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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

57–60

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Winter, Friedrich

Titel/Untertitel:

Die Evangelische Kirche der Union und die Deutsche Demokratische Republik. Beziehungen und Wirkungen.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2001. 384 S. 8 = Unio und Confessio, 22. Kart. Euro 29,90. ISBN 3-7858-0429-6.

Rezensent:

Rudolf Mau

Von Friedrich Winter, der Praktische Theologie am Sprachenkonvikt Berlin lehrte und in leitenden kirchlichen Ämtern wirkte (zuletzt bis 1992 als Präsident der Kirchenkanzlei der EKU-Ost), stammt eine Reihe von Beiträgen zum Weg der Kirche in Ostdeutschland. Sie betreffen die zeitgeschichtlichen Quellenbestände, die kirchlichen Moderatoren der Runden Tische von 1989/90, den Umgang der Kirchen mit Stasi-Verstrickungen, den Weg der Kirche in Berlin-Brandenburg ab 1961; eine Fallstudie ("Der Fall Defort"; vgl. ThLZ 123 [1998], 406 f.) galt einem schweren Gewissenskonflikt und dessen publizistischer Ausbeutung. Die vorliegende Untersuchung betrifft die politischen Aspekte des Weges der EKU, der vormaligen preußischen Landeskirche, die sich nach 1945 als bruderschaftlich geleitete Kirche über die innerdeutsche Grenze hinweg neu konstituierte und auch nach der Gliederung in zwei "Bereiche" 1972 die West-Ost-Gemeinschaft intensiv weiter praktizierte.

Leitender Gesichtspunkt der Untersuchung ist das Wirken der EKU "als kirchliches Subjekt" (15). W. betont dies angesichts optisch verzerrender Publikationen der frühen 1990er Jahre, die anhand von SED-Quellen und -Plänen die Kirche vor allem als Objekt staatlicher Einwirkungen sahen. Auch letztere freilich kommen im jeweiligen Zusammenhang deutlich zur Sprache. Gliederung und zeitliche Zäsuren der Untersuchung aber folgen der kirchlichen Agenda. (1) Bis 1954 reichte der Prozess der Neuordnung, bei dem u. a. die auf Preußen und die Gebiete jenseits der neuen Ostgrenze (Pommern, Schlesien) verweisenden Selbstbezeichnungen staatlichen Einspruch provozierten und schließlich auch Namensänderungen veranlassten (19-46). Ausführlicher wird dann über die vielfältigen Aktivitäten der anschließenden Phasen berichtet, unter den Stichworten (2) Konsolidierung der EKU bis zur Errichtung der Mauer 1961 (47-118), (3) Wandlung bis zur Aufgliederung 1972 (119-230) und (4) Bereichsphase bis 1989 (verstanden als "Neue Zuordnung und selbstverständliche Verbundenheit" von Ost- und West-EKU, 231-345). Abschließend (5) schildert W. die Periode der Zusammenführung beider Bereiche bis 1992 (346-359).

Die Untersuchung hat eine breite, vielseitige Quellenbasis. Zu ihr gehören die reichen Aktenbestände des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, Handakten kirchenleitender Personen, staatliche Quellen verschiedener Bereiche, auch die Aussagen von Zeitzeugen zu einer Reihe von Arbeitsbereichen und Vorgängen. Eigene Erfahrung und Personenkenntnis kommen der Untersuchung durch Problembewusstsein und kontextuelle Wahrnehmung zugute, bestimmen aber nirgends die durchgehend quellenbezogene Darstellung. Wie schon in seinen vorangehenden Arbeiten urteilt W. sorgsam abwägend im Hinblick auf Motive und Ziele von Personen und Institutionen.

