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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

53–55

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Engelbrecht, Sebastian

Titel/Untertitel:

Kirchenleitung in der DDR. Eine Studie zur politischen Kommunikation in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1971-1989.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 381 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte, 6. Geb. Euro 38,00. ISBN 3-374-01798-3.

Rezensent:

Jochen-Christoph Kaiser

In den letzten Jahren erscheinen mehr und mehr Studien zu Einzelaspekten der facettenreichen DDR-Kirchengeschichte, die primär historische Strukturen, bestimmte Aufgabenfelder und theologiegebundene Detailfragen herausarbeiten, von denen zu erwarten steht, dass sie das bislang vorherrschende Bild der Kirchen im Sozialismus korrigieren, mindestens modifizieren und die Forschung damit aus der Phase erschreckender Enthüllungen, aufgeregter Szenarien und gegenseitiger Schuldvorwürfe in das ruhigere Fahrwasser wissenschaftlicher Reflexion, aber auch substanziellerer Kritik einmünden lassen.

Die Leipziger Dissertation von Sebastian Engelbrecht, von dem verstorbenen Kirchenhistoriker Kurt Nowak betreut und auf der Schnittlinie zwischen Praktischer Theologie und kirchlicher Zeitgeschichte angesiedelt, gehört zu diesen Studien einer zweiten Phase. Sie erprobt einen neuartigen Zugriff auf die beiden Jahrzehnte zwischen 1970 und 1990, klammert allerdings die Geschehnisse der Wende aus und konzentriert sich auf die Innenansicht der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens.

E. orientiert sich an folgenden Leitfragen: "Welche innerkirchlichen Vorgänge führten zu Opportunismus oder Opposition? Wie funktionierten die Meinungsbildungsprozesse auf den unterschiedlichen Ebenen der Landeskirche, zwischen leitenden Instanzen und engagierten Gruppen? ... Wie öffentlich waren die Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse?" (14). Dies alles betrachtet er auf dem Hintergrund der Kommunikationsgemeinschaft Kirche, von der aus er auf die jeweils konkrete Situation rückschließen will.

E. gliedert seine Untersuchung in sechs untereinander nicht ganz gleichgewichtige Kapitel. Er beginnt mit einem Literatur- und Quellenbericht, in dem er sich deutlich von den Thesen Gerhard Besiers und anderer absetzt, denen er mangelnde Differenzierung und vor allem die fehlende - historiographisch-handwerklich aber gebotene - Distanz zur staatlichen resp. Stasiüberlieferung bescheinigt. Es folgt in einem zweiten Abschnitt die Vorstellung des von ihm benutzten kommunikationstheoretischen Modells in Anlehnung an Paul Apel, Hans-Dieter Bastian und Günter Breitenbach. E. muss freilich zugestehen, dass sich die vorgestellten idealen Modelle regelmäßig an den harten Realitäten kirchenleitenden Handelns stoßen. Denn die Forderung, anstelle traditioneller hierarchischer Formen zentralisierter Kirchenleitung auf Partizipation, Transparenz und Öffentlichkeit zu setzen, die als Netzwerke auf allen Ebenen mit breit gestreuter Leitungskompetenz zu verbinden seien (Breitenbach), konnte bisher nirgendwo realisiert werden.

Im dritten Kapitel präsentiert E. zunächst "Theorien zur politischen Verantwortung der Kirche als Grundlage kirchenleitenden Handelns", d. h. er stellt knapp die unterschiedliche Rezeption bzw. Weiterentwicklung der Zweireichelehre und den dazu konkurrierenden Ansatz der Königsherrschaft Jesu Christi unter DDR-spezifischen Rahmenbedingungen vor, um sich dann der These des sächsischen Landesbischofs Johannes Hempel vom begrenzten politischen Mandat der Kirche zu widmen.

Mit dem vierten Kapitel beginnt gleichsam der empirische Teil der Untersuchung: Detailliert werden die Voraussetzungen kirchenleitenden Handelns innerhalb der luth. Landeskirche Sachsens nachgezeichnet. Neben einer ausführlichen Schilderung der verfassungsmäßigen Grundlagen beschreibt E. bestimmte Entwicklungen, die er primär an den Verantwortung tragenden Personen festmacht - so etwa den Kurs des langjährigen Synodalpräsidenten Johannes Cieslak, dem es während seiner Amtsperiode gelang, die Landessynode und ihre Ausschüsse an den Entscheidungen des nach wie vor ausschlaggebenden Landeskirchenamts, der engeren und erweiterten Kirchenleitung sowie den Funktionen des Landesbischofs intensiver zu beteiligen. Auch die theologischen Grundlagen - das Modell der missionarischen Gemeinde und der Rekurs auf Bonhoeffer als Ideengeber eines innerkirchlichen Reformprogramms mit dem Ziel verstärkter Beteiligung der Gemeinden an zukunftsweisenden volkskirchlichen Konzepten - werden erörtert und mit deutlicher Kritik an den beharrenden Kräften der kirchlichen Zentralverwaltung verbunden.

