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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

75–78

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stosch, Klaus von

Titel/Untertitel:

Glaubensverantwortung in doppelter Kontingenz. Untersuchungen zur Verortung fundamentaler Theologie nach Wittgenstein.

Verlag:

Regensburg: Pustet 2001. 391 S. gr.8 = Ratio Fidei, 7. Kart. Euro 44,00. ISBN 3-7917-1774-X.

Rezensent:

Andreas Hunziker

Der Vf. dieser - 2000/2001 von der Katholisch-Theologischen Fakultät Bonn als Dissertation angenommenen - Arbeit will zeigen, "dass gerade das Grundanliegen fundamentaler Theologie, nämlich die Verantwortung des Glaubens vor der Vernunft, im Horizont der Spätphilosophie Wittgensteins nicht nur möglich, sondern gerade in der gegenwärtigen Diskussionslage auch äußerst fruchtbringend sein kann" (10). Entsprechend sind die Argumentationen durchgängig von einer doppelten Front bestimmt: gegen die Selbstimmunisierungs- und Relativismustendenzen fideistischer Wittgensteinianer auf der einen und die transzendental- bzw. subjektphilosophischen Letztbegründungsversuche auf der anderen Seite.

Auf die Einführung (9-15) folgt im ersten Hauptteil (B. Landschaftsskizzen zur Spätphilosophie Wittgensteins, 16- 212) eine gründliche Einleitung in zentrale Probleme von Wittgensteins Spätphilosophie. Sie ist, bewusst zugespitzt auf das Begründungsthema, darauf aus, die Alternative von Relativismus und Letztbegründung zu unterlaufen. - In B.I. Grundbegriffe der Philosophischen Untersuchungen (16-90) wird anhand der Philosophischen Untersuchungen [PU] gezeigt, "worin die letzte Grundlage unserer Geltungsansprüche liegt" (14): An Wittgensteins Sprachspielkonzept (16-49) wird die epistemische Basalität unserer menschlichen Sprachspiele und Lebensformen hervorgehoben - mit der Pointe allerdings, dass die Rede von der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise (PU 206) auf das verweist, was sich uns jeweils neu im Vollzug "gelingenden Verstehen[s] des Fremden und im Bemühen um dieses Verstehen zeigt" (46). Der Abschnitt über Regeln und Privatsprache (49-73) führt diese Beschreibung der letzten Grundlagen unserer Geltungsansprüche weiter: In den grundlegenden, primitiven Sprachspielen - aber eben nur in diesen - wird den (sozialen) Regeln dieser Sprachspiele mit völliger Sicherheit gefolgt. Dieser Teil schließt mit einer Darstellung von Wittgensteins Haltung zur Philosophie (73-90). - In B.II. Wittgenstein über Gewissheit, Wahrheit und letzte Begründungen (90-212) fragt der Vf. dann, ob und in welchen Hinsichten es möglich ist, die in B.I. beschriebenen "letzten Grundlagen unserer Geltungsansprüche als gewiss und/oder wahr zu bezeichnen" (14 f.). Ausgangspunkt bildet eine Auseinandersetzung mit Wittgensteins Über Gewissheit (B.II. 1, 90- 136): Ein Wechsel zwischen Weltbildern hat zwar kaum etwas mit Argumenten, um so mehr aber mit Überredung und Bekehrung zu tun. Trotzdem versucht der Vf. dann in einer ganzen Reihe von Argumentationsgängen immer wieder von neuem darzulegen, inwiefern ein Weltbild nicht nur auf Gewöhnung oder Manipulation beruht. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Grundstruktur der vom ihm vorgeschlagenen Strategien der Begründung von Weltbildern: "in weltbildexternen Begründungssituationen [ist] wieder ein gemeinsamer Weltbildboden herzustellen, der dann wiederum die Grundlage für ein kohärenztheoretisch explizierbares Vorgehen bilden kann" (146).

