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Ausgabe: | Juli/August/1998 |
Spalte: | 713–728 |
Kategorie: | Aufsätze |
Autor/Hrsg.: | Reinhard Flogaus |
Titel/Untertitel: | Von Regensburg nach Würzburg: Hoffnungsvoller Fortschritt oder alter Dissens in neuem Gewand? |
1. Die Debatte über den Konsens - damals und heute
"Ein weitleufftig und geflickt ding" sei die Einigung über die Rechtfertigung, da man in ihr die Lehre der Altgläubigen und der Protestanten so "zu samen gereymet und geleymet" habe, daß darin "sie recht vnd wir auch recht haben". Tatsächlich sei dies aber "eine vergleichung, wie Christus spricht Matth. 9 [,16]: ,Ein new tuch auffm alten rock gelapt, da der riss erger wird". Deshalb solle dieser auf dem Papier erzielte Konsens null und nichtig sein, falls nicht auch in den anderen Artikeln "die aus diesem heubtartikel fliessen", "Vergleichung" erfolge.1 So schrieb Martin Luther im Mai 1541 an seinen Kurfürsten und bat ihn inständig, nicht selbst auf den Reichstag nach Regensburg zu reisen, da dort der "Teuffel zu Meintz" und dessen Anhang das Sagen hätten.2 Magister Philipp aber, dessen Zustimmung zum Regensburger Kompromiß in der Rechtfertigungslehre Johann Friedrich doch sehr befremdet hatte3, möge der Kurfürst nicht allzu hart schreiben, damit "er nicht aber mal sich zu tod greme".4 Auf erneute Nachfrage schrieb Luther seinem Landesherrn ein paar Wochen später zu Peter und Paul dann ganz unumwunden, daß die in Regensburg scheinbar in einer Reihe von Artikeln erzielte Einigung in Wahrheit eine "papistische Teuscherey" sei, denn "es [sei] vnmüglich Christum zuuergleichen mit der schlangen".5
Luthers Mißtrauen gegenüber der altgläubigen Theologie war an diesem Punkt offenbar abgrundtief. Kein Zweifel, hätte er selbst in Regensburg mitverhandelt, so wäre es bestimmt nicht zu einer "Vergleichung" in Sachen Rechtfertigung gekommen! Schon für Melanchthons Augsburger Verhandlungen ein Jahrzehnt zuvor hatte er wenig Verständnis gehabt, hatte man für seine Person doch bereits im Bekenntnis selbst "mehr als genug" nachgegeben.6 Angesichts dieser kompromißlosen Treue Luthers zu dem, was ihm als Evangelium galt, überrascht es nicht, daß er auch an dem vom 28. April bis 2. Mai 1541 in Regensburg zwischen Johannes Eck, Johannes Gropper und Julius Pflug einerseits und Martin Bucer, Philipp Melanchthon und Johann Pistorius andererseits ausgehandelten Konsens in der Rechtfertigungslehre7 nicht bloß einzelne Wendungen kritisierte8, sondern vor allem prinzipielle Bedenken gegen ihn hegte. Seiner Überzeugung nach reichte es nicht aus, daß nach der Neufassung des Artikels nun in der Tat an manchen Stellen "sehr wol gered" wurde. Für einen echten Vergleich mußten vielmehr auch jene scholastischen Lehrsätze, die in besonders krassem Gegensatz zur reformatorischen Rechtfertigungslehre standen, von der römischen Kirche explizit als Irrtümer widerrufen werden.9 Daß sich diese hierauf einlassen würde, lag freilich auch für Luther außerhalb des Vorstellbaren, weshalb er - anders als Bucer und wenigstens zeitweise auch Melanchthon - keinerlei Hoffnung auf weitere Religionsverhandlungen setzte.
Doch das Schicksal des Regensburger Buchs war ohnehin schon längst besiegelt. Nicht nur, daß man sich, wie es Luther ja prophezeit hatte, über Abendmahl, Buße und Beichte, Kirchen- und Konzilsgewalt, den päpstlichen Primat und anderes mehr nicht einigen konnte und deshalb die Verhandlungen am 22. Mai abbrach, sondern inzwischen waren Melanchthon und Eck auch von den bereits verglichenen Artikeln wieder abgerückt.10 Der Dreh- und Angelpunkt der Einigung aber, der Konsenstext über die Rechtfertigung, war zudem sowohl von Wittenberg als auch von Rom als inakzeptabel zurückgewiesen worden.11 Damit hatten sich die Hoffnungen von Gropper und Bucer, auf dem Verhandlungswege doch noch zu einer Einigung zu gelangen, endgültig zerschlagen. Und so wurde das Regensburger Buch, einschließlich seines Rechtfertigungsartikels, am 1. Juli von den altgläubigen und am 12. Juli von den protestierenden Ständen abgelehnt.12 Der letzte nicht völlig aussichtslose Versuch zur Verständigung war gescheitert. Statt dessen sollte es wenige Jahre später zum Krieg kommen.
457 Jahre sind seither vergangen, und zum ersten Mal seit den Religionsgesprächen des 16. Jahrhunderts liegt wieder ein Entwurf für einen Konsens über die Rechtfertigungslehre auf dem Tisch. Die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (=GER), die von Vertretern des LWB und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen auf zwei gemeinsamen Sitzungen in Würzburg im Juni 1996 ("Würzburg I") und im Januar 1997 ("Würzburg II") abschließend redigiert worden war, soll noch in diesem Jahr vom Vatikan und vom LWB offiziell unterzeichnet werden.13 Doch ähnlich wie im 16. Jahrhundert ist man sich auch jetzt wieder - zumindest im protestantischen Lager - uneins darüber, ob der ausgehandelte Konsenstext nun wirklich akzeptiert werden soll. Während die einen hier "eine tolle Erklärung"14 sehen, ist diese für die anderen "eben doch nur ein fauler theologischer Kompromiß"15, und dessen Befürworter sind "vorauseilende Kryptokatholiken"16. Während manche fürchten, daß mit der GER "der Kern der Lutherschen Lehre einem Kompromiß mit der katholischen Kirche geopfert werden" könnte17 oder daß die Erklärung gar "einen Baustein innerhalb eines bestimmten ökumenischen Gesamtprogramms darstellt, ... das über eine Reihe von Lehrkonsensen hinausläuft auf die Integration auch der evangelischen Amtsträger in das Gefüge der römisch-katholischen Hierarchie"18, preisen andere sie wiederum als "epochemachendes Dokument".19 Die dritten schließlich sind der Meinung, daß sich der ganze Streit fernab von den heute existenziellen Fragen unseres Christseins abspiele und daß die GER bestenfalls dafür gut sei, "historische Altlasten" zu beseitigen.20 Ist die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" womöglich nur ein theologisches Glasperlenspiel? Oder gar ein vatikanisches Danaergeschenk?
Fest steht jedenfalls, daß es auch jetzt wieder das "Wahr-Zeichen" der Reformation ist, das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders, über das man sich überraschenderweise geeinigt zu haben scheint, während ein Lehrkonsens über Kirche, Amt und Sakramente - die Punkte, an denen man sowohl in Augsburg als auch in Regensburg schließlich gescheitert war - zwischen Lutheranern und Katholiken auch heute noch aussteht, zumal für eine diesbezügliche Einigung mit den Lehrentscheidungen des Tridentinums und des I. Vatikanums noch zusätzliche Hürden zu nehmen sind.
Ebendies, daß hier eine Einigung erzielt werden soll, ohne daß man sich auch über jene anderen Punkte geeinigt hätte, die, wie Luther 1541 formuliert hatte, aus diesem Hauptartikel fließen, ist auch jetzt wieder einer der Hauptkritikpunkte und Anlaß zu der Vermutung, daß der Konsens in der Rechtfertigunslehre doch nicht echt sein könnte.21 Desweiteren wird ähnlich wie schon 1540/41 von protestantischer Seite beanstandet, daß der Erstentwurf des Konsenstextes ein Produkt der Geheimdiplomatie sei.22 Schließlich spielt bei der gegenwärtigen Kritik an der GER auch die Befürchtung eine Rolle, daß ein solcher Konsens zur Auslegungsnorm für die Bekenntnisschriften werden oder diese sogar in ihrer Geltung einschränken könnte.23 War dies auch 1541 in der Tat ein wesentlicher Grund für die Protestanten, dem Regensburger Buch nicht zuzustimmen, so ist im Falle der GER m. E. eine solche Gefahr nicht vorhanden. Dies hängt mit einem wichtigen Unterschied zwischen den Konsensformeln des 16. Jahrhunderts und der GER zusammen.
