Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

70–73

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Moingt, Joseph

Titel/Untertitel:

Dieu qui vient à l'homme. Du deuil au dévoilement de Dieu.

Verlag:

Paris: Cerf 2002. 560 S. 8 = Cogitatio Fidei. Kart. Euro 45,00. ISBN 2-204-06909-4.

Rezensent:

Josef Wohlmuth

"Ich glaube an Gott und ich kann sagen, dass er der Vater Jesu Christi ist." Mit diesem Satz beginnt der Vf. sein monumentales Werk zur Gottesfrage mit dem Untertitel: "Von der Trauer zur Enthüllung Gottes". Der Glaube an den Gott Jesu Christi verlangt eine rationale Rechenschaft, wenngleich er als solcher auf Zustimmung zum Wort Gottes beruht, das in Schrift und Überlieferung enthalten ist. (7) Reicht diese Rechenschaft weiter als zur Stützung des glaubenden Ich? Wenn Gott der Partner der Menschheit ist und er sich in der Offenbarung zu erkennen gibt, warum kommt dann die philosophische Tradition des Abendlandes zu ganz anderen Ergebnissen, letztlich zu dem Ergebnis des Gottestodes? Ist nur der Gott der Philosophen tot oder auch der der Offenbarung? Mit diesen und ähnlichen Fragen geht der Vf. an die Arbeit. Er teilt sein Werk - nach der Einführung - in zwei etwa gleich große Kapitel: "Die Gottestrauer" (I Le deuil de Dieu) (29-278) und "Enthüllung/Offenbarung Gottes im Leib Christi" (II Dévoilement de Dieu dans le corps du Christ) (279-546). Namens- und Sachindizes bilden den Abschluss.

Die Gottestrauer beruht zunächst auf einem Glaubensverlust (La perte de la croyance). (31-79). Der Weg führt vom religiösen Glauben zum Glauben der Philosophen, wobei die Trennung des mosaischen Schöpfergottes vom Gott Jesu Christi in der Gnosis des 2. Jh.s eine große Verführung darstellte. Über die Rationalisierung des Gottesbegriffes im Mittelalter führt der weitere Weg in die Philosophie der Neuzeit, wobei die Idee des Unendlichen bei Descartes für die weitere Entwicklung weichenstellend wirkte. E. Jüngel zufolge hatte der Gottesgedanke bei Descartes die Gewissheiten des menschlichen Subjektes zu stützen (vgl. 53-59). Der Gedanke der Ewigkeit und Notwendigkeit gehörte bei Descartes zum Wesen Gottes. Descartes habe alles darauf angelegt, die Vernunft von aller Offenbarungstradition (der Kirche) unabhängig zu machen (vgl. 60 f.). Die Beschäftigung mit Spinoza führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Die neuzeitliche Vernunft versucht sich aus sich selbst zu begründen, wie der Vf. in ausführlichen Analysen darstellt (61- 79). Es geht, wie D. Bonhoeffer folgerte, um eine Welt etsi Deus non daretur (78).

Im zweiten Unterkapitel, "Der Rückzug der Religion" (81- 130), geht der Vf. davon aus, dass der Tod Gottes den allgemeinen Gott der Religion betreffe, nicht aber den des christlichen Glaubens (82). Deshalb folgen zunächst Analysen, die den religiösen Glauben vom christlichen, die Religion vom Evangelium unterscheiden helfen (82-93). Der religiöse Glaube glaubt an die Allmacht Gottes, der christliche Glaube - so der Vf. mit D. Bonhoeffer - an den ohnmächtigen Gott (93-103). Der Vf. diskutiert die These M. Gauchets von 1985, wonach mit der Entzauberung der Welt das Ende der Religion gekommen sei und das Christentum zu diesem Ende selbst beigetragen habe (103-115). Der Vf. zeigt, dass das Christentum von Anfang an genug Kräfte hatte, um sich der jeweiligen Gegenwart zu stellen (115-130). Im dritten Unterkapitel erfolgt ein geschichtlicher Einblick in die Aufklärung und ihre theologische Aufarbeitung in der katholischen Apologetik (Syllabus) und in der protestantischen Theologie (K. Barth, R. Bultmann u. a.) (134-153). Im Abschnitt über Kants Freiheitsethik (153-164) und Hegels Geschichtsphilosophie und ihre Konsequenzen für das Verständnis der Sprache (164-189) wird Kant bescheinigt, dass er mit seiner zweiten Kritik dem 20. Jh. einen Weg eröffnet hat, Glaube und Vernunft zueinander zu bringen (164), während Hegel durch seinen Versuch, Transzendenz und Geschichte zu verbinden, in eine gefährliche Nachbarschaft zum Atheismus geraten sei (189). Das vierte Unterkapitel zeigt den Weg von der Ablehnung zur Erwartung Gottes (191-258). Auf Feuerbach und Nietzsche (193-212) folgen die Autoren, die eine "offene Existenz" zu denken versuchten (Kierkegaard) und die Gedankenwelt des 20. Jh.s geprägt haben (F. Rosenzweig, Merleau-Ponty, Bergson, Blondel, Heidegger, E. Weil. E. Levinas u. a.) Das fünfte Unterkapitel ("Relecture: Lüftung des Schleiers") präsentiert die Ergebnisse der Analysen (259-278). Es gebe weder Sieger noch Besiegte. Die Philosophie sei kaum noch vom Schrei des Todes Gottes durchbebt und die Theologie habe sich gerüstet, die Rationalität des Glaubensaktes neu zu verteidigen. Die christliche Tradition offenbare die Gottesidee in ihrer ganzen Fülle und Reinheit in Jesus Christus (267). Heute gelte es, Gott als in Jesus Christus Kommenden zur Sprache zu bringen.

