung" (XV) leisten, die "das Leben, das Werk und die geistigen Wahlverwandtschaften Webers zu einem Ganzen" (XV f.) vereint. Damit tritt das Buch in Konkurrenz zu anderen Versuchen, die ebenfalls für sich beanspruchen, eine Gesamtdeutung des Weberschen Werkes vorzulegen, man denke nur an Wilhelm Hennis' "Max Webers Fragestellung" oder an Friedrich H. Tenbrucks "Das Werk Max Webers". Von diesen will sich S. unterscheiden, und er tut dies, indem er Weber nicht länger als Soziologen, sondern als Philosophen begreift (70). Webers Grundprobleme: "die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Frage nach den letzten Werten und die Frage nach Macht und Herrschaft in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft" (XVI) seien philosophische Grundprobleme, und seine Studie, so S., solle dazu dienen, "die ethisch grundlegenden Probleme von Sinn, Wert und Macht im Spiegel unserer Zeit sichtbar zu machen - und dies alles an Hand einer exemplarischen Biographie, einer hiermit verbundenen Werkanalyse und der Nachzeichnung der Bezüge dieses Werkes zu anderen Werken von Zeitgenossen und Vorgängern" (65). Weber biete sich für eine solche Aufgabe deshalb so hervorragend an, weil er mit seinem - das gesamte Werk durchdringenden - Grundanliegen, "über das Rationale das Irrationale zu entschlüsseln" (25), einen Schlüssel zum Verständnis eines "turbulente[n] Jahrhundert[s]" (XII) offeriere.

Um es gleich vorweg zu sagen, diesen Anspruch erfüllt das Buch nur sehr bedingt. So faszinierend - und vielleicht auch fruchtbar - der Gedanke sein mag, Webers gesamtes Werk kreise um das Verständnis des Irrationalen durch den Vergleich mit dem Rationalen, es gelingt S. nicht, diesen Gedanken im Gang durch das Werk aufrecht zu erhalten. Zwar kommt er immer wieder auf ihn zurück, insgesamt betrachtet aber erscheint das Werk- obwohl von der Kapiteleinteilung sehr schön gegliedert- eher als eine Ansammlung mehr oder weniger gut ausgewählter Weber-Zitate, die oftmals recht platt und oberflächlich kommentiert werden. So wird in dem - an sich interessantesten Kapitel über "Technik, Form und Inhalt: Max Weber und die schönen Künste" (Kap. VI) - eine längere Kompilation von Briefzitaten, in denen Weber seine Landschafts- und Kunsteindrücke schildert, mit dem simplen Urteil abgeschlossen: "Fin de siècle? Na und ob!" (273). Stellen dieser Art sind keine "Ausrutscher", sie durchziehen das ganze Buch und können als das "Konstruktionsprinzip" dieser Studie angesehen werden - auch deshalb, weil diese spezifische Vorgehensweise in der Einleitung didaktisch gerechtfertigt wird (14).

