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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

55–57

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Kaufmann, Thomas, u. Harry Oelke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirchenhistoriker im Dritten Reich.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 2002. 393 S. 8 = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 21. Kart. Euro 44,95. ISBN 3-579-02673-9.

Rezensent:

Clemens Vollnhals

Noch 1992 konstatierte Kurt Nowak, dass die Erforschung der Geschichte der Kirchengeschichte während der Jahre 1933 bis 1945 "weitgehend im Dunkeln" liege. Seitdem sind eine ganze Reihe solider Arbeiten zur Geschichte der evangelisch-theologischen Fakultäten erschienen, auch liegen verschiedene Aufsätze zum Verhalten prominenter Kirchenhistoriker vor. Eine systematisch angelegte Untersuchung der Spezialdisziplin Kirchengeschichte und ihrer Vertreter während der NS-Diktatur fehlt jedoch bis heute. Auch der vorliegende Sammelband erhebt nicht den Anspruch, dieses Defizit zu beheben; er gibt jedoch wichtige Impulse für die künftige Forschung. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die kritische Beschäftigung mit dem eigenen Fach erstmals im Jahre 2000 auf dem Historikertag in Aachen zur Debatte stand, nachdem zwei Jahre zuvor eine äußerst heftige Kontroverse über die Verstrickung führender Vertreter der modernen Sozialgeschichte in die rassisch-völkischen Neuordnungsplanungen des NS-Regimes den Historikertag in Frankfurt dominiert hatte.

Was eine solche Darstellung leisten müsste, umreißt der einleitende Beitrag, in dem Harry Oelke neben dem Forschungsstand und der Quellenlage auch den methodischen Horizont skizziert, den eine umfassende Bestandsaufnahme zu berücksichtigen hätte. Eine erste Annäherung gibt der anschließende Beitrag des Mitherausgebers Thomas Kaufmann, der die generationsspezifischen Bedingungen und Dispositionen thematisiert. Er benennt die institutionellen und personellen Rahmenbedingungen, etwa die explosionsartige Vermehrung der Stu- dentenzahlen von rund 2600 im SS 1927 auf 7000 Studierende im SS 1932, während es 1939 nur mehr 1300 waren. Das Fach Kirchengeschichte vertraten im "Dritten Reich" ca. 45 Professoren, von denen zwei Drittel vor 1933 berufen worden waren. Von ihnen sind in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre etwa 17 den Deutschen Christen zuzurechnen, neun hielten sich im Kirchenkampf zur Bekennenden Kirche. Doch wäre es falsch, wie Kaufmann hervorhebt, von dieser Scheidelinie auf eine "ideologiefreie" Kirchengeschichtsforschung bzw. auf eine im Sinne des Nationalsozialismus ideologisierte Geschichtsdeutung schließen zu wollen. Prägend war vielmehr der generationsspezifische Konsens einer tiefen politischen und mentalen Distanz zur Weimarer Republik bzw. in einem umfassenderen Sinne die entschiedene Ablehnung des politischen und kulturellen Normengefüges des "Westens".

Besonders deutlich wird das in den beiden folgenden Fallstudien, die nicht nur auf Grund ihres Umfangs das eigentliche Kernstück darstellen: Martin Ohst legt in analytisch vorbildlicher Weise die zentrale Rolle dar, die die nicht akzeptierte Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg im gesamten theologischen Denken von Emanuel Hirsch einnahm, der bis 1936 eine Professur für Kirchengeschichte innehatte. Sie bildet den Schlüssel, wenn man die begeisterte politische und theologische Option für den Nationalsozialismus wirklich verstehen will. Das von Hirsch vertretene "junge nationale Luthertum" stellte sich, wie er selbst ausführte, von Anfang an auf die Seite derer, die "den durch die Niederlage und Revolution von 1918 gewordenen Zustand innerlich nicht anerkannten und unter Kampf gegen die Ideen von 1918, gegen den Traum einer internationalen, volkseinebnenden Weltkultur demokratischen oder marxistischen Gepräges und pazifistischer Ideologie, dem deutschen Volk den Willen zu sich selbst, zur deutschen Freiheit und deutscher Sendung und deutschem Neuaufbau bewahren wollten". Das Jahr 1933 war in diesem Verständnis die lang ersehnte Geschichtswende, der eine Theologie des völkischen Nationalismus vorgearbeitet hatte.