Das Buch bietet ein umfassendes und reich differenziertes Bild vom Weg der unierten Kirche während jener Jahrzehnte. Die EKU, lutherischerseits nicht selten wegen "Bekenntnis"-Mangels beargwöhnt, war eine durch Verfassungsorgane und Praxis besonders eng verbundene Gemeinschaft von vier (nach dem Beitritt Anhalts 1960 fünf) der acht ostdeutschen und zwei westdeutschen Landeskirchen. Zu ihrem Proprium gehörte der nachdrückliche Bezug auf die Erfahrungen der NS-Zeit, insbesondere auf die Barmer Erklärung, deren aktueller Bedeutung angesichts der SED-Diktatur sie auch bedeutsame theologische Arbeit widmete (über "Barmen" und das Christsein in der sozialistischen Gesellschaft: 266 ff.). Wichtige Initiativen der EKU wurden dann von allen ostdeutschen Kirchen mitgetragen. In den Kapiteln 2 bis 4 berichtet W. - jeweils nach der Darstellung struktureller Veränderungen und politisch-rechtlicher Aspekte der Verfassung und der Arbeit der EKU - ausführlich über das "politische Zeugnis" der unierten Kirche. Worte der Synoden und des Rates der EKU, vor allem auch die vorbereitende intensive Arbeit von Ausschüssen (so des Ständigen Öffentlichkeitsausschusses) werden dargestellt und gewürdigt. Diese Worte richteten sich überwiegend nicht an staatliche Adressaten, sondern an die Christen, an die Gemeinden zur Orientierung, Ermutigung und Mahnung. So schon 1957, als an ein zeitlich begrenztes "Überwintern" unter der SED-Diktatur nicht mehr zu denken war, das "Wort zur Hilfe, wie wir Christen uns zu unserem Staat verhalten sollen" (86), 1959 die umfassende Handreichung der EKU "Das Evangelium und das Leben in der DDR" (100 ff.) und 1960, angesichts der wachsenden Fluchtwelle, das mahnende Wort "Vom Bleiben in der DDR" (111 ff.). Die Leser werden über die Entstehung und, so weit eruierbar, über die (bisweilen nur recht begrenzte) innerkirchliche Rezeption und Wirkung solcher Worte informiert, wie dann auch über staatliche Anstrengungen, deren Verbreitung zu verhindern. Seit dem Mauerbau 1961 kam es zur verstärkten Zusammenarbeit mit den lutherischen Kirchen im Rahmen der EKD ([Ost-] Konferenz der Kirchenleitungen). Aus ihr erwuchsen die auf die Situation tiefer Entmutigung bezogenen "Zehn Artikel von Freiheit und Dienst der Kirche" 1963. Unter dem Eindruck des Prager Reformsozialismus 1968, auch nach dessen Unterdrückung, arbeitete eine kleine, überwiegend östliche Gruppe des EKU-Öffentlichkeitsausschusses über "ökonomische und soziale Leitbilder" und deren Bedeutung für die Stellung von Christen und Kirchen in der DDR zum Sozialismus. Hier sieht W. "die Brunnenstube" für die dann beginnende Diskussion um die "Kirche im Sozialismus" (183).

Die Gründung des ostdeutschen Kirchenbundes (BEK) 1969 mit dem Programm von gemeinsamem "Zeugnis und Dienst" in der DDR-Situation veranlasste eine Zusammenfassung mancher Aktivitäten. Auf Grund einer Initiative von Bausoldaten hatte die EKU-Ost 1968 eine "Theologische Arbeitsstelle für Friedensforschung" eingerichtet. Diese wurde 1970 als Facharbeitskreis beim BEK-Ausschuss für Kirche und Gesellschaft installiert (226 f.) und gewann später, im Rahmen der BEK-Studienabteilung, zunehmende Bedeutung für den kirchlichen Umgang mit dem Friedensthema und dessen wachsende Resonanz in den 1980er Jahren. Nach Lehrgesprächen und der Zustimmung aller ostdeutschen Landeskirchen zur Leuenberger Konkordie stellten sich EKU-Ost und VELK/DDR auf die "größere Gemeinschaft" und die "Kirchwerdung des Bundes" (253 ff.) ein - bis hin zu einem Aufgehen in der 1979 geplanten "Vereinigten Evangelischen Kirche" (VEK). EKU-Oberkirchenräte übernahmen entsprechende Ressorts im BEK. Die erstrebte Einheitskirche (die dann beim Zustimmungsverfahren in Berlin-Brandenburg 1984 scheiterte) "dachte man sich im Grunde als eine vergrößerte unierte Kirche, ohne daß der Begriff der Union aus historisch begründeter Aversion der lutherischen Kirchen genannt wurde". Die Synodalverhandlungen zeigen, "mit welcher Intensität und Geduld" sich EKU-Synodale aus Ost und West an den "Gesprächen um die größere Gemeinschaft" beteiligten. Eine entscheidende Frage war für die unierten Kirchen aber das Erhalten der bisherigen "Qualität und Dichte der Gemeinschaft" zwischen beiden EKU-Bereichen, nachdem die EKU-Ost sich in die geplante VEK hinein aufgelöst haben würde (261).

Die Untersuchung behandelt viele Aspekte der durch die EKU ermöglichten und geförderten Arbeit. Diese galt mit der Botschaft des Evangeliums immer auch dem Aufbrechen von Diktatur-verengten Horizonten. Zu den besonderen, stets auch durch die westlichen Gliedkirchen tatkräftig unterstützten EKU-Aktivitäten gehörten: Bibelwochen, Ausbildungsinstitute, Evangelische Forschungsakademie, Kunstdienst, Luther-Studienausgabe, Theologischer Arbeitskreis für reformationsgeschichtliche Forschung (als ein international besetztes Wächteramt gegen die ideologische Überfremdung der staatlichen Lutherhalle Wittenberg). Das Resümee der reich gegliederten, detaillierten Darstellung zum Weg jener Jahrzehnte ist sehr zurückhaltend formuliert: Es sei nicht zu fragen, "ob die EKU im Osten ihren Auftrag nicht wahrgenommen hat", sondern ob dies im Rahmen der gegebenen Bedingungen "ausreichend und ... zuversichtlich, wach und vollmächtig genug" geschehen sei (345). Die sorgfältige, materialreiche Darstellung zur kirchlichen Wegsuche während der Jahrzehnte der SED-Diktatur verdient auch im Hinblick auf neuere Bewegungen im Bereich kirchlicher Strukturen besondere Beachtung.