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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

63–65

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

1) Lavater, Johann Caspar 2) Lavater, Johann Caspar

Titel/Untertitel:

1) Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Im Auftrag der Forschungsstiftung und des Herausgeberkreises Johann Caspar Lavater. Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit 1768-1773/78. 2) Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Ergänzungsband: Bibliographie der Werke Lavaters. Verzeichnis der zu seinen Lebzeiten im Druck erschienenen Schriften.

Verlag:

1) Hrsg. von U. Caflisch-Schnetzler. Zürich: NZZ-Buchverlag 2001. LII, 764 S. mit Abb. 8. Lw. Euro 73,00. ISBN 3-85823-865-1. 2) Hrsg. und betreut von H. Weigelt. Wissenschaftliche Redaktion N. Landolt. Zürich: NZZ-Buchverlag 2001. 309 S. 8. Lw. Euro 49,00. ISBN 3-85823-864-3.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Lavater habe "sich durch sein langes Gucken in die Ewigkeit die Augen ganz für den zeitlichen Horizont verdorben", spottete Lichtenberg 1773 in seinem "Timorus". Selbst darin und in der nicht minder beißenden Empfehlung, der Zürcher Theologe möge zu seiner Genesung lieber "ein kühlendes weltliches Buch lesen", beispielsweise ein Handbuch zur Kegelschnittlehre, liegt noch ein Reflex jenes literarischen Aufsehens, das L. mit seinen "Aussichten in die Ewigkeit" (1768-1778) erregt hatte. Dieses Werk unternahm nicht weniger als eine ausführliche, übrigens höchst realistische Schilderung des jenseitigen Lebens, die, im Analogieschlussverfahren auf Naturbeobachtung und die "göttlichen Schriften" rekurrierend, mitunter einen geradezu "grotesken Grad von Handgreiflichkeit" (H. Landry) erreichen konnte und die alsbald heftig und höchst kontrovers diskutiert worden ist. Seit 1766 arbeitete L. an diesem Projekt; die dafür ursprünglich beabsichtigte lyrische Form wurde zurückgestellt, um zunächst in der Form offener, an den Freund Johann Georg Zimmermann gerichteter Briefe "einige Zurüstungen und Materialien zu einem großen, und beynahe ungeheuren Gebäude" und damit einen "Theil des Stoffes zu einem Gedichte von dem zukünftigen Leben" (XVII) zu präsentieren. L.s "Aussichten" erschienen in drei Bänden (1768/69/73); der vierte Band (1778) brachte ausführliche "Zusätze, Anmerkungen und Berichtigungen zu den drey ersten Bänden", ist aber von Publikum und Kritik kaum mehr beachtet worden.

Dieses kirchen-, literatur- und geistesgeschichtlich wichtige, zeiterschließende Werk ist jetzt in einer vorzüglichen, von Ursula Caflisch-Schnetzler herausgegebenen kritischen Ausgabe bereitgestellt worden. Die Verbindung von höchster editorischer Qualität und einer geradezu liebevollen buchtechnischen Ausstattung (bis hin zu den die einzelnen Teile markierenden schwarzen Seitenrandstreifen) macht den Umgang mit L.s "Aussichten" zu einem Lese- und Studiervergnügen. Die Ausgabe bietet die Textgestalt der editio princeps; der textkritische Apparat verzeichnet die Varianten der 2. Auflage vollständig, die der weiteren Auflagen jedoch nur, "falls inhaltlich relevant" (XI). Die zu L.s Lebzeiten erschienenen Auflagen werden allerdings genannt, desgleichen die 1779 in Amsterdam gedruckte niederländische Übersetzung - der Plan einer englischen und französischen Ausgabe war "an der Suche nach einem geeigneten Übersetzer" gescheitert (VIII). Mit entsagungsvoller, verlässlicher Sorgfalt ist der wirklich gebrauchsfähige (also weder kryptisch verkürzte noch enzyklopädistisch aufgeblähte) Sachapparat erstellt worden; er bietet vor allem die verstehensnotwendigen Zitat- und Stellennachweise, ferner Literaturangaben, Erläuterungen von Personen sowie die Erklärung von Helvetismen und heute schwer verständlichen Wörtern.

Ausführlich werden die Editionsgrundsätze dargestellt und erläutert (X-XV). Sie erweisen sich insgesamt als professionell, plausibel und gut praktikabel. Anlass zu Kritik findet sich allenfalls peripher, so wenn die Erläuterung eines Grundsatzes tautologisch wird - muss der zu historischen Personen mitunter beigefügte Kommentar "nicht eruierbar" wirklich durch die Bemerkung entschlüsselt werden, dass "nichts über eine Person eruiert werden [konnte]" (XIII)? - oder wenn ein an sich schon ungewöhnliches Prinzip dann nur in irritierender Inkonsequenz angewandt wird - der nicht ganz nachvollziehbare Grundsatz, Seitenwechsel des Originaldrucks am inneren (nicht: äußeren) Seitenrand in der ersten nachfolgenden (!) Zeile anzuzeigen (XI), wird merkwürdigerweise nur auf den jeweils rechten Seiten annähernd konsequent praktiziert, während auf den jeweils linken Seiten der Wechsel zumeist am Rand der betreffenden Zeile angezeigt ist.