Anders als das Regensburger Buch ist di e GER nämlich von ihrer Konzeption her kein reines Konsensdokument. Der Text der Erklärung beruht vielmehr auf der Methode eines "differenzierten Konsenses", d. h. in ihm wird nicht bloß "ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigung" ( 5,1; 13,2) bzw. "ein Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" ( 5,2; 13,3; 40,1; 43,1) dargelegt, sondern es werden auch - teilweise- die verbliebenen Unterschiede benannt. Diese "Unterschiede in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung" - sachliche Unterschiede scheint es für die GER also nicht mehr zu geben! - seien jedoch im Lichte des formulierten Konsenses "tragbar" ( 40,1). Daß die GER weder die römisch-katholischen noch die lutherischen Lehrgrundlagen ersetzen will, erhellt im übrigen auch daraus, daß die gegenseitigen Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts nicht etwa aufgehoben oder widerrufen werden, sondern als "heilsame Warnungen" auch weiterhin "in Lehre und Praxis zu beachten" sind ( 42). Mit anderen Worten: Sowohl die Anathematismen von Trient als auch die entsprechenden lutherischen Verwerfungen stehen weiterhin in den jeweiligen Kirchen in vollem Umfang in Geltung und bilden gewissermaßen die Grenze des gemeinsam Sagbaren.24 Allerdings - und dies ist der springende Punkt- treffen sie laut GER die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der jeweils anderen Seite nicht.25
2. Fortschritt und bleibender Dissens - ein erster Überblick
Wie ist diese Behauptung der GER nun aus historischer Perspektive zu beurteilen? Konnte wirklich ein substantieller Fortschritt und damit ein Grundkonsens in der Rechtfertigungslehre erzielt werden? Tatsächlich zeugt der jetzige Textentwurf der GER in mehrfacher Hinsicht davon, daß es zu einer gewissen Annäherung des jeweiligen Verständnisses der Rechtfertigungslehre gekommen ist. An erster Stelle ist hier das klare Bekenntnis der römisch-katholischen Kirche zu nennen, die Rechtfertigung geschehe "allein aus Gnade" ( 15,5; 19,4). Auch wenn von seiten mancher Kritiker der GER jetzt behauptet wird, das "sola gratia" sei nie strittig gewesen26, - Tatsache ist, daß man sowohl in Regensburg als auch in Trient zwar viel von der Gnade gesprochen, das kleine Wörtchen "sola" jedoch in diesem Zusammenhang sorgsam vermieden hat. Daß die römisch-katholische Seite nun hier, ebenso wie übrigens auch im Falle des "allein durch Christus" (16,1), ihre Zurückhaltung aufgegeben hat, ist ein kleiner, aber nichts desto weniger bedeutsamer Fortschritt. Ähnliches gilt auch für den Satz, "daß Christus selbst unsere Gerechtigkeit ist" (15,4), und für die Feststellung: "Deshalb wird die Rechtfertigungsgnade nie Besitz des Menschen, auf den er sich Gott gegenüber berufen könnte" ( 27,6). Gegenüber der Aussage des Konzils, daß dem Gerechtfertigten die eingegossene Liebe und Gerechtigkeit inhäriere27, ist dies eine erfreuliche Klarstellung, auch wenn man sich nicht zum "extra nos" der Glaubensgerechtigkeit durchgerungen hat.
Dem steht nun allerdings gegenüber, daß man im jetzigen Wortlaut der GER auch an verschiedenen Punkten wieder hinter zuvor schon Erreichtes zurückgefallen ist. An erster Stelle ist hier der höchst umstrittene 18 der GER zu nennen. Er zeigt zunächst einmal deutlich, daß die Rechtfertigungslehre bei Lutheranern und Katholiken nach wie vor einen unterschiedlichen Stellenwert besitzt, wie dies ja auch schon die Präambel der GER nahelegt ( 1 f.). Dies ist bedauerlich, wird aber wohl niemanden ernsthaft überraschen. Überraschend wäre schon eher, wenn nun plötzlich auch die römisch-katholische Kirche den Artikel von der Glaubensgerechtigkeit wie die Lutheraner als "höchsten fürnehmsten Artikel der ganzen christlichen Lehre" bezeichnen würde, der wie "ein wenig Sauerteig den ganzen Taig vorsäure",28 als "magister et princeps super omnia doctrinarum genera"29 oder gar als "articulus stantis vel cadentis ecclesiae".30
Dies ist jedoch auch in der GER nicht der Fall. Vielmehr wird in der GER die gemeinsame Aussage, die Rechtfertigungslehre sei "ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will" ( § 18,3), durch den nachgeschobenen Satz, daß sich römische "Katholiken von mehreren Kriterien in Pflicht genommen sehen" ( § 18,5), sofort wieder abgeschwächt. Dieser Satz ist erst in der jetzt vorliegenden Fassung (Würzburg II) in den Text gelangt. Zugleich hatte man aber auch jenes Kriterium, das die Rechtfertigungslehre für die Kirche darstellt, als "ein unverzichtbares" gekennzeichnet. Doch die Rede von den "mehreren Kriterien" stellt aus evangelischer Sicht einen eindeutigen Rückschritt gegenüber "Würzburg I" und "Lehrverurteilungen- kirchentrennend?" dar.31
Auch wenn sich die römisch-katholische Seite zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht dazu durchringen kann, die Rechtfertigungslehre explizit als das einzige Kriterium für Lehre und Praxis der Kirche anzuerkennen, weil dies auch die Anerkennung der lutherischen Kirchen als Kirchen im Vollsinn32 und damit eucharistische Gemeinschaft mit ihnen implizieren würde, ist die Rede von "mehreren Kriterien" äußerst mißlich. Denn so wie der Text jetzt lautet, muß man entweder annehmen, daß sich die unverzichtbare kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre doch nicht wirklich auf die "gesamte" Lehre und Praxis der Kirche bezieht, oder aber, daß es neben der Christusbezogenheit noch andere gleichrangige oder gar konkurrierende Bestimmungen von Lehre und Praxis der Kirche gibt bzw. geben kann.
Auch hinsichtlich der Frage der Heilsgewißheit hat es einen solchen Rückschritt gegeben. So wurde in § 36 der Satz "So gesehen gilt: Glaube ist Heilsgewißheit", der noch in der Fassung Würzburg I gestanden hatte und auf "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" zurückgeht (62, 28 f.), wieder gestrichen. Offenbar fürchtete die römisch-katholische Seite, mit dieser Formulierung in Widerspruch zu can. 13-15 des Rechtfertigungsdekrets von Trient zu geraten.33 Daneben finden sich auch ein paar kleinere sachliche Fehler in der GER. So wird nach einhelliger Meinung römisch-katholischer und evangelischer Exegeten beispielsweise in § 12 Phil 2,13 falsch übersetzt, und zwar pikanter Weise deshalb, weil der Text nach der "Einheitsübersetzung" wiedergegeben wurde!34 In Anm. 3 zu §1 der Präambel wird irrtümlich behauptet, die CA enthalte "keine die Rechtfertigungslehre betreffenden Lehrverurteilungen gegenüber der römisch-katholischen Kirche". Bekanntermaßen werden jedoch in Art. XII ausdrücklich "die verworfen, so nicht lehren, daß man durch Glauben Vergebung der Sünde erlange, sondern durch unser Genugtun". Diese gegen die Altgläubigen gerichtete Verwerfung betrifft nicht nur die Buß-, sondern auch die Rechtfertigungslehre.35
Schließlich bezieht die GER auch an einigen traditionell kontroversen Punkten überhaupt keine oder nur sehr undeutlich Stellung. So fehlen klare Aussagen zu verschiedenen gegen die reformatorische Rechtfertigungslehre gerichteten Aussagen des Konzils von Trient, wie z. B. daß der Gerechtfertigte in der Gnade dem Gesetz durch seine Werke Genüge leisten könne36, daß der rechtfertigende Glaube nicht allein das Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit sei, die um Christi willen die Sünden vergibt37, daß die Gnade der Rechtfertigung durch Todsünden verloren gehe, der Glaube dabei aber erhalten bleiben könne38, daß die in der Rechtfertigung empfangene Gerechtigkeit vom Maß der Vorbereitung und Mit wirkung des einzelnen abhänge39 und daß diese empfangene Rechtfertigung und Gerechtigkeit im Menschen durch die guten Werke wachsen müsse.40
Die beiden letzten Punkte weisen auf ein hermeneutisches Grundproblem der GER hin, das m. E. dringender Klärung bedarf: Was wird eigentlich jeweils unter den Begriffen "Rechtfertigung", "Gnade" und "Heil" auf beiden Seiten verstanden, und wie verhalten sich diese Begriffe zueinander? Meinen sie dasselbe, oder gerade nicht? Ist mit "Rechtfertigung" das Ganze des Heiles ausgesagt oder nur ein - wenngleich fundamentaler- Teil?41 Ausgerechnet mit diesen Fragen läßt einen der jetzige Konsensentwurf zur Rechtfertigungslehre weitgehend allein, und dies nährt den Zweifel daran, daß hier wirklich ein Durchbruch erreicht worden ist. Gewisse kleinere Fortschritte sind nicht zu leugnen, doch über die seit jeher zwischen Katholiken und Protestanten kontroverse Grundfrage, ob die in der Rechtfertigung geschenkte Sündenvergebung und Erneuerung zur Rettung im Endgericht nur notwendig oder auch hinreichend ist, wurde in der GER noch kein befriedigender Konsens erzielt. Dies zeigt sich insbesondere an drei Problemfeldern, über die seit dem 16. Jahrhundert keine Einigkeit besteht.