Im Abschnitt über Wahrheit (B.II.2., 137-167) bildet die Frage, ob religiöser (Weltbild-)Glaube sinnvoll als wahr bezeichnet werden kann, den Anlass dazu, Wittgenstein mit den gängigen Wahrheitstheorien ins Gespräch zu bringen. Schließlich lässt der Vf. in Letztbegründung versus letzte Begründungen (B.II.3., 167-212) den ersten Hauptteil auf einen kritischen Vergleich mit transzendentalphilosophischen Ansätzen und deren Letztbegründungsansprüchen hinauslaufen. Bereits an dieser Stelle wagt der Vf. eine religiös-theologische Deutung: Wittgenstein gebe sich aus religiösen Motiven "mit letzten Erklärungen in begrenzten Zusammenhängen zufrieden, ohne nach einer Letztbegründung Ausschau zu halten" (181).

Mit dem so erarbeiteten philosophischen Instrumentarium werden im zweiten Hauptteil Vorüberlegungen zu einer Theologie nach Wittgenstein (C., 213-352) angestellt. Leitend ist dabei die Frage, ob religiöser Glaube (immer) Weltbild-Glaube ist. Dabei wird Wittgensteins Philosophieren über das Glaubensbegründungsthema hinaus auch für andere theologische Problemfelder fruchtbar gemacht (Verhältnis von Theologie und Religionsphilosophie - Christologie und Judentum - Theologie der Religionen). - In C.I. Wittgensteins Haltung zu Theologie und religiösem Glauben (213-258) wird zuerst auf Wittgensteins religiöse Grundhaltung eingegangen (C.I.1, 213- 222): Dabei wird nicht nur die interessante Frage gestellt, inwiefern ein Zusammenhang besteht zwischen Wittgensteins Tendenz, den religiösen Glauben unseren regulativen Bezugssystemen zuzuordnen, und seinem Zögern, sich selbst als praktizierender Christ zu verstehen, sondern auch dargelegt, wie Wittgensteins Religiosität in seinem Philosophieren wirksam ist: Seine therapeutisch-kritische Götzenzerstörung und seine übersichtlich machende Wertschätzung der Welt in ihrer Mannigfaltigkeit und Kontingenz ist als das ethisch-religiöse Grundanliegen seines Philosophierens zu verstehen. Auch in Grundideen der Wittgensteinschen Religionsphilosophie und Theologie (C.I.2, 222-258) ist die Frage nach dem Weltbildcharakter des religiösen Glaubens in Wittgensteins religionsphilosophischen Bemerkungen leitend: Wenn Wittgenstein feststellt, dass der Glaubende und der Nichtglaubende unter Umständen einander gar nicht widersprechen können, dann ist dies - nicht fideistisch! - so aufzufassen, dass sich die Bedeutung des religiösen Glaubens letztlich nur von der Praxis der Glaubenden her verstehen lässt. - In C.II. Grundkonzeption einer Theologie nach Wittgenstein (258-352) will der Vf. - wiederum im Horizont der Frage nach dem Verhältnis von religiösen und grammatischen Sätzen - selbständig darlegen, wie eine Theologie "nach Wittgenstein" aussehen könnte.