Die "Einführung" schildert eingehend die Entstehungs- und Werkgeschichte der "Aussichten". Zu Recht wird dabei die Bedeutung von Charles Bonnets "Contemplation de la Nature" (1764, dt. 1766) und deren unmittelbarer Einfluss auf L. besonders gewürdigt, daneben aber auch andere Personen, die L. zu seinem "Lied von der Seligkeit der verklärten Christen" (XVIII) veranlasst haben, namhaft gemacht. Ob die deutschsprachige Gelehrtenwelt, an die sich L. zu wenden gedachte, als "die denkende Elite" (XXXIII) glücklich bezeichnet ist, könnte man fragen. Nützlich sind Bemerkungen zu der Bedeutung, die der literarischen Gattung des (offenen) Briefs im 18. Jh. zukam (L. wusste, "daß der, der an viele schreiben will, beynahe an Niemand schreibt, und der, der an Einen allein schreibt, an Tausende schreibt" [XXXV]), und zur Konjunktur der Unsterblichkeitsdebatte im Zeitalter der Aufklärung. Demgegenüber dürften die Hinweise zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der "Aussichten" allzu spartanisch bemessen sein.

Besonders wertvoll ist der ausführliche "Anhang" (697-760), der die Erschließung des Bandes außerordentlich erleichtert: geboten werden Register der erwähnten Lavateriana, Korrespondenten und Autographen, Verzeichnisse der benutzten Quellen, Nachschlagewerke und Forschungsliteratur (in der allerdings Autoren wie Athanasius, Calvin, Euseb, Leibniz, Origenes oder Zwingli ein wenig deplatziert wirken), ferner sehr hilfreiche Worterklärungen sowie detaillierte Register der Bibelstellen und der - größtenteils mit Lebensdaten versehenen - Personen.

Nach aller Mühe und Sorgfalt, die die Herausgeberin in diesen feinen Band investiert hat, mag sie sich nun getrost zu Eigen machen, was L. dem zweiten Band seiner "Aussichten" vorausgeschickt hat: "Ich fordre von jedem Beurtheiler diejenige Strenge, die die Natur der Sache zuläßt; aber auch diejenige Billichkeit, die der Schwierigkeit solcher Untersuchungen angemessen ist" (239 f.).

Zusammen mit Band II der auf insgesamt zehn Bände berechneten Werkausgabe erschien als Ergänzungsband die von Horst Weigelt herausgegebene und betreute, von Niklaus Landolt redaktionell verantwortete "Bibliographie der Werke Lavaters". Dieses für die Erforschung des Zürcher Theologen und Schriftstellers wie überhaupt der Geisteskultur des späteren 18. Jh.s außerordentlich nützliche Hilfsmittel, in dem eine rund zwanzigjährige Vorbereitungszeit zu einstweiligem Abschluss gekommen ist, erstrebt Vollständigkeit, beansprucht sie aber nicht: Ökonomische Sachzwänge haben beispielsweise eine lückenlose Erfassung der Privatdrucke oder der zu L.s Lebzeiten erschienenen Übersetzungen verhindert. Außerdem bleiben Bibliographien naturgemäß "fast immer ergänzungsbedürftig"; ausdrücklich bittet darum der Herausgeber den Benutzer um "Hinweise auf weitere, in dieser Werkbibliographie nicht erfasste Lavateriana" (9 f.).

Gleichwohl: Was Herausgeber und Redaktor mit diesem Ergänzungsband vorgelegt haben, erheischt hohen Respekt. In vier die Einheitstitel jeweils alphabetisch anordnenden Abteilungen werden die Werke L.s, dessen Herausgeberschaften und Übersetzungen anderer Autoren, dessen Rezensionen sowie die ihm zugeschriebenen Titel - insgesamt 433 Nummern! - nach allen Regeln der Kunst registriert, den ISBD(A)-Normen entsprechend und mit reichlichen Standortnachweisen versehen. Die Entscheidung, eine "mittlere Erschließungstiefe" (13) zu wählen, ist zweifellos sinnvoll: grammatische und orthographische Besonderheiten der Titel werden diplomatisch getreu übernommen, Zeilenumbrüche und typographische Varianten hingegen nicht berücksichtigt. Den Titelaufnahmen liegt in aller Regel eine Autopsie des jeweiligen Werkes zu Grunde; wo diese ausnahmsweise nicht möglich gewesen ist, haben sich die Bearbeiter um größtmögliche Sorgfalt bemüht. Erleichtert wird die Handhabung des Bandes nicht allein durch das vorzügliche Druckbild, sondern auch durch vollständige Orts-, Verleger- und Personenregister sowie ein (leider auf die Erstauflagen beschränktes) "Chronologisches Verzeichnis" der erfassten Titel.