Diese programmatische These wird im zweiten Teil des Buches näher entfaltet. Es gehe um Theologie als Wissenschaft von Gott, näherhin als "sience de Dieu qui vient de Dieu même par révélation" (283). Theologie wird somit zu einer Wissenschaft der Offenbarung (285). Im Horizont der im ersten Teil behandelten Fragen gelte es, eine Phänomenologie des Glaubensweges (286) zu versuchen und dabei über den Glauben der Apostel historisch zurückzufragen bis zur "Selbstmanifestation des geoffenbarten Gottes im Glauben an Christus" (287). Offenbarung und Religion seien zu unterscheiden (vgl. I Révélation et Religion, 289-312). Die Offenbarung müsse vor relativistischer Historisierung im Sinne Troeltschs bewahrt werden; P. Tillichs Ontologisierung des Offenbarungsbegriffes werde den Herausforderungen der Moderne und dem einmaligen Christusereignis gerechter (326). K. Rahner und H. U. v. Balthasar werden in das Gespräch einbezogen. Trotz klarer Unterschiede ihrer Offenbarungskonzepte hätten sie sich vom christlichen Dogma inspirieren lassen (330). Die Bindung des Christentums an historische Ereignisse unterscheide es von allen anderen Religionen, mag es auch eine Vorbereitung der in Jesus geschehenen Offenbarung im jüdischen Glauben gegeben haben (333). Jesus ist dem Vf. zufolge in seiner historischen Einmaligkeit "der Offenbarer Gottes" (335-426). Offenbarung geschehe im dreifach verstandenen "Leib Christi": im Leib des Gekreuzigten, im Leib des Verherrlichten und im Leib der Kirche (336). Für einen allgemeinen Offenbarungsbegriff bedeute die Schöpfung die Grundlegung der transzendentalen Gegenwart Gottes (Rahner, Balthasar, Tillich). Doch die Offenbarung in Jesus darf von daher nicht ausschließlich gedeutet werden. Das Wort der Offenbarung kommt in Jesus selbst in die Geschichte (340). Der Vf. weiß um die Probleme einer Jesushistoriographie und vertritt die These, dass Jesus als Offenbarer keine andere Geschichte habe, als die neutestamentlichen Schriftsteller darstellen (348). Von der Gestalt Jesu sprechen heiße deshalb, ihn zuerst in der Erzählung der Evangelien zu platzieren (351). Hier wird der Vf. zum ausführlichen Nacherzähler (351-407). Die Auferstehung Jesu versteht er als "Offenbarung der transzendentalen Wirklichkeit der Geschichte [...], die nicht den Bedingungen der empirischen Erfahrung unterliegt" (398). Gleichwohl sei sie nicht einfach von der Geschichte getrennt; sie bestimmt die Kultur mit und trägt zum Verständnis der Welt bei. Sie ist kein unbezweifelbares Faktum, lässt sich aber als Sinn der Geschichte und Glaubenserfahrung mit Geschichtsbezug lesen (405). Der Offenbarer-Geist im Leib der Kirche bewirkt, dass es sich dabei nicht um bloße Vergangenheit handelt (vgl. 407-426). Das dritte Unterkapitel (La tradition de la foi) bietet einen theologiegeschichtlichen Einblick in frühkirchliche Zeugnisse und in eine Reihe von Autoren des 20. Jh.s (465-482). Die Gegenwartskultur sei vom "Tod Gottes" geprägt. F. Rosenzweig, K. Barth, D. Bonhoeffer, H. Jonas, E. Jüngel, J. Moltmann, K. Rahner, J. B. Metz und C. Geffré sind wichtige Gesprächspartner.