3. Das Sündersein des Gerechtfertigten
Eine deutliche Differenz zwischen beiden Konfessionen besteht in bezug auf das "Sündersein des Gerechtfertigten". Trotz dieser Überschrift zu §§ 28-30 der GER sieht die römisch-katholische Kirche nämlich in der im Getauften verbliebenen Konkupiszenz lediglich eine "Gottwidrigkeit" und gerade keine "Sünde im eigentlichen Sinn" (§ 30,2). Gemeinsam wird zwar erklärt, daß auch der Gerechtfertigte "der immer noch andrängenden Macht und dem Zugriff der Sünde nicht entzogen (vgl. Röm 6,12-14) und des lebenslangen Kampfes gegen die Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens des alten Menschen nicht enthoben (vgl. Gal 5,16; Röm 7, 7.10)" sei (§ 28,3), doch kann sich die römisch-katholische Seite nicht dazu durchringen, daß diese "Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens" nun auch "als solche wahrhaft Sünde [ist]", wie dies die Lutheraner meinen (§ 29,3). Vielmehr sei das im Gerechtfertigten Verbliebene nur "eine aus der Sünde kommende und zur Sünde drängende Neigung (Konkupiszenz)" (§ 30,1).
Dies ist freilich kein Fortschritt, sondern eine Formulierung, die schon am 16. August 1530 Johannes Eck in den Einigungsverhandlungen des sogenannten Vierzehnerausschusses auf dem Augsburger Reichstag zur Beschreibung der auch nach der Taufe im Menschen verbliebenen "Krankheit" verwendet hatte. Damals war von ihm sogar eingeräumt worden, daß diese auch als "Sünde" bezeichnet werden könne, allerdings sei sie dies nicht in eigentlicher, wahrhafter und formaler Weise.42 Entsprechend hatte man sich dann auf die Kompromißformel geeinigt, daß durch die Taufe die Schuld der Erbsünde, d. h. die Sünde "quoad formale" hinweggenommen würde, daß aber die Sünde "quoad materiale" weiterhin im Menschen bestehen bleibe.43
Der IV. Artikel des Regensburger Buches ließ dann den Abschnitt über die Bedeutung der Erbsünde für den Getauften sogar mit dem programmatischen Satz beginnen, daß die Erbsünde durch das Bad der Wiedergeburt "aufgelöst" werde.44 Zwar wurde dann zunächst doch noch die Unterscheidung zwischen peccatum materiale und peccatum formale nachgereicht, doch während noch das Wormser Buch ganz im Sinne von Eck ersteres lediglich nicht als revera peccatum hatte gelten lassen wollen, hatte man in Regensburg das revera gestrichen, so daß es nun schien, als sei das peccatum materiale eben überhaupt keine Sünde mehr.45 Kein Wunder also, daß Melanchthon nach dem Scheitern der Verhandlungen am 25. Juni 1541 sich in einem Gutachten darüber beschwerte, das Regensburger Buch bekenne sich nicht klar dazu, daß auch in den Heiligen noch Sünde vorhanden sei.46 Fünf Jahre später hat dann das Dekret über die Ursünde die von Eck schon in Augsburg vertretene Position abschließend bestätigt, daß alles, was in wahrhafter und eigentlicher Weise Sünde sei, in der Taufe weggenommen werde und daß die verbliebene Konkupiszenz zwar von der Hl. Schrift Sünde genannt werde, dies aber nicht wahrhaft sei, sondern nur aus der Sünde sei und zur Sünde geneigt mache (can. 5).47
Auch an diesem Punkt ist der Fortschritt in der GER gegenüber der Gesprächslage des 16. Jahrhunderts recht bescheiden. Zu sehr weiß sich die römisch-katholische Theologie vom Tridentinum in die Pflicht genommen, als daß sie sich den mitunter recht wortakrobatischen Fesseln der damals definierten Lehre zu entwinden wagte. So wird in der GER unter Bezugnahme auf diese Ausführungen von Trient behauptet, daß die Taufgnade "alles was ,wirklich Sünde ... ist, tilgt (Röm 8,1)", und auf die seit 1530 übliche Konkupiszenz-Formel zurückgegriffen (§ 30,1).48 Der einzige wirkliche Unterschied zu Trient in § 30 liegt m. E. darin, daß in der GER zugestanden wird, daß diese verbliebene Neigung "objektiv Gottwidrigkeit ... ist" (§30,3). Dies ist ein Fortschritt in die richtige Richtung, auch wenn weiterhin nicht der Einsicht zugestimmt wird, daß auch der Gerechtfertigte Sünder bleibt. Doch es ist fraglich, ob diese terminologischen Kautelen als solche noch eine kirchentrennende Wirkung haben können, denn das, was "objektiv Gottwidrigkeit" ist, kann doch wohl nach biblischer und nach evangelischer Auffassung nichts anderes sein als eben Sünde. Doch von einem deutlichen Fortschritt oder gar einem Durchbruch kann in diesem Abschnitt der GER keine Rede sein.
4. Die Rechtfertigung "sola fide"
Auch der Streit um die Rechtfertigung "sola fide" hat eine lange und schmerzliche Tradition. Zwar findet sich die Wendung "allein durch den Glauben" in der Originalfassung des Augsburger Bekenntnisses nicht im Rechtfertigungsartikel selbst, sondern andernorts,49 doch ist sie gleichwohl die prägnanteste und damit auch die umstrittenste Kurzformel für das reformatorische Verständnis der Rechtfertigung. Umstritten ist dabei zwischen Katholiken und Protestanten nicht etwa das "durch den Glauben", sondern lediglich das Wörtchen "allein". Nun hängt zwar auch nach evangelischer Auffassung die Sache der Rechtfertigung nicht an einer bloßen Lehrformel, und schon gar nicht an dem einen Wörtchen "sola", doch wo diese Formel bewußt vermieden oder gar verworfen wird, da steht zu befürchten, daß damit auch ein anderes Verständnis der Sache einhergeht. Hat die GER hier eine Lösung anzubieten? Dies könnte man zunächst vermuten, wird doch einerseits das umstrittene Wort "allein" in diesem Zusammenhang zwar vermieden (§ 25,1), andererseits aber gemeinsam erklärt, daß "alles, was im Menschen dem freien Geschenk des Glaubens vorausgeht und nachfolgt, ... nicht Grund der Rechtfertigung [ist] und ... sie nicht [verdient]" (§ 25,4). Ein Fortschritt?
