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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

49–51

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wördemann, Dirk

Titel/Untertitel:

Das Charakterbild im bíos nach Plutarch und das Christusbild im Evangelium nach Markus.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2002. 309 S. m. Abb. gr.8 = Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums, Neue Folge. 1. Reihe: Monographien, 19. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-506-79069-2.

Rezensent:

Manfred Lang

Innerhalb der Formgeschichte gehört es zu den u. a. wesentlichen Einsichten, dass die synoptischen Evangelien als "Kleinliteratur" (K. L. Schmidt) aufzufassen seien, die in ihrer formgebenden Struktur einzigartig innerhalb der antiken Literatur dastehen: Außerbiblische Vergleichstexte existieren nicht, die sog. Hochliteratur etwa eines Plutarch ist weit von den synoptischen Evangelien entfernt.

Diese Einsichten sind jedoch eingehender und kritisch von G. N. Stanton, C. H. Talbert, M. Hengel, R. Burridge und zuletzt besonders von D. Frickenschmidt bedacht worden. Deren Arbeiten beruhen wenigstens auf den Voraussetzungen, dass Markus kein bloßer Sammler, sondern Autor eines literarischen Werkes mit einer Story sei, das zudem eine Reihe von Aspekten mit der antiken Biographie teile (mittleres Niveau, episodischer Charakter, zahlreiche Dialoge, Darstellung eines "Helden" u. a. m.). Hier setzt die von D. Dormeyer betreute Dissertation ein, die zunächst im Gattungsbegriff ihren Ausgangspunkt nimmt und das Allgemeine einer bestimmten Textsorte zu bestimmen sucht: "Das Allgemeine am bíos ist die narrative Umsetzung der Bedeutung der Person Jesu Christi, da sich diese, in vielfältiger, besonderer Weise verwirklicht, aus dem gesamten corpus der antiken Bios-Literatur extrahieren lässt." (17) Zu diesem Zweck will der Vf. in einem ersten Schritt die für die Gattung notwendige Verschränkung von Inhalt, Form und Pragmatik im ÙÏÔ der Biographie ermitteln, ehe der Bios-Charakter mittels der Frage Wer ist wie? innerhalb der narratio erhoben wird. Dabei tritt der charakteristische Zusammenhang zwischen Charakterbild und Charakterbildung im Zusammenspiel von physis, tyche, ethos und logos in den Blick.

Exemplarisch erfolgt eine Exegese der Caesar-Vita des Plutarch. In gleicher Weise wird das MkEv bearbeitet: Zunächst wird die Gattung Evangelium auf Grund des Zieles mittels Wie ist wer? bestimmt. Dabei kristallisiert sich die Struktur der narratio als die Frage nach dem Christusbild des Helden heraus. Als Profil für diese Analyse dienen Aischyl Ag und die Inschrift von Priene. Mit Hilfe der aristotelischen Kategorie Analogie erfolgt dann der Vergleich der narrativen Stücke, ehe die Handlungsführung sowie die Raum- und Zeitstruktur analysiert werden.

Akribisch wird im ersten Kapitel (21-134) die Bios-Gattung nach Plutarch und das Charakterbild des Helden beschrieben und einer detaillierten Analyse (106-134) anhand der Caesar-Biographie (Plut Caes 38,1-7) unterzogen. Dabei wird hier besonders deutlich, dass es dem Vf. nicht um literaturgenetische Fragestellungen geht, sondern um die Erschließung des Charakters im Vermittlungsprozess des Lese- und Sprechaktes, wie er theoretisch von Wolfgang Iser grundgelegt ist, gefolgt vom Dreischritt Syntax, Semantik und Pragmatik. Es lasse sich erkennen, dass der implizierte antike Leser durch die Beobachtung des Stoffes zur Identifikation mit diesem führe (75): "Plutarchs Leser sollen ethisch besser werden (Plut. Aem. 1,2), indem sie in ihrer eigenen ständigen ethischen Gefährdung auf die edelsten Vorbilder blicken und aus deren Taten die Wirkungskraft für die eigene Charakterveredlung ziehen (Plut. Aem. 1,3)." Die bei Caesar beschriebene Leidenschaft gehöre für den antiken Leser jedoch nicht zu den nachahmenswerten Charakterzügen; sie sei auszuschließen.

Im zweiten Kapitel (135-197) wird zunächst der Inhalt der Gattung Evangelium erhoben, wobei besonderes Augenmerk auf den Weg des Lesers von der Kenntnis zur Erkenntnis gerichtet wird. Dabei erfolgt die Analyse anhand des hyios tu theu-Themas aus Mk 1,1, wobei sich der Vf. - überraschend aus Sicht des Rez. - für die Kurzform entscheidet (142): "So besteht die Wirkung der Jesus-Erzählung darin, dass sich der Leser in erster Linie auf die Identifikation mit anderen Rollen einlässt und dadurch Zugang zur Praxis Jesu gewinnt. Identifiziert sich nun der Leser mit den von der Erzählung bereit gestellten Rollen, so wird er sich bald in einer merk-würdigen [!] Spannung zwischen eigener Kenntnis und Unkenntnis der Handlungsträger in Bezug auf die Identität der Hauptperson wiederfinden." Damit sei das Ziel des MkEv bestimmt, das in der "Erkenntnis der Christus-Identität des Helden Jesus von Nazaret" (146; fett gedruckt im Original) bestehe. War in der Bios-Literatur die Frage leitend Wer ist wie?, dann sei sie innerhalb des MkEv angesichts von Mk 15,39 in Wie ist [w]er? umgedreht (151), denn Plutarch stelle das Charakterbild des Helden dar, während Mk das Christusbild des Helden und somit die Identität des Christus und des Gottessohnes Jesus von Nazareth beschreibe (152). Nach der Beschreibung der Funktion des Evangeliumsbegriffs für die Darstellung des Christusbildes Jesus von Nazareth folgt sodann die Bestimmung des semantischen Feldes von Evangelium. Sie wird nicht mittels traditionsgeschichtlicher, sondern rezeptionsgeschichtlicher, Argumentation erhoben, denn es gehe darum, "welche Konnotationen und Assoziationen die Gestalt einer frohen Botschaft und ihres Boten im Hinblick auf Differenzen und Analogien zum bíos prägen können. Leserkompetenz und