Verantwortlich für diese hier nur an einem Beispiel demonstrierte eklektische Anlage des Buches ist unter anderem der bewusst vollzogene Verzicht auf jede Art von Sekundärliteratur (74). S. stützt sich allein auf so genannte Originaltexte. Grundlage seiner Bemerkungen zur Biographie Webers sind Marianne Webers über weite Strecken hagiographisches Lebensbild ihres Gatten, Max Webers Jugendbriefe sowie die bereits erschienenen Briefbände aus der Max Weber Gesamtausgabe (MWG). Webers Schriften, ebenso wie die höchst selektiv ausgewählten Schriften von Webers Zeitgenossen, von denen er glaubt, sie wären für Weber wichtig gewesen, beansprucht S., eigenständig zu verstehen und zu deuten. Dies hat freilich zur Konsequenz, dass ihm ständig Fehlurteile, Versäumnisse und Simplifizierungen unterlaufen. So wird Ernst Troeltsch nicht als Theologe, sondern als Religionswissenschaftler bezeichnet (7), so werden für Weber wichtige Zeitgenossen wie beispielsweise der Althistoriker Eduard Meyer und der Philosoph Heinrich Rickert nicht oder nur am Rande erwähnt, so werden Kants Kategorien mit Webers Wertideen undifferenziert in eins gesetzt (212). Die Reihe könnte problemlos fortgesetzt werden. Entscheidender ist freilich, dass der Verzicht auf Sekundärliteratur dazu führt, dass S. oftmals auf einem Wissenstand argumentiert, der nur als überholt zu bezeichnen ist. Exemplarisch zeigt sich dies in den Kapiteln "Vom Chaos zur Erkenntnis" (Kap. IV) und "Begriff und Methode der Soziologie" (Kap. IX), die beide der Weberschen Wissenschaftslehre gewidmet sind. Ein kurzer Blick in die Werke von Gerhard Oexle oder von Pietro Rossi hätte S. gezeigt, dass man heute nicht mehr so undifferenziert behaupten kann, "dass es bei Weber, wie bei Windelband, allgemeine Gesetze gibt, um individuelle Geschehnisse zu verstehen und zu erklären" (192), und er hätte ihn darüber hinaus auch noch belehrt, dass die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen Webers Wissenschaftslehre steht, etwas komplexer waren als von ihm geschildert. S.s Interpretation der Wissenschaftslehre verbleibt somit weitgehend auf dem Niveau der 60er Jahre, sie folgt im Großen und Ganzen noch den Vorgaben Hans Alberts und Karl Poppers. Und ein kurzer Blick in die Werke von Stephen Kalberg, Friedrich H. Tenbruck oder auch von Wolfgang Schluchter hätten verhindert, die These als große Neuigkeit auszugeben, dass Weber am Ende seiner religionssoziologischen Studien "Rationalität mehr und mehr als System auffasst und entsprechend von Rationalisierung spricht, wenn er Systematisierung meint" (436).

Am ärgerlichsten ist allerdings die Art und Weise, wie mit der Biographie Max Webers umgegangen wird. Nicht nur, dass es sich bei den biographischen Einschüben über weite Strecken um pure Nacherzählungen Marianne Webers handelt, es ist nicht erkennbar, warum gerade diese biographische Episode erzählt wird (und andere nicht) und warum sie gerade so platziert wird. Besonders fasziniert scheint S. von Max Webers Frauengeschichten gewesen zu sein, die einen großen Teil der biographischen Erzählungen einnehmen. Lässt sich das vielleicht damit begründen, dass die Frauen für Max Weber das "Irrationale" darstellten, um dessen Verständnis es Weber ja nach S. vor allem gegangen sein soll?

Schlimmer freilich als die unsystematische und willkürliche Auswahl biographischer Fragmente ist, dass S. auch vor akademischem gossip nicht zurückschreckt. So wird auf S. 196 die Sensation verkündet, Weber sei praktizierender Sado-Masochist und Else Jaffé seine peitschenschwingende Domina gewesen. S. behauptet, das von Agnes Heller zu wissen, die es ihrerseits von Georg Lukács gehört habe, der es selbst wieder von Marianne Weber erfahren haben will. Als einziger "Beleg" für diese Unterstellung taucht ein Zitat Max Webers aus seinen politischen Schriften auf, in dem er das Wort Masochismus zur Charakterisierung der damaligen Pazifisten benutzt. Ist das ein Beleg? Und was will uns S. damit sagen, dass diese Geschichte als Einleitung zum Kapitel über Max Webers Wissenschaftslehre erzählt wird?

Es gibt Kapitel in diesem Buch, die durchaus lesenswert sind (z.B.: Kap. III über Agrargeschichte und Agrarpolitik; Kap. VI über Max Weber und die schönen Künste), auch die Leitthese S.s, Webers Grundanliegen sei es gewesen, über das Rationale das Irrationale zu entschlüsseln, ist durchaus diskussionswürdig. Insgesamt betrachtet zeigt das Buch aber deutlich mehr Schwächen als Stärken. So wird wohl der bewusste Verzicht auf jede Art von Sekundärliteratur, den S. als einen Akt der Souveränität inszeniert, langfristig dazu führen, dass jeder ernsthaft am Werk Max Webers Interessierte dieses Buch ebenso souverän links liegen lassen wird.