Ein Blick zurück in die Geschichte belehrt uns eines besseren. Der Satz von § 25,4 findet sich nämlich fast wörtlich bereits in den Augsburger Ausgleichsverhandlungen von 1530. Damals hatten die "Catholici" ebenfalls zugestanden, daß die Sündenvergebung durch den Glauben geschehe und nicht aufgrund der vorhergehenden oder nachfolgenden Verdienste. Dafür hatten die Protestanten ihrerseits von der Forderung Abstand genommen, daß das Wort "sola" unbedingt in die Konsensformel aufgenommen werden müsse.50 Doch dies, so sollte sich bald bei dem Gespräch über Art. XX herausstellen, war ein Fehler, weil die altgläubige Seite offenbar trotz der Überzeugung, die Rechtfertigung werde nicht "verdient", eine Lehre über die Rechtfertigung vertrat, die sich mit dem, was Melanchthon, Brenz, Schnepf und die übrigen protestantischen Ausschußmitglieder unter dem "sola fide" verstanden, beim besten Willen nicht vereinbaren ließ.51 Von daher ist gegenüber der Behauptung,§ 25,4 der GER sei "das lutherische ,allein aus Glauben" mit anderen Worten,52 Vorsicht angebracht. Zumindest in Augsburg erwies sich diese Einschätzung als trügerisch.
Daß der damals erzielte Konsens über die Rechtfertigung auf tönernen Füßen stand und nicht von Dauer sein konnte, hat auch noch einen zweiten Grund. Gemeint ist die in sich mehrdeutige, von Eck vorgeschlagene Kompromißformel, die Sündenvergebung geschehe formal durch die angenehm machende Gnade (gratia gratum faciens) und den Glauben und instrumental durch das Wort und die Sakramente.53 Während nämlich für die Protestanten Gnade und Glaube eins waren, verstanden die von der spätscholastischen Theologie geprägten Altgläubigen unter der gratia gratum faciens die eingegossene Liebe (caritas infusa),54 so daß für sie mit dieser Formel implizit doch die Rechtfertigung durch Glauben und Liebe behauptet worden war.55 Mit anderen Worten: Zwar hatte man eine Konsensformel gefunden, doch sie wurde gegensätzlich verstanden! Damit, so wissen wir es heute im Zeitalter der Konsens-Ökumene (hoffentlich) besser, ist für eine tatsächliche Einigung nun aber überhaupt nichts gewonnen.
Dies zeigte sich auch damals rasch. Ein besonders markantes Beispiel dafür ist der Rechtfertigungsartikel des Wormser Buches vom Dezember 1540. Dieser stimmt nun nämlich dem "sola fide" sogar ausdrücklich zu56, legt jedoch dar, daß diese Wendung nur in bezug auf die Wurzel der Rechtfertigung richtig sei, d.h. in bezug auf die Sündenvergebung und die erste Rechtfertigung (iustificatio prima), die ohne Verdienst und Gesetzeswerke durch den Glauben empfangen würde, während im Anschluß daran der Glaube nicht ohne die Liebe sein könne und auch nicht ohne seine Früchte, die Werke des Glaubens und der Liebe.57 Deshalb aber - und damit fällt das Wormser Buch trotz des "sola fide" sogar noch hinter den Augsburger Konsens zurück - könne auch von einer Rechtfertigung durch Werke gesprochen werden, die die Gerechtigkeit Christi in uns vervollkommne!58 Damit ließ sich nun freilich das "sola fide", wie es die protestantischen Stände verstanden, nicht mehr vereinbaren. Der angebliche Konsens in der Formulierung war nichts weiter als eine Perversion des ursprünglich damit Gemeinten.
In Regensburg setzte man deshalb in Art. V ganz neu an. Auffällig ist zunächst das wiederholt verwendete forensische Vokabular (imputari, reputari, acceptari, placere), doch ist damit das, was die Protestanten mit dem "sola fide" meinen, auch schon genügend abgesichert? Der Regensburger Text macht sich diese Wendung jedenfalls nun nicht mehr selbst zu eigen, sondern weist lediglich darauf hin, daß wer diese Worte gebrauchen wolle, zugleich auch auf die Lehre von der Buße, der Gottesfurcht und den guten Werken hinweisen müsse.59 Diese recht vage Formulierung wird jedoch durch den ebenfalls wiederholt auftauchenden Hinweis, daß nur der Glaube rechtfertige, der durch die Liebe wirksam sei (Gal 5, 6), bzw. daß niemand die Sündenvergebung erlange, wenn ihm nicht zugleich die Liebe eingegossen werde, eindeutig in Richtung auf eine Rechtfertigung durch Glauben und Liebe hin interpretiert.60 Daß Luthers Kritik am Regensburger Rechtfertigungsartikel genau hier ansetzte, wurde bereits notiert.61 Später hat dann das Konzil von Trient zwar ebenfalls an der Rechtfertigung "per fidem" festgehalten, aber nur in dem Sinne, daß der Glaube "die Grundlage und die Wurzel" (fundamentum et radix) der Rechtfertigung sei (cap. 8). Die Behauptung einer Rechtfertigung "sola fide" hingegen wurde von den Konzilsvätern ausdrücklich anathematisiert, da es neben dem Glauben auch einer Vorbereitung der menschlichen Willensregung bedürfe (can. 9).62
Vergleicht man nun die Formulierungen der GER hiermit, so muß man leider feststellen, daß auch an diesem Punkt die römisch-katholische Seite kaum über Trient hinausgegangen ist. Gemeinsam wird zwar erklärt, der Sünder werde "durch den Glauben ... gerechtfertigt" (§ 25,1), und es wird festgestellt, daß dieser Glaube "in der Liebe tätig" sei (§ 25,3), doch die Rechtfertigung "allein durch den Glauben" erscheint lediglich als Kennzeichen des lutherischen Verständnisses (§ 26,1). Dies ist um so schmerzlicher, als in "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" noch von "dem gemeinsam bejahten ,sola fide" gesprochen worden war (69,30).
Auch der oben erwähnte Satz der GER, daß alles Vohergehende und Nachfolgende die Rechtfertigung nicht verdiene (§ 27,4), geht über Trient nur insofern hinaus, als man damals von der Verdienstlichkeit nur die vorausgehenden Werke ausgeschlossen hatte, und zwar deshalb, weil man nach der ersten Rechtfertigung, die mit der Sündenvergebung verbunden war, noch mit einem Wachstum dieser Rechtfertigung rechnete; hierfür aber waren die guten Werke sehr wohl von Bedeutung.63 In der GER spricht die römisch-katholische Seite hingegen nur von einem "Wachstum in Gnade" (§ 38,1), während für sie mit "Rechtfertigung" ausschließlich die Auswirkung jener sündenvergebenden und erneuernden Gnadengabe gemeint zu sein scheint, die der Mensch in keiner Weise verdienen kann (§ 17), die ihm in der Taufe geschenkt wird (§ 27,2; 28,1) und auf die er zeitlebens angewiesen bleibt (§ 28,2).
Was nun die so verstandene Rechtfertigung anlangt, so wird von römisch-katholischer Seite in der GER ebenfalls exakt auf der Linie von Trient ("fundamentum et radix") festgehalten, daß "der Glaube für die Rechtfertigung fundamental [ist]; denn ohne ihn kann es keine Rechtfertigung geben" ( § 27,1). Nach evangelischer Auffassung hingegen ist der Glaube gerade nicht nur das notwendige Fundament der Rechtfertigung, sondern der Mensch wird allein durch den Glauben gerechtfertigt.64 Der von Trient gegen das "sola fide" geltend gemachten Vorbereitung des durch die Sünde geschwächten Willens durch die zuvorkommende Gnade zur Ermöglichung einer freien Zustimmung und Mitwirkung mit dieser Gnade zur Rechtfertigung65 wird in der GER insofern Rechnung getragen, als auch hier die römisch-katholische Seite darlegt, daß der Mensch an der "Vorbereitung auf die Rechtfertigung" mitwirke und "durch seine Zustimmung" sogar auch an deren Annahme. In Trient hatte dies noch bedeutet, daß das Maß der Gerechtigkeit eines jeden nicht nur vom Willen des Hl. Geistes abhängig ist, sondern eben auch von der "dispositio" und "cooperatio" eines jeden einzelnen.66 Eine solche für Protestanten anstößige Quantifizierung der Rechtfertigung wurde in der GER vermieden. Statt dessen heißt es, "daß Gottes Gnadengabe in der Rechtfertigung unabhängig bleibt von menschlicher Mitwirkung" (§ 24). Ebenso hat man auch auf das umstrittene Wort "frei" verzichtet und erklärt, man sehe in dieser Zustimmung "selbst eine Wirkung der Gnade und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften" (§ 20). Diese Klarlegungen der GER sind ein Fortschritt und eine gewisse Annäherung der römisch-katholischen an die evangelische Auffassung.67
Zusammenfassend kann also festgehalten werden, daß von römisch-katholischer Seite in der GER die von den lutherischen Bekenntnisschriften verurteilte Ansicht einer Mitwirkung bei der Annahme der Rechtfertigung aus eigenen Kräften mittels des freien Willens bewußt vermieden wurde, ebenso wie auch die Behauptung eines Wachstums der Rechtfertigung und der Gerechtigkeit, daß aber trotzdem das "sola fide" auch weiterhin abgelehnt und statt dessen der Glaube lediglich als für die Rechtfertigung grundlegend aufgefaßt wird.