In C.II.1 Zum Status der Theologie nach Wittgenstein (258-299) unterscheidet der Vf. zwischen einer rein deskriptiven philosophischen Theologie (Theologie als Grammatik) und einer konfessorischen Theologie. Theologie als Grammatik ist die kontextorientierte, kritische und hermeneutische Untersuchung der Rolle, welche die religiöse Sprache im Leben des Glaubenden spielt. In diesem Zusammenhang folgen die für das gesamte Buch zentralen Anmerkungen zu Status und Grammatik religiöser Sätze (268-277): Gegen die nahe liegende Versuchung, alle religiösen Sätze als im regulativen Sinne unerschütterlich gewiss zu betrachten und so fideistisch gegen Kritik zu immunisieren, betont der Vf. einerseits die faktische Pluralität und Bezweifelbarkeit unserer Glaubenssätze, andererseits die Grammatik des Wortes Gott, die er anhand des christlichen Anerkennungsbegriffs entfaltet. Theologie als Grammatik macht darum auf die doppelte Kontingenz der regulativen Behandlung (mancher) Glaubenssätze aufmerksam: "erstens auf die Kontingenz, die in wittgensteinscher Perspektive allem Weltlichen zukommt [...]; zweitens ist sie aber auch weltbildintern dadurch kontingent, dass sie durch ihre Rede von Gott notwendig die angezielte regulative Bedeutung allenfalls antizipativ verwirklichen kann, ohne deshalb gänzlich auf sie verzichten zu können" (275). Theologie als Grammatik bleibt allerdings verwiesen auf konfessorische Theologie, die ausgehend von einem bestimmten Weltbild "einen bestimmten Offenbarungsanspruch hinsichtlich konkreter Kontexte inhaltlich zu explizieren und zu begründen" versucht (259). In C.II.2 Glaubensbegründung nach Wittgenstein (299-320) stellt der Vf. zwar fest, dass sich nicht nur in der Sekundärliteratur, sondern auch bei Wittgenstein selbst eine große Zurückhaltung gegenüber Strategien zur Begründung des religiösen Glaubens feststellen lässt. Trotzdem sei es möglich, die sich in der Entstehung des Glauben ereignende Veränderung der Grammatik nachträglich reflexiv zu begründen.

Der Vf. versucht deshalb, in Entsprechung zum ersten, philosophischen Hauptteil der Arbeit, eine formale Übersicht über verschiedene Gruppen von Strategien der Glaubensbegründung nach Wittgenstein zu geben (307-320): Sowohl weltbildintern als auch -extern seien dabei die korrelativen bzw. sprachspielpraxeologischen und die werbenden Strategien (das Aufzeigen der logisch möglichen universalen regulativen Instantiierbarkeit der vertretenen Glaubenssätze; ein mit diesen übereinstimmendes, attraktives Leben; eine situationsbezogene Rhetorik der Bitte, die zu einer neuen Sicht auf das Leben einlädt) besonders zentral. Verbunden scheint damit die Erwartung zu sein, dass sich dort, wo sich einander Fremde aufeinander einlassen, "grundlegende Übereinstimmung am Grunde unserer Sprachspiele und Lebensformen" zeigt (318).

Das Buch schließt mit dem beispielhaften Ausblick: Theologie der Religionen als Bewährungsfeld einer Theologie nach Wittgenstein (C.II.3). Zusammenfassend lässt sich sagen: Der souveräne Umgang mit der Literatur zu Wittgenstein, präzise Einführungen in die einschlägigen philosophischen und fundamentaltheologischen Diskussionen, viele treffende Wittgen- steinzitate aus dem ganzen Nachlass (auch aus dem auf CD-ROM zugänglichen) und einige interessante Vorschläge, Wittgenstein ins Verhältnis zu aktuellen Debatten in Philosophie und Fundamentaltheologie zu setzen - all dies zusammen gibt diesem Buch ein wenig den Charakter eines Nachschlagewerks für alle, die sich in religionsphilosophischer und theologischer Perspektive für Wittgensteins spätere Philosophie interessieren.

Die Kehrseite dieses Verfahrens sind einige Einseitigkeiten, von denen ich zwei andeute. Kommen Wittgensteins eigentümlicher Stil und nicht zuletzt die Denkbewegungen der miteinander ringenden Stimmen nicht zu kurz? Mir scheint, man wird manchmal allzu stark in die Diskussionen über Wittgenstein statt ins Gespräch mit diesem bzw. einem selbst eingeführt. - Entspricht die Zentralstellung der Begründungsfrage wirklich Wittgensteins eigenem Denken? Mir scheint, der Vf. liefert gerade auf Grund seiner über weite Strecken überzeugenden Darstellung von Wittgensteins Philosophieren wichtige Argumente für eine noch stärkere Revision gängiger fundamentaltheologischer Problemkonstellationen.