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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

61–63

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Herder, Johann Gottfried

Titel/Untertitel:

Briefe. Elfter Band: Kommentar zu den Bänden 1-3. Bearb. v. G. Arnold. Weimar: Böhlaus Nachf. 2001.

Verlag:

Weimar: Böhlaus Nachf. 2001. 664 S. gr.8 = Johann Gottfried Herder Briefe Gesamtausgabe, 1763-1803. Lw. Euro 99,90. ISBN 3-7400-1178-5.

Rezensent:

Christoph Bultmann

In stetiger, historisch-philologischer Arbeit ist an der Stiftung Weimarer Klassik bzw. der Vorgängerinstitution, den Forschungsstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, durch Wilhelm Dobbek und Günter Arnold eine Gesamtausgabe der Briefe Johann Gottfried Herders erarbeitet worden (vgl. E. Pältz in ThLZ 106 [1981], 545-551; 114 [1989], 401-414). Der erste Band erschien 1977, der achte Band 1984. Nach der Wiederauffindung von Manuskripten in der Jagiellonen-Bibliothek der Universität Krakau wurde 1988 als Band 9 ein Ergänzungsband publiziert, im Jahre 2001 folgte schließlich als Band 10 ein substanzieller Registerband. Neben der neuen kommentierten Werkausgabe im Deutschen Klassiker Verlag (Frankfurt a. M. 1985-2000), der Herder-Bibliographie (bearbeitet von D. Kuhles, Stuttgart 1994) und ihren Fortsetzungen im Herder-Jahrbuch (Columbia, SC, 1/1992, dann Stuttgart 2/1994-6/ 2002 usw.) sowie dem Nachlassverzeichnis für den Bestand in der Staatsbibliothek Berlin (bearbeitet von H. D. Irmscher und E. Adler, Wiesbaden 1979) ist die Briefausgabe die wichtigste Bereicherung für die Materialbasis einer theologiegeschichtlichen Forschung, die sich der Aufklärung als einer nicht zuletzt durch Johann Gottfried Herder (1744-1803) geprägten Epoche evangelischer Theologie zuwenden will.

Eine Briefausgabe solchen Umfangs verlangt gewichtige editorische Entscheidungen. So wurde auf den Abdruck der Briefe der Korrespondenzpartner an Herder verzichtet, und nur im Anhang der jeweiligen Bände finden sich unter den Siglen B[ezugsbrief] und A[ntwortbrief] Hinweise auf die Fundstellen oder Aufbewahrungsorte der zu einem großen Teil in anderen Zusammenhängen gedruckten Briefe. Der Registerband, dessen Hauptbestandteil ca. 600 Seiten zu den in Herders Briefen erwähnten "Personen und ihren Werken" umfasst, ist bereits ein unschätzbares Kompendium der Gelehrten- und Publizistenwelt des 18. Jh.s. Doch ist bei der Stiftung Weimarer Klassik zu Recht erkannt worden, dass die Lektüre der oft andeutungsreichen Korrespondenz eines so vielseitigen Autors wie Herder eine Domäne weniger Spezialisten bliebe, würden die Quellentexte nicht durch kurze Kommentierungen erschlossen. Mit Band 11 liegt nun der auf die Briefbände 1-3 bezogene erste Teil dieser Kommentierung vor, die punktuell das Arbeiten mit der Ausgabe besonders für jene Leser erleichtert, die einen Einstieg in die Beschäftigung mit Herder und darüber hinaus der Ideengeschichte des 18. Jh.s suchen.