5. Die guten Werke des Gerechtfertigten
Sind die guten Werke verdienstlich, oder sind sie es nicht? Auch hier haben wir es wieder mit einem alten Problem zu tun, über das man sich schon in Augsburg nicht zu einigen vermochte. Johannes Eck, der wichtigste Vertreter der Altgläubigen bei diesen Verhandlungen, erklärte damals, nach seiner Ansicht handele es sich bei diesem Streit um reine Wortklauberei. Doch ließen sich die Protestanten hiervon nicht überzeugen.68 Heute würde Eck mit seiner Behauptung bei manchen von ihnen wohl auf größere Zustimmung stoßen.69 Doch stimmt sie auch?
Die Römisch-Katholische Kirche jedenfalls hält in § 38,2 der GER ausdrücklich im Unterschied zu den Lutheranern an der Verdienstlichkeit guter Werke fest. Wohlgemerkt: Es soll damit nicht bestritten werden, "daß die Rechtfertigung selbst stets unverdientes Gnadengeschenk bleibt" (§ 38,3)! Ein Verdienen der Rechtfertigung war schon 1530 und dann erneut in Trient ausgeschlossen worden und wird selbstverständlich auch jetzt in der GER abgelehnt (§§ 17; 15,5; 19,3).70 Doch ist der Mensch erst einmal gerechtfertigt, dann, so die römisch-katholische Auffassung, kann er auch mit Hilfe der Gnade verdienstliche Werke vollbringen. Hier zeigt sich, daß die Rechtfertigung nach römisch-katholischer Auffassung eben noch nicht das Ganze des Heilsprozesses bezeichnet, sondern lediglich dessen Grundlage und Wurzel! Für das aber, was aus dieser Wurzel erwächst, sind die guten Werke von großer Bedeutung: Sie "tragen ... zu einem Wachstum in Gnade bei" ( § 38,1) und sind insofern "verdienstlich". - Dabei war und ist der Begriff "verdienstlich" keineswegs als solcher für die Protestanten unannehmbar. Spalatin, Melanchthon und auch Luther konnten durchaus einräumen, daß die guten Werke Lohn verdienen, freilich nur den Lohn des Gesetzes und nicht die Gnade und Gerechtigkeit.71 Daß jedoch damals auf altgläubiger Seite diese Trennlinie nicht so scharf gezogen wurde, sollte sich dann im V. Artikel des Wormser Buches zeigen, der mit seiner auf Gropper zurückgehenden Vorstellung einer iustitia operum, die auf die anfängliche Rechtfertigung folge und den Glauben vollende, für die Protestanten gänzlich inakzeptabel war.72
In Regensburg wurde deshalb dieser Artikel völlig neu formuliert. Gleichwohl findet sich der Gedanke des Wachstums der Gnade bzw. Seligkeit durch die guten Werke hier sogar noch pointierter als bisher. So wird zunächst in Anlehnung an Eph 4,15 erklärt, daß jene, welchen die Sünden vergeben seien, in allen Dingen auf Christus hin wachsen müßten, und zwar durch das Tun der guten Werke.73 Daß bei diesem "augmentum" nicht nur an ein ethisches Wachstum, an ein Wachstum der Auswirkung der Glaubensgerechtigkeit gedacht ist, ist offensichtlich, da gefolgert wird, daß aufgrund der Zunahme des Glaubens und der Liebe auch die Seligkeit derer größer sei, die mehr und größere Werke vollbrächten.74 Problematisch an dieser Aussage ist nun nicht nur die Vorstellung verschiedener Stufen der Seligkeit, sondern auch die Zunahme der caritas, da sie ja von altgläubiger Seite als gratia gratum faciens aufgefaßt wurde.
Ein solches "augmentum gratiae" durch die Verdienstlichkeit der guten Werke hatte dann das Tridentinische Rechtfertigungsdekret explizit zum Gegenstand des rechten Glaubens erklärt (can. 32). Der Glaube sei der "Anfang des menschlichen Heiles", dessen "Grundlage und Wurzel" (cap. 8), während der Gerechtfertigte anschließend mit Hilfe der guten Werke "mehr gerechtfertigt" werde und einen Zuwachs an Gerechtigkeit (in-crementum iustitiae) empfange (cap. 10). Die in der Rechtfertigung empfangene Gerechtigkeit werde durch die guten Werke "bewahrt" und "vermehrt", so daß die guten Werke eben nicht nur Früchte und Zeichen der Rechtfertigung seien, sondern auch die "Ursache ihrer Vermehrung" (can. 24).75
Eben als solche Früchte und Zeichen der Rechtfertigung aber verstanden und verstehen auch heute noch die Protestanten die guten Werke, wie es 39,3 der GER zu Recht notiert. Die Lehre des Konzils von Trient aber, "daß unsere guete Werk die Seligkeit erhalten, oder daß die entpfangene Gerechtigkeit des Glaubens oder auch der Glaube selbst durch unsere Werk entweder gänzlich oder ja zum Teil erhalten und bewahret werden", wurde von der Konkordienformel ausdrücklich verworfen.76 Auch hatte man damals in bewußter Abgrenzung zu der Aussage, der Glaube sei nur Wurzel und Anfang des Heiles, erklärt, daß es zwar nötig sei, gute Werke zu tun, da der Glaube nicht in jenen bleiben könne, die vorsätzlich in Sünden verharrten,77 daß jedoch ebenso wie die Gerechtigkeit durch den Glauben empfangen werde, sie auch nur durch ihn bewahrt werden könne, so daß der Glaube somit "Anfang, Mittel und Ende" der Gerechtigkeit und der Gnade sei.78
Leider hat nun die römisch-katholische Kirche in § 38,1 der GER in Anlehnung an can. 24 des Rechtfertigungsdekrets eine Formulierung aufgegriffen, die von der soeben zitierten Verwerfung der Konkordienformel getroffen wird.79 Das DNK des LWB hat dieses Problem in den dem Beschlußvorschlag vom 4.6.1997 bzw. vom 20.11.1997 beigegebenen "Erläuterungen" zwar benannt, zugleich aber unter Berufung auf die Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses der VELKD und des DNK des LWB vom 13.9.1991 zum Dokument "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" erklärt, daß die Verwerfung von FC IV, 35 dann § 38,1 nicht treffe, wenn dieser Satz in dem Sinne verstanden würde, "daß der Gerechtfertigte dafür verantwortlich ist, die empfangene Gnade nicht zu verspielen, sondern in ihr zu leben".80 Leider steht jedoch in § 38,1 nicht diese in der Tat problemlos akzeptierbare Aussage, sondern etwas ganz anderes, nämlich der Satz: "Nach katholischer Auffassung tragen die guten Werke, die von der Gnade und dem Wirken des Heiligen Geistes erfüllt sind, so zu einem Wachstum in der Gnade bei, daß die von Gott empfangene Gerechtigkeit bewahrt und die Gemeinschaft mit Christus vertieft werden".
Auch die vom Straßburger Institut für Ökumenische Forschung versuchte Bedeutungsdifferenzierung des Wortes "bewahren" ändert nichts an der Tatsache, daß sich § 38,1 und FC IV, 35 zunächst einmal wörtlich widersprechen. Dies allein sollte eigentlich schon Grund genug sein, eine solche Formulierung zu vermeiden. Daß sie überhaupt in den Text der GER gelangt ist, hat einen ebenso einfachen wie beschämenden Grund: Die Verwerfung der FC war den lutherischen Kommissionsmitgliedern bei der Formulierung der endgültigen Textfassung im Januar 1997 in Würzburg nicht bekannt.81 Was nun aber die inhaltliche Argumentation des Instituts anlangt, so trägt der Hinweis, daß can. 24 die guten Werke ",Ursache nur in bezug auf das Wachstum der Rechtfertigung [nennt]", gar nichts aus, da in FC IV, 35 der Begriff ,Ursache überhaupt nicht fällt, sondern erklärt wird, daß nur der Glaube und nicht die Werke die Gerechtigkeit erhalte. Wenn es im Kommentar des Instituts dann aber weiter heißt, daß das Wachstum, von dem can. 24 spreche, das meine, was in § 38,1 als "Vertiefung der Gemeinschaft mit Christus" bezeichnet worden sei, verwandelt sich dieser Rettungsversuch unter der Hand in sein schieres Gegenteil.82 Denn wie oben ausführlich dargelegt, meint das Rechtfertigungsdekret im allgemeinen und can. 24 im besonderen mit dem Stichwort "Wachstum" eine Zunahme der Rechtfertigung, der Gerechtigkeit und der Gnade. Das aber kann es nach evangelischer Auffassung nicht geben!