Der Weg vom Glauben zum Verstehen (482-501) betrifft u.a. auch das Zueinander der beiden Testamente. Der Gott der Christen sei der Gott Jesu, der Gott der Juden hingegen der Gott Abrahams und Moses. Es handle sich um eine "différence capitale", die nur durch eine Beziehung der Vaterschaft zusammengehalten werden könne und freilich im Blick auf Jesus exklusiv sei (487). So interpretiere das Neue Testament das Jesusereignis, indem es dieses in der Lektüre des Alten Testaments wiederfindet (497). Was man später Theologie genannt habe, sei durch Hinzunahme anderer Wissensgebiete zur Schriftinterpretation entstanden. Letztlich sei das Dogma aber von der Gottesfrage bestimmt geblieben, und es sei heute die Anforderung an die Theologie, sich intensiver an den Quellen des Glaubens zu orientieren und den Gott Jesu Christi in den Mittelpunkt zu stellen (500 f.).

"Der im Glauben an Christus geoffenbarte Gott" bildet das letzte Unterkapitel (503-546). Offenbarung bedeute das Kommen Gottes in Jesus Christus und sei Selbstmitteilung Gottes an die Menschen (505). Als solche sei sie Einbruch des Vergangenen in die Gegenwart und Leben schenkend (506). Große Fragen stehen noch einmal an. Der Vf. führt aus, vom Tod Jesu her bedeute der Tod Gottes, in seiner Wahrheit erfasst, nicht die Verneinung Gottes, sondern sei als Geschenk seines wahren Lebens zu begreifen (512). Gott offenbare sich als "souveräne Freiheit und absolute Gratuität" (513). Unsere Antwort sei die Freiheit des Glaubens. Die Geschichte des Heiles sei eine "économie de gratuité" (513). So kann Gott von seiner Ereignishaftigkeit her verstanden werden, die maßgeblich an Tod und Auferstehung Jesu gebunden ist: "Dieu est ce qui arrive à Jésus, sa sortie de la mort en vie éternelle" (516). Der Tod, den Gott und Jesus miteinander teilen, lasse sich als ein wechselseitiges Geschenk des Lebens deuten (518). Gott offenbare sich im Akt des absoluten Gebens (520). Im Tod Jesu, der in der Profanität geschehen ist, gibt sich Gott nicht nur - wie Levinas bezüglich der "Illeität" meinte - als Unnahbarer, sondern als ganz Naher; "er ist bereits da" (523). Die beiden letzten Abschnitte bieten eine ganz und gar ökonomische Trinitätslehre. Gott ist in seinem ewigen Sein an sich und in seiner trinitarischen Existenz für uns derjenige, der für uns und mit uns als der in die Zeit Kommende ist (541). Gottes ewiges Ansichsein und seine Gegenwart in der Zeit müssen miteinander versöhnt werden (542). Die Offenbarung des dreifaltigen Gottes geschieht im "Körper der Welt" (dans la chair du monde) (544).

Der Rez. ist angesichts der Fülle der Materialien, die hier ausgebreitet werden, von Staunen erfüllt. Er teilt weitgehend die Analysen und Diagnosen, mit denen der Vf. den Horizont für die Gottesfrage im Zeitalter des "Todes Gottes" entwirft. Er stimmt mit voller Überzeugung der heilsgeschichtlichen Trinitätstheologie zu, die der Vf. im zweiten Band auszuführen verspricht. Was die Darstellung der philosophischen Positionen betrifft, fehlt dem Rez. die Kompetenz der Beurteilung. Ihm fällt höchstens auf, dass z. B. die neueren Arbeiten J.-L. Marions nicht einbezogen werden und dass sich über die Konsequenzen, die der Vf. aus Levinas zieht, streiten ließe. Am dringendsten erscheint die Frage, ob es notwendig und gut ist, die trinitarische Gottesfrage so ausschließlich an die Gestalt Jesu zu binden, dass die Einheit der Gottesfrage im Alten Testament gefährdet wird. Bei der Lektüre des Werkes entsteht auch der Eindruck, dass nach allen kritischen Analysen, die zur Situation des "Todes Gottes" in der Moderne führten, die theologische Antwort eher im narrativen Stil erfolgt, der an entscheidenden Punkten nicht argumentativ genug ist. Dies gilt insbesondere bei der positiven Wendung der These vom Tod Gottes und der Bestimmung von Ewigkeit und Zeit. Auch wenn man mit dem Vf. die These teilt, dass die philosophische Entwicklung des abendländischen Denkens nicht schon eo ipso auch den Gottesbegriff der biblischen Offenbarung und kirchlichen Tradition treffen muss, bleibt doch der Verdacht, dass ungenügende theologische Argumentation mit dazu beigetragen hat, philosophisch vom Tod Gottes zu sprechen.

Die Fragestellungen des Werkes sind in einer heutigen Gotteslehre unbedingt zu beachten. Ob damit auch schon die vorgetragenen Lösungen überzeugend genug sind, wäre zu klären. Der angekündigte Fortsetzungsband könnte dazu beitragen.