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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

68–70

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald [Hrsg.] unter Mitarb. von B. Gleede u. U. Moustakas

Titel/Untertitel:

Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2002. XIV, 504 S. 8 = Spekulation und Erfahrung. Abt. II: Untersuchungen, 50. Lw. Euro 128,00. ISBN 3-7728-2210-X.

Rezensent:

Klaas Huizing

Seien wir ehrlich: Meistens sind die Hermeneutiker alten Schlags Schwarmgeister in verrauchten Stuben, ihre Seele ist der Bluff, den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Wo das nicht in einem aparten, tänzelnden Schritt gelingt, wo Kerner-Arbeit nötig ist, werden die dunklen Autoren vom Gedächtnis abgestraft und ungnädig vergessen. Ihre Werke, die schwierigen, werden geschreddert. Wer sich dennoch mit ihnen abgibt, sollte sich auf Kunstnähte und Kunststiche verstehen. Äußerst geschickt auf diesem Gebiet erweist sich Oswald Bayer in seiner mikrologischen Studie: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants.

Gegen das erlittene Unrecht, das Hamann, dieser Großmagier des Dunklen, durch die snobistische Arroganz der Theologiegeschichtsschreiber (Hamann als frommer Außenseiter) erlitten hat, setzt B. die scharfe Aufmerksamkeit einer Grisette und unterlässt es zuweilen nicht, die Snobs mit einem feinen Stich zu pieksen. Necessaire für diese Arbeit ist das Etui mit teuerstem und haltbarstem Besteck, weil Hamanns Texte extrem kontextabhängig sind, auf Vorgaben reagieren, dabei die Maskerade suchen, die feinsinnige, oft auch feinherbe Anspielung pflegen, vor Satiren, Parodien und Zoten nicht zurückschrecken, manchmal auch abrupt den Kontrakt mit dem Leser kündigen, damit dieser nicht faul wird. Hamann ist ein Schwellenkundiger in jeder Hinsicht und ein Maniac der Grillen, dem mikrologische Hermeneutiker helfen müssen, die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten. Oft erst nach dieser Durcharbeitung entdeckt man die unnachahmliche Stilfrische dieser Prosa.

Das vorliegende, fünfhundert Seiten starke, mächtig unterkellerte Buch mikrologisiert die Debatte zwischen Hamann und Kant, diese Königsberger Gigantomachie in engen Räumen. Einleitend skizziert und charakterisiert B. unter der Überschrift Vernunft ist Sprache Hamanns ursprüngliche Einsicht anhand der Stichworte: Konflikt der Sprachen, Übersetzen als Handlung und Gott der Poet (1-20). Hamanns Verständnis der Autorhandlung dient als entscheidende Lesehilfe für die nächsten philologischen Streifzüge. Unter der Großthese Die Geschichten der Vernunft sind die Kritik ihrer Reinheit beschreibt B. Hamanns Weg zur Metakritik. Endlich auch klärt sich das dunkle Wort Hamanns auf, Kant sei ein geheimer Mystiker: Kants Kritik verspricht sich "vom rein abstrahierenden Vorgehen einer via negationis, von einer Erfüllung der Form durch Entleerung von aller Materie" Entscheidendes. Als Mystik bezeichnet Hamann diesen Zug der Kritik der reinen Vernunft zur von Materie leeren Formalität, diese Verliebtheit in Geistigkeit ohne Form! (49, 21-68).

Ausführlich widmet sich B. der 1781 verfassten Rezension der Kritik der reinen Vernunft, diesem sehr frühen und beherzten Angriff (63-150). Nach den Entwürfen zur Metakritik (151-198) legt B., aufbauend auf etlichen Vorarbeiten, eine buchstäbliche Exegese der Metakritik über den Purismum der Vernunft vor (196-426). Eine echte Zugabe ist die Exegese eines Briefes an Christian Jacob Kraus vom 18. Dezember 1784 über die Selbstverschuldete Unmündigkeit. Was eine - neumodisch gesagt - dekonstruktive Lektüre leisten kann, wenn sie auch politische Subtexte ausleuchtet, zeigt Hamanns Text als kluge Antwort auf Kants Aufklärungstraktat.