Gerade deshalb ist es ja auch so mißlich, daß gleich der nächste Abschnitt der GER mit dem Satz beginnt: "Auch bei den Lutheranern gibt es den Gedanken eines Bewahrens der Gnade und eines Wachstums in Gnade und Glauben" ( § 39,1). Zwar wird sowohl in § 38 als auch in § 39 von einem Wachstum "in" Gnade gesprochen und nicht von einem Wachstum "der" Gnade. Auch wird im nächsten Satz klargestellt, daß die Gerechtigkeit als solche "immer vollkommen" sei, und nur ihre "Auswirkung" wachse (§ 39,2). Doch wie mißverständlich diese Formulierung dennoch ist, zeigt die Tatsache, daß selbst der Vorsitzende des DNK des LWB, H. Hirschler, in seinem Bericht vor der VELKD-Synode in Kühlungsborn erklärt hat, es könne "nach lutherischem Verständnis kein Wachstum in der Gnade geben".83 Sprachlogisch ist die Wendung "Wachstum in ..." ja durchaus mit der Bedeutung "Wachstum des/der ..." verbunden, wie etwa das Beispiel des "Wachstums im Glauben" zeigt.
Nun wird im Quellenanhang zu § 39 der GER auf die erwähnte Stellungnahme zu "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" verwiesen. Dort hatte man behauptet, die Bekenntnisschriften könnten "durchaus von einem Bewahren der Gnade und einem Wachstum in ihr sprechen" und auf drei angebliche Belegstellen verwiesen.84 Tatsächlich findet sich jedoch an keiner der drei Stellen die Behauptung eines Wachstums in der Gnade, wohl aber die Aussage, daß der Glaube durch die guten Werke im täglichen Kampf gegen die Sünde "geübet werde, wachse und zunehme".85 Wenn nun aber somit für die GER mit dem Wachstum im Glauben erklärtermaßen auch das Wachstum des Glaubens gemeint ist, muß dann nicht auch in analoger Weise vom Wachstum in Gnade auf ein Wachstum der Gnade geschlossen werden? Hier hat sich offenbar die lutherische Seite allzu rasch auf eine "konsensfähige" Formulierung eingelassen, ohne daß diese auch nur in geringster Weise durch die Bekenntnisschriften gedeckt wäre. Daß es sich dabei auch noch (ähnlich wie bei der Konsensformel "per gratiam gratum facientem et fidem" von 1530) um eine Wendung handelt, die - zumindest im Lichte von Trient interpretiert - für die römisch-katholische Seite etwas ganz anderes bedeutet als für die lutherische, vergrößert die Problematik von § 39,1 noch zusätzlich.
Eines dürfte freilich deutlich geworden sein: Hinsichtlich der Bedeutung der guten Werke des Gerechtfertigten besteht in der GER kein ausreichender Konsens, im Gegenteil! Aufgrund von § 38,1 kann eine lutherische Kirche, zu deren Bekenntnisschriften die FC zählt, der Aussage von § 41 nicht uneingeschränkt zustimmen, daß die "Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften ... nicht die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der römisch-katholischen Kirche [treffen]". Zumindest hier hätte die jetzige Fassung der GER noch geändert werden sollen.86 Doch sollte der jetzt vorliegende Text der GER tatsächlich offiziell paraphiert werden, müssen sich Lutheraner und Katholiken auch weiterhin mit aller Kraft für eine Verständigung über die Rechtfertigungslehre einsetzen. Denn der jetzt erreichte Konsens ist nur ein Anfang. Ein "Durchbruch" oder ein "Mutationssprung" der Ökumene ist mit der GER nicht erreicht. Wenn evangelischerseits solches dennoch hin und wieder behauptet wird, so dürfte dies seine Ursache hauptsächlich in dem leider immer noch weitverbreiteten protestantischen Vorurteil haben, die römisch-katholische Kirche habe in Sachen Rechtfertigung im Grunde bisher eine pelagianische Irrlehre vertreten.
Als Fortschritt ist es jedoch zu bewerten, daß überhaupt eine erste gemeinsame Erklärung beider Konfessionen zur Rechtfertigungslehre zustande kommen soll. Auch wenn man inhaltlich in vielen Punkten noch nicht sehr viel weiter ist als im 16. Jahrhundert, so darf doch nicht vergessen werden, daß die damals ausgearbeiteten Konsensformulierungen nie ratifiziert worden waren. Das abgrundtiefe gegenseitige Mißtrauen, das dies immer wieder verhindert hat, ist - gottlob! - inzwischen einem echten Willen zur Verständigung und zur Aussöhnung gewichen.
Bei all dem Streit um das jetzt vorliegende Konsensdokument sollte aber eines unter gar keinen Umständen vergessen werden: daß es bei der Rechtfertigungslehre nicht um ein akademisches Glasperlenspiel geht, sondern um Gottes liebende und vorbehaltlose Zuwendung in Jesus Christus zu jedem einzelnen Menschen, die uns im Glauben Trost, Zuversicht und Gewißheit angesichts der eigenen Schwachheit und Unvollkommenheit schenkt.87 Aus dieser Befreiung von der Knechtschaft der eigenen Leistung und dem Zwang zum Erfolg aber erwächst wahrhaft christliche Freiheit. Möge die GER zu dieser Erkenntnis beitragen.
Fussnoten:
1 WA.B 9, 406, 8-407, 33.
2 WA.B 9, 408, 95.
3 WA.B 9, 398, 37-45.
4 WA.B 9, 409, 37-43. Im Juni 1540 war Melanchthon auf dem Weg zum Hagenauer Konvent schwer erkrankt, nachdem bekannt geworden war, daß er bei der Eheschließung Philipps von Hessen als Trauzeuge fungiert hatte.
5 WA.B 9, 460, 4 f.
6 WA.B 5, 405, 17-22; vgl. jedoch auch das Postscriptum, ebd., 407, 87-89: "Ego sicuti semper scripsi, omnia eis concedere paratus, tantum solo euangelio nobis libere permissio".
7 Zum Text vgl. CR 4, 198-201; ARC 6, 52, 34-54, 36; Bucers Deutsche Schriften [BDS] IX/1, 397, 13-401,18.
8 Dies betraf besonders die Worte "liberum arbitrium" und "fides efficax per caritatem", vgl. WA.B 9, 438, 31-36.
9 WA.B 9, 461, 70-462, 93.
10 Vgl. Melanchthons Bericht über die Verhandlungen vom 25.6.1541 (CR 4, 413-419).
11 Vgl. CR 4, 285.
12 Vgl. CR 4, 450-455 u. 479-505.
13 Veröffentlicht in: Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für Ökumenische Forschung, Straßburg, hrsg. v. LWB, Straßburg 1997, 55-77; LM 36 (1997/10), 49-58; KNA-Dok. 4, 4.3.1997.
14 So C.-J. Roepke, Unterwegs zur versöhnten Verschiedenheit, epd-Dokumentation 7/1998, 36, unter Verwendung einer Formulierung von H. Hirschler.
15 H. Schmoll in der F.A.Z. vom 29.12.1997 (epd-Dokumentation 3/ 1998, 55).
16 Th. Mahlmann in der F.A.Z. vom 20.11.1997 (epd-Dokumentation 1/1998, 39).
17 R. Leicht in Die ZEIT vom 29.1.1998 (epd-Dokumentation 11/98, 30).
18 So das von über 150 Hochschullehrern unterzeichnete "Votum" zur GER (epd-Dokumentation 7/1998, 2).
19 So der Titel der von A. Kleyn, H. Meyer, H. Pöhlmann, H. Schütte und F. G. Untergaßmair unterzeichneten Verteidigung der GER (KNA-ÖKI 43/1997, 12).