Die zweite große Fallstudie ist Erich Seeberg, dem während der NS-Diktatur wohl einflussreichsten Kirchenhistoriker, gewidmet, dessen theologisches Werk wie wissenschaftsorganisatorisches Wirken Kaufmann in einer quellengesättigten Untersuchung akribisch nachzeichnet. Seeberg entstammte einer baltischen Theologenfamilie und entwickelte sich zu einem überzeugten Nationalsozialisten. Er deutete die Mystik eines Meister Eckart als die "Religion des deutschen Spiritualismus", die im Nationalsozialismus ihren reinsten Ausdruck finde, und zog die Linie vom "deutschen Luther" über Bismarck zu Hitler, der nun als der Vollender der Reformation erscheinen konnte. Seebergs "kämpferisches" Wissenschaftsverständnis, das sich über methodische Standards der Quelleninterpretation hinwegsetzte, provozierte den Widerspruch bedeutender Theologen und Kirchenhistoriker, gegen die er mit Hilfe von Staats- und Parteiinstanzen rigoros vorging. Gestützt auf den Nachlass, vermag Kaufmann auch die Rolle Seebergs bei Berufungsverfahren oder als Gutachter der "Parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutz des nationalsozialistischen Schrifttums" zu erhellen. Seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus lag, so Kaufmann, "ein konsequent ausgeformtes Konzept von Kirchengeschichte zugrunde, das in der kultursynthetischen Verschmelzung von Christentum und nationalsozialistischer Volksgemeinschaft das Gebot der geschichtlichen Situation erkannte".

Ganz in diesem Sinne interpretierte auch Hanns Rückert die Machtübernahme Hitlers, die für ihn ein überwältigendes "Erlebnis mit bekehrungsähnlichen Zügen" darstellte. Wie Berndt Hamm in seinem Beitrag aufweist, war es "durchaus von historischer Logik", dass fast alle Schüler Karl Holls, der nach dem Ersten Weltkrieg maßgeblich die Luther-Renaissance begründet hatte, eine enge theologische und politische Beziehung zum Nationalsozialismus knüpften. Neben Rückert und Hirsch ist hier auch Heinrich Bornkamm zu nennen, dessen Lutherstudien von 1933 - "Volk und Rasse bei Martin Luther" sowie "Luther und der deutsche Geist" - Hartmut Lehmann einem eingehenden Textvergleich mit der stillschweigend gereinigten Neuauflage von 1947 unterzieht. Dass Luther nun nicht mehr als eine Art Nationalsozialist der ersten Stunde erschien, ist wenig verwunderlich; merkwürdig berühren allerdings die vielen antisemitisch, völkisch bis nationalkonservativ eingefärbten Textstellen, die Bornkamm keiner Überarbeitung unterzog.

Mit dem ideologischen Konstrukt des germanischen Arianismus, dem in der völkischen Deutung eines "arteigenen" Christentums eine besondere Bedeutung zukam, beschäftigt sich Hanns Christof Brennecke, der auch die zeitgenössische kirchlich-apologetische Interpretation einer kritischen Betrachtung unterzieht. Sie war maßgeblich das Werk des Kieler Kirchenhistorikers Kurt Dietrich Schmidt, der heute vor allem als Chronist des Kirchenkampfes bekannt ist. Sein Wirken als Wissenschaftler und Mann der Bekennenden Kirche zeichnet Harry Oelke in einer biographischen Skizze nach. Im Konflikt zwischen einer prinzipiellen Loyalität zum NS-Staat und der Bekenntnisbindung entschied sich Schmidt für letztere und nahm dafür 1935 seine Entlassung als Hochschullehrer in Kauf. Mit dieser aufrechten Haltung zählt Schmidt zu der kleinen Gruppe von fünf evangelischen Kirchenhistorikern, die von den Nazis entlassen oder versetzt wurden.

Alles in allem eröffnet der Sammelband tiefe Einblicke in theologische Dispositionen und Affinitäten, die den menschenrechts- und christentumsfeindlichen Charakter des Nationalsozialismus nicht zu erkennen vermochten und stattdessen eine Synthese von Christentum und Nationalsozialismus propagierten. Dass sie trotz aller Vorleistungen seitens profilierter Theologen und Kirchenhistoriker nicht zu Stande kam, lag primär an den Nationalsozialisten, die auf eine christlich-protestantische (Schein-)Legitimierung ihrer Ziele keinen Wert legten.