B.s Buch ist eine bibliophysische Ehrengabe - eine Gabe im besten Sinne des Wortes. Diese hochmoralische Akribie, mit der B. sich in den Dienst des Autors stellt, ist bewundernswert. Daran ändern auch zwei klitzekleine Bedenken nichts, die ich nicht verschweigen möchte.

Zugegeben, Hamann hat in einem Brief an Jacobi betont, es sei das Christentum im Sinne des Luthertums, das seine geheime Autorschaft über ein Vierteljahrhundert im Schilde führe. Manchmal hat man aber den Eindruck, als ob B. ängstlich darauf bedacht sei, Hamann als veritablen Luther-Redivivus vorzustellen (42, Anm. 102 u. ö.) und beide als proleptische Neuzeitkritiker zu präsentieren. Dieser Schulterschluss macht sich auch an anderer Stelle bemerkbar. B.s mikrologische Studie zu Hamann dient auch zur Bodenanalyse für eine künftige poetische Theologie. Gegen Kant präsentiert uns B. seinen Hamann sehr zu Recht als einen Aufklärer höherer Ordnung, der die von Sprache und Sinnlichkeit gereinigte Vernunft als Unding qualifiziert. Bereits in seiner Aestetica in nuce (1762) hatte Hamann "den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstractionen zu läutern" versprochen (Kants Mystik also, an anderer Stelle spricht Hamann weniger diplomatisch von Sünde) und als Aufgabe ausgegeben, die "Turbatverse und disiecti membra poetae" der Natursprache ins poetische Geschick zu bringen. An dieser Stelle freilich argumentiert der beinahe immer geschichtlich argumentierende Hamann seltsam ungeschichtlich.

Die im Fragmentenstreit aufgeworfene Frage nach der Bibelautorität wird im Rekurs auf die lutherische Christologie (und Abendmahlslehre - Sacrament der Sprache, vgl. Metakritik 18) entschieden: "Durch diese Vereinigung (von Göttlichem und Menschlichem, K. H.) wird das Buch heilig" (31). Rhetorisch hochbegabt, feiert Hamann die Höchstgeltung der Bibel und damit letztlich der Poesie als historisches Apriori. Genau an dieser Stelle haben sich Hamann und Herder, wie B. betont, entzweit (vgl. 30, Anm. 36), denn Herder prädizierte in der Analyse des Menschlichen das Göttliche, "(d)iese Verkehrung der von der Christologie her anders zu denkenden Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem, seit Erscheinen der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) für ihn unübersehbar geworden, hat Hamann scharf kritisiert" (30 f.).

Die Frage ist doch wohl, ob dieser Vorwurf so selbstverständlich ist, wie Hamann und B. meinen. Ich denke nein. Herder dachte sehr viel geschichtlicher, hielt die muttersprachliche Schöpfungspoesie für definitiv verloren und plädierte deshalb nicht für eine "christologische" Poetik, sondern für eine "anthropologische" Ästhetik, die sich an konkreten, leiblich vermittelten Wahrnehmungsprozessen der Christentumsgeschichte abarbeiten sollte. Der Unterschied zwischen poetischer und ästhetischer Theologie ist damit letztlich doch ein sehr grundsätzlicher.

Damit ist über eine Wertschätzung des biblischen Textes nicht alles entschieden. Es könnte etwa durchaus sein, dass in den prosaischen Miniaturdramen Jesu, vulgo den Gleichnissen, ganz außerordentliche Erfahrungen vermittelt werden. Aber auch in diesem Fall ist man gut beraten, ausgehend von einer literarischen Anthropologie die Frage nach dem Göttlichen zu stellen, wie Herder vorgeschlagen hat. Und deshalb ist man ebenso gut beraten, die Sprachform der Gleichnisse nicht umstandslos archäologisch auszuzeichnen, wie das etwa der späte Karl Barth getan hat.

Eine Metakritik poetischer Theologie im Anschluss an Herder würde also darauf drängen, die letztlich ungeschichtliche, also archäologische oder prinzipienlogische Argumentation als Rest einer Hamannschen Mystik aufzudecken. Eine poetische Theologie müsste also in eine ästhetische transformiert werden. Erst dann wäre die Aufklärung radikal genug und Hamann ein unbeschwerter Aufklärer.