20 So der Schweizerische Evangelische Kirchenbund in seiner Stellungnahme zur GER (zitiert nach KNA-ÖKI 6/1998, 2); vgl. auch H. Timm u. W. Steck, Beinahe wie damals in Wittenberg - Streit ja, aber nicht so!, in Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt vom 20.2.1998 (epd-Dokumentation 11/1998, 44-46).
21 E. Jüngel, Um Gottes Willen - Klarheit!, ZThK 94 (1997), 405 f.; vgl. I. Dalferth, Kairos der Ökumene? (F.A.Z. 26.9.1997), epd-Dokumentation 46/1997, 54; Votum der Hochschullehrer, a. a. O. (Anm. 18), 1 f.
22 H. Kalinna in idea-spektrum, Nr.8, 18.2.1998; vgl. auch den Leserbrief von D. Wendebourg in der F.A.Z. vom 11.2.1998 (epd-Dokumentation 11/1998, 52). Das Regensburger Buch basiert wohl auf einem Erstentwurf von Gropper, der in geheimen Verhandlungen von Bucer, Contarini und anderen überarbeitet worden war.
23 Vgl. das Votum, a. a. O. (Anm. 18), 1.
24 Daß hierüber selbst bei anerkannten Ökumenikern und sogar bei Mitgliedern der Redaktionskommission der GER keine restlose Klarheit zu herrschen scheint, ist bedenklich, vgl. A. Kleyn/H. Meyer/H. Pöhlmann/H. Schütte/F. G. Untergaßmair, Epochemachendes Dokument, a. a. O. (Anm. 19), 13: "Unrichtig ist auch die Auskunft [von I. Dalferth], die Lehrverwerfungen des Tridentinums gegen die Lutheraner würden in der katholischen Kirche ,uneingeschränkt weitergelten, was doch gerade die ,Gemeinsame Erklärung bestreitet ..."
25 Den gleichen Weg hatte man schon bei der Leuenberger Konkordie (Nr. 27) beschritten.
26 Vgl. z. B. I. Dalferth, a. a. O. (Anm. 21), 54 f. u. 57.
27 DH 1530. 1547. 1561. Das Dokument "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" hat an diesem Punkt ausdrücklich "nicht nur eine unterschiedliche Ausdrucksweise oder Sprachregelung" gesehen, sondern einen "Gegensatz im Sachverständnis" (53, 29-34). Allerdings schärfte man auch in Trient ein, daß der Gerechtfertigte nicht auf sich selbst vertrauen solle (DH 1543).
28AC IV, 2 (BSLK 159,4 f.) u. SD III, 6 (BSLK 916,35 f.)
29 Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann (WA 39 I, 205, 20f.).
30 Diese Formulierung ist neueren Datums; Luther selbst formulierte in seiner Auslegung von Ps 130, 3 f: "isto articulo stante stat Ecclesia, ruente ruit Ecclesia" (WA 40 III, 352, 3); vgl. a. Praefatio in prophetam Amos I. Brentii expositio (WA 30 II, 650, 19-21) sowie ASm II (BSLK 415, 21 f.).
31 LV 75,26-31: "Die ,Rechtfertigungslehre wird damit zum kritischen Maßstab, an dem sich jederzeit überprüfen lassen muß, ob eine konkrete Interpretation unseres Gottesverhältnisses den Namen ,christlich beanspruchen kann. Sie wird zugleich zum kritischen Maßstab für die Kirche, an dem sich jederzeit überprüfen lassen muß, ob ihre Verkündigung und Praxis dem, was von ihrem Herrn vorgegeben ist, entspricht".
32 Vgl. hierzu Anm. 9 der GER, die diese Frage bewußt offenhalten möchte.
33 DH 1563-1565.
34 Die GER übersetzt hier "hyper tes eudokias" mit "noch über euren guten Willen hinaus". Hier hätte ein Blick in Art. V des Wormser Buches den Verfassern der GER helfen können, wo diese Wendung mit "pro sua bona voluntate" bzw. "nach seinem guten Willen" (BDS IX/1, 363, 12 f. bzw. 362, 22) wiedergegeben worden war.
35 CA XII, 10 (BSLK 67, 20-23); ob diese Verwerfung die römisch-katholische Lehre trifft, ist eine andere Frage (vgl. jedoch DH 1580. 1704).
36 DH 1546.
37 DH 1562.
38 DH 1544. 1578.
39 DH 1529.
40 DH 1535. 1574. Die GER spricht hier lediglich von einem "Wachstum in Gnade" (s. u. Abschnitt 5)
41 Nach cap. 4 des Rechtfertigungsdekrets von 1547 (DH 1524) ist mit "iustificatio" die "translatio" vom Stand der Sünde in den Stand der Gnade gemeint, die nicht ohne die Taufe geschehen könne.
42 Vgl. Ecks Gutachten über die CA bei G. Müller, Johann Eck und die Confessio Augustana, QF 38 (1958), 225: "At morbus remanens vitiosa scilicet concupiscentia, licet ex peccato relicta et ad peccatum inclinans et ob hoc peccatum dici possit, sicut manus scriptura. Tamen nec proprie nec vere aut formaliter est peccatum..."
43 Vgl. die Berichte von Vehus (E. Honée, Der Libell des Hieronymus Vehus zum Augsburger Reichstag 1530, Münster 1988, 213 f. u. 283) und Spalatin (K. E. Förstermann, Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, Bd. 2, Halle 1835, 224). Interessanterweise hielt Melanchthon trotz des baldigen Scheiterns der Ausgleichsverhandlungen an der Rede vom peccatum materiale fest, vgl. AC II, 36 (BSLK 154, 7-10). Bei der Wormser Disputation im Januar 1541 wurden von Eck diese Aussagen von 1530 fast wörtlich wiederholt (CR 4, 78).
44 BDS IX/1, 347, 16 f.: "Dissolvitur autem hoc originale peccatum per lavacrum regenerationis et renovationis in verbo vitae per meritum passionis Christi ..."
45 Vgl. BDS IX/1, 349, 1-10 mit Anm. b): "... reliquum huius malj non imputatur in peccatum. Neque est hoc malum in ijs, qui Christo insitj sunt, reuera et form[ale] peccatum, propterea quod illos propter christum nullo reatu obstringit ..." (Worms) "... reliquum huius malj non imputatur in peccatum Neque est peccatum, quod eos vllo reatu, qui propter christum sublatus est, obstringat ..." (Regensburg).
46 CR 4, 418.
47 DH 1515.
48 S. o. Anm. 42. Die Berufung auf Röm 8,1 ist freilich nicht ganz sachgemäß, da dort lediglich von der "Verdammnis" die Rede ist, welche auch nach evangelischer Auffassung in der Taufe hinweggenommen wird.
49 In der Fassung von 1530 im Rahmen eines Ambrosiasterzitates (PL 17, 185) in CA VI, 3 (BSLK 60, 16) sowie in CA XX, 9 (BSLK 76, 28 f.; im lateinischen Text: tantum fide); in der für das Wormser und das Regensburger Religionsgespräch maßgeblichen Fassung hingegen ist das Ambrosiasterzitat nach CA IV gewandert (CR 26, 353).
50 Vgl. die "Responsio ad calumnias eorum, qui se catholicos vocant": "In quarto articulo Lutherani non concesserunt, quod scriptura non habeat hoc, sed sola fide nos iustificari. Imo allegauerunt textus Rom. 3. Sed aduersarii concesserunt, quod fide contingat remissio peccatorum non propter merita praecedentia, neque sequentia. Hoc concesso, dixerunt Lutherani, se non pugnare de uocabulo SOLA ..." (F. W. Schirrmacher, Briefe und Acten zu der Geschichte des Religionsgespräches zu Marburg 1529 und des Reichstages zu Augsburg 1530..., Gotha 1876, 254).
51 Deshalb reihte Melanchthon Anfang September, d. h. nur zwei Wochen nach der Einigung über Art. IV-VI, diese wieder unter die unverglichenen Artikel ein (Förstermann, a. a. O. [Anm. 43], 463).