Die These des Oberlandeskirchenrates und späteren Zittauer Superintendenten Dietrich Mendt, die aus der missionarischen Gemeinde entstandenen Hauskreise seien die Vorboten oder Keimzellen der späteren politischen Oppositionsgruppen in der DDR gewesen, übernimmt E. aus gutem Grund nicht: Denn die missionarische Gemeinde hatte nicht die Demokratisierung von Kirche und Gesellschaft zum primären Ziel - deshalb liege "die Übereinstimmung der Reformergeneration ... also lediglich im demokratisierenden Effekt ihres Handelns, nicht in einer gemeinsamen demokratischen Intention" (174). In der Nachzeichnung der praktischen Kommunikationswege innerhalb der Landeskirche kommen dabei die angesprochenen Fakten in ihrer Kontextualität manchmal zu kurz. Gleiches gilt für die Staat-Kirche-Gespräche. Außer dass diese in Dresden (mit Hans Modrow und den ihm nachgeordneten Räten des Bezirks und der Stadt) vergleichsweise harmonisch verliefen, erfährt man inhaltlich und von den Zusammenhängen her wenig. Aus historischer Sicht ist das möglicherweise der Preis für eine durchgängig kommunikationstheoretisch angelegte Studie.

Während der recht knappe Schlussabschnitt eine Zusammenfassung der Ergebnisse enthält, bringt das ausführliche vorletzte Kapitel fünf nur bedingt aufeinander bezogene Fallbeispiele, an denen E. sein Modell noch einmal erläutert: die innerkirchlichen Konflikte um das Verhältnis von Konfirmation und Jugendweihe, um den bekannten Vortrag von Bischof Fraenkel in der Dresdener Annenkirche am 8. November 1973 mit der Identifizierung von NS-Kirchenkampf und SED-Religionspolitik, die Auseinandersetzungen um Aktion und Aufnäher Schwerter zu Pflugscharen, schließlich das Friedensforum am 13.02.1983 in der Dresdener Kreuzkirche und der Streit während der zweiten Hälfte der 1980er Jahre um eine alternative Öffentlichkeit unter dem Dach der Kirche.

Es ist hier nicht der Raum, auf die geschilderten Ereignisse im Einzelnen einzugehen. E. betont, dass Hempels Konzeption eines begrenzten politischen Mandats wegen seiner inhaltlichen Offenheit und dem bewussten Verzicht auf eine exakte Definition dieser Grenzen trotz mancher Schwachstellen (im nichtöffentlichen direkten Kontakt mit der Staatsmacht) insgesamt gesehen Chancen bereithielt. Diese zeigten sich immer wieder darin, dass unbeschadet einer gewissen inneren Reserve Landeskirchenamt, Kirchenleitung und Bischof gegenüber den kritischen Amtsträgern und Basisgruppen in der Regel loyal blieben und sie nicht im Interesse eines ungestörten Verhältnisses zu den staatlichen Gesprächspartnern preisgaben.

Am Ende bleiben einige Fragen: Ist der Haupttitel zutreffend ("Kirchenleitung in der DDR"), wenn ein Vergleich zu anderen DDR-Landeskirchen nahezu völlig ausgeklammert wird? Und nimmt eine an sich historisch angelegte Arbeit nicht Schaden, wenn empirisch erhobene Strukturen und Daten eher zur Illustrierung theoretischer Vorannahmen dienen und weniger zur Gewinnung eines gültigen Bildes einer zentralen Epoche der DDR-Kirchengeschichtsschreibung am Beispiel dieser Landeskirche? Schließlich: Lohnt das breit entfaltete kommunikationstheoretische Modell den Aufwand, wenn man den historischen Gesamtertrag berücksichtigt?

Demgegenüber ist jedoch festzuhalten, dass die Arbeit die bisher wohl beste Innenansicht einer DDR-Landeskirche zwischen 1970 und 1989 darstellt. Sie enthält zahlreiche, empirisch gewonnene neue Erkenntnisse über kirchenleitendes Handeln im ev.-lutherischen Sachsen, wenn auch der Kontext der DDR-Gesamtentwicklung nicht immer klar genug durchscheint. Das von E. gewählte Modell bleibt gleichwohl anregend, nicht zuletzt, weil es interdisziplinär vorgeht und - wie eingangs erwähnt - auf der Schnittlinie der Fächer Praktische Theologie und Kirchengeschichte angesiedelt ist. Die Studie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Verortung der theologischen und gesellschaftlichen Existenz einer großen Landeskirche im realexistierenden Sozialismus.