Auf einer ersten Ebene bietet G. Arnold in seinem Kommentar schlichte Worterläuterungen. Hatten die Herausgeber im Druck schon ein Wort wie "Falliss." zu "Fallissements" ergänzt, so findet der Nicht-Spezialist der Finanzgeschichte jetzt im Zeilenkommentar zur Stelle die Bedeutung "Bankrott, Zahlungsunfähigkeit von Handlungen und Banken", statt sie nach dem Kontext vermuten oder in einem Lexikon aufsuchen zu müssen. Ob der Leser noch darüber hinaus etwas über die ökonomische Situation im Januar 1773 erfahren sollte, wenn Herder seinem Verleger Hartknoch von den "gegenwärtig obhandnen großen Falliss." schreibt, wäre eine Ermessensfrage; Kommentarerläuterungen ließen sich natürlich nahezu unendlich steigern - cui bono? Etwas weitergehend ist im Vergleich die Erläuterung dazu, dass Herder vom Eintreffen eines Wechsels gerade in einem Augenblick berichtet, als er eine Unterhaltung darüber geführt habe, "ob man Irgend Jemand Providenz demonstriren dörfe? könne? u. solle?". G. Arnold notiert zum Lemma "Providenz demonstriren": "Die göttliche Vorsehung mit Vernunftgründen beweisen, in theologischer Hinsicht ein ketzerisches Unterfangen, da Gottes Wege unerforschlich sind", doch darf man annehmen, dass Herders Unterhaltung zum Thema etwas weniger eindeutig endete. Ergänzend folgt ein Verweis auf zwei weitere Passagen desselben Briefes sowie auf Herders Bückeburger Geschichtsphilosophie (Auch eine Philosophie der Geschichte [...]). Auf einer zweiten Ebene enthält der Kommentar zahlreiche Querverweise auf andere Briefe Herders oder seiner Korrespondenzpartner. Hier zeigt sich die unerhörte Vertrautheit des Bearbeiters mit der Welt Herders. Die Angaben lassen die Korrespondenz als ein dichtes Gewebe erscheinen und steigern, lässt man sich darauf ein, die Intensität der Lektüre. Zeitereignisse, literarische Leistungen, Kunde und Klatsch jeder Art gewinnen ein beachtliches Maß an Klarheit.

Auf einer dritten Ebene werden Anspielungen auf die biblische oder die antike griechische und römische Literatur entschlüsselt. Wenn von Hartknochs "Ackerschweiß seiner Stirn" die Rede ist, wird man im theologischen Seminar noch wissen, wie es zu der Redensart kommt, im germanistischen dagegen dürfte die Stellenangabe "1. Mose 3,19" sicher willkommen sein. Umgekehrt wären Germanisten vielleicht mit der Redensart von dem "löcherichten Kessel" und der "unbrauchbaren Kaffeemühle" vertraut, während wohl von beiden Seiten hinter den "Taborschen Bücherkloak" nur ein Fragezeichen zu setzen ist (vielleicht könnten Anglisten hier weiterhelfen). Ferner, wer außer dem Empfänger C. F. Nicolai wüsste schon, was ein "dictator figundae clavis in der Anarchischen Republik des Deutschen Musenwesens" sein könnte, wenn der Herausgeber nicht auf den Bericht bei Livius (Buch VII, Kap. 3) über ein Ritual verwiese, das David Hume zudem 1757 in seiner Natural History of Religion als ein schönes Beispiel für den ungünstigen Einfluss von Popularreligion auf die Moralität zitiert hatte? Andererseits ist es zwar richtig, dass Herder seine Arbeit an der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts meint, wenn er seinen Verleger vertröstet, "wer weiß, ob Ihr Moses je mit seinen Gesetztafeln aus der Höle oder von der Dampfspitze herab kommen seht, auf welcher er sich kümmert, sinnt, u. dichtet", ein Hinweis auf Ex 33,21 f. und 34,4 f. (oder 19,18) hätte aber dem Verständnis dieses Mosebildes nicht geschadet (allerdings führt ein Querverweis auf Ex 24,12.18).

Die wenigen Beispiele aus Bd. 2, Nr. 149 und 150, bzw. Bd.11, 402-405, dürften deutlich machen, um was für eine Art Arbeitsinstrument es sich bei dem Kommentarband handelt. Die Aufklärung der zweiten Hälfte des 18. Jh.s ist im Blick auf die persönlichen Beziehungen der wichtigsten Protagonisten untereinander, im Blick auf den spielerischen, "witzigen" Umgang mit Sprache und Bildungsgut, und durchaus auch im Blick auf gewichtige literaturkritische, philosophische und theologische Anliegen eine so fremde Epoche geworden, dass das vorgelegte Hilfsmittel zur Erschließung eines bedeutenden Quellenbestandes sehr zu begrüßen ist. Wenn die Regel weiterhin ihre Gültigkeit hat, dass in der historischen Kulturwissenschaft eine Beziehung zu den Gedanken mit einer Vorstellung von den Denkern einhergehen sollte, wird eine lesbar präsentierte Korrespondenz ihre Faszination - in Ernst und Unernst - behalten.