52 So H. Hirschler in seinem Brief an die Unterzeichner der Erklärung zur GER (KNA-ÖKI 8/1998, 3).
53 Vgl. Vehus (E. Honée, a. a. O. [Anm. 43], 214 f. u. 285) und Spalatin (K. E. Förstermann, a. a. O. [Anm. 43], 227).
54 Vgl. G. Biel, In I. lib. Sent. d 17 q 3 a 1 n 1 A.
55 So auch V. Pfnür, Einig in der Rechtfertigungslehre?, Wiesbaden 1970, 263.
56 BDS IX/1, 381, 14-17.
57 BDS IX/1, 379, 11-20; 381, 18-383, 8.
58 BDS IX/1, 389, 3-6.
59 BDS IX/1, 401, 15 f.: "Qui autem dicunt sola fide iustificamur simul tradere debent doctrinam de poenitentia, de timore Dej, de iudicio dej, de bonis operibus, ut tota summa predicationis constet..." Kurfürst Johann Friedrich kritisierte dieses "muß" als Relativierung des "sola" in seinem Brief an Luther, vgl. WA.B 9, 398, 20-30.
60 BDS IX/1, 399, 8. 13. 16 f.: "per fidem uiuam et efficacem iustificarj peccatorem ... quod tamen nulli obtimgit, nisi etiam simul infundatur charitas sanans voluntatem ... Jta quod fides quidem iustificans est illa fides, quae est efficax per charitatem."
61 S. o. Anm.8. Auch die Stände der CA wiesen in ihrer Ablehnung des Buches auf diesen Punkt hin (CR 4, 485).
62 DH 1532 u. 1559.
63 DH 1532 u. 1535; vgl. hierzu unten Abschnitt 5.
64 Dies hatte Melanchthon dem in dieser Hinsicht schwankenden Brenz in einem Brief vom 12.5.1531 eingeschärft: "Sic tu imaginaris, fide iustificari homines, quia fide accipiamus Spiritum Sanctum, ut postea iusti esse possimus impletione legis, quam efficit spiritus sanctus. Haec imaginatio collocat iustitiam in nostra impletione ... Nam haec ipsa novitas non sufficit. Ideo sola fide sumus iusti, non quia sit radix, ut tu scribis, sed quia apprehendit Christum, propter quem sumus accepti, qualis sit illa novitas, etsi necessario sequi debet ..." (CR 2, 501 = WA.B 6, 99, 6 - 100, 17). Von daher muß die Behauptung, daß das "fundamental" von § 27,1 "der Sache nach" dasselbe meine wie das "sola fide" (H. G. Pöhlmann, Hermeneutik des Verdachts - Die Bunkermentalität evangelischer Theologen [EvKom 1/1998], epd-Dokumentation 7/1998, 19) entschieden zurückgewiesen werden!
65 Vgl. DH 1525 f. 1528. 1554. 1559.
66 DH 1529.
67 Dieses Zugeständnis dürfte auch dadurch motiviert sein, daß in SD II, 77 (BSLK 904, 4-18) ein solches Mitwirken des freien Willens aus eigenen Kräften an der Annahme oder Erhaltung der Gnade verworfen worden war.
68 Vgl. den Bericht von Vehus (E. Honée, a. a. O. [Anm. 43], 300) u. Spalatin (K. E. Förstermann, a. a. O. [Anm. 43], 224 u. 232). Melanchthon hat hierauf in AC 4, 362 (BSLK 228, 36-38) Bezug genommen: "Wir aber zanken nicht um das Wort Lohn, sondern von diesen großen, hohen, allerwichtigsten Sachen ...."
69 Vgl. W. Radatz in Die ZEIT vom 29.1.1998; vgl. auch den o. Anm. 20 zit. Beitrag von H. Timm und W. Steck. Auch W. Pannenberg hat in "idea" am 5.2.1998 erklärt, hinsichtlich der Verdienstlichkeit der guten Werke handele es sich doch wohl um nicht mehr "als eine Differenz der Sprechweise" (epd-Dokumentation 11/1998, 40).
70 "Verdienstursache" der Rechtfertigung ist allein Jesus Christus (DH 1529); vgl. a. DH 1532. Auch wenn es sich um einen wichtigen gemeinsamen Punkt handelt, stellt also gerade diese Position der GER keinen Fortschritt dar.
71 Vgl. Spalatins Grundschrift der Apologie (CR 27, 279), Melanchthons Überarbeitung derselben (ebd., 282), den Text der Ed. princeps von AC IV, 194 u. 367 (BSLK 198, 12-15; 229, 44 f.) sowie Luthers Aussage, daß die guten Werke "unter dem Schatten der Verheißungen und den Flügeln der Gnade gefällig und verdienstlich" seien, aber nicht selbst Gnade und Rechtfertigung verschaffen würden (WA 30 II, 667, 30-37). In der in Worms und Regensburg maßgeblichen Fassung der CA findet sich das "mereri praemia" in Art. VI u. XX (CR 26, 355 u. 369).
72 BDS IX/1, 355, 17-19: "Alia est Iustificatio operum ex indeptae fidej et charitatis radice promanantium et ipsam fidem, Vt diuus Jacobus ait, consumantium ..."; 397, 1 f.: "Et propterea non est absurdum, dicere quod renatj per huiusmodi opera fidej et charitatis sanctificentur et iustificentur, modo fiant in fide ..."
73 BDS IX/1, 401, 3-6.
74 BDS IX/1, 401, 8-14: "Jdeoque, quamuis haereditas vitae aeternae propter promissionem debeatur renatis etiam cum primum In Christo renati sunt, nihilominus reddit deus etiam bonis operibus mercedem ... Et amplior et maior foelicitas erit eorum, qui maiora et plura opera fecerunt, propter augmentum fidej et charitatis, in qua creuerunt huiusmodj exercitijs."
75 DH 1532. 1535. 1574. 1582.
76 SD IV, 35 (BSLK 949, 17-22); vgl. DH 1574.
77 SD IV, 33 (BSLK 948, 1-23); vgl. AC XXI, 13 (316, 7-18).
78 SD IV, 34 (BSLK 948, 38); 35 (949, 10-14).
79 Daß H. Meyer in seiner Verteidigung der GER (Ja ohne Vorbehalt - Konsens in der Rechtfertigungslehre erreicht [EvKomm 1/98], epd-Dokumentation 7/1998, 18) behaupten kann, Trient spreche nicht vom "Bewahren", sondern nur vom "Vermehren der Gnade", ist angesichts des Wortlauts von can. 24 ein Rätsel. Daß er dann aber auch noch den Wortlaut der GER dadurch salvieren zu können meint, daß er irrtümlich die Väter der FC des Irrtums zeiht und offenbar meint, eine Verwerfung wäre schon allein dadurch aufgehoben, daß sie die andere Seite nicht träfe (worin Meyer indes gerade irrt!), ist äußerst bedenklich, hat er doch an anderer Stelle ebenfalls irrtümlich erklärt, die Trienter Verwerfungen gegen die Lutheraner würden laut GER nicht uneingeschränkt weitergelten (s. o. Anm. 19).
80 Lehrverurteilungen im Gespräch. Die ersten offiziellen Stellungnahmen aus den evangelischen Kirchen in Deutschland, Göttingen 1993, 94, 3-5. Der ganze Absatz ist ebenfalls in den der GER beigegebenen "Quellen" abgedruckt. Die "Erläuterungen zum Beschluß" sind veröffentlicht in epd-Dokumentation 46/1997, 29-31.
81 Vgl. H. Hirschler in seinem Bericht an die Generalsynode der VELKD am 19.10.1997: "Wir haben erst nach Würzburg II gemerkt, daß der § 38, in dem die guten Werke zu einem Wachstum in der Gnade beitragen, ... direkt von einer Verwerfung in den lutherischen Bekenntnisschriften getroffen [wird]. Das ist auch berechtigt. Denn es kann nach lutherischem Verständnis kein Wachstum in der Gnade geben" (epd-Dokumentation 49/1997, 36).
82 Kommentar, a. a. O. (Anm. 13), 50.
83 S. o. Anm. 81.
84 Stellungnahme, a. a. O. (Anm. 80), 94, 5-8.
85 AC IV, 189 (BSLK 197, 53 f.); XII, 38 (258, 57-259, 1); die dritte Stellenangabe ("Ep. VI,4: BSLK 794,13") ist fehlerhaft. Wahrscheinlich ist Ep. VI, 3 gemeint; dort ist jedoch weder von Gnade oder Glauben noch von Wachstum oder von guten Werken die Rede!
86 Vgl. R. Flogaus, Die Chance nützen - und den Text verbessern!, epd-Dokumentation 11/1998, 22-29.
87 Vgl. AC IV, 2 f. (BSLK 159, 4-14); 60 (171, 53-172, 6); 62 (172, 39-49); 85 (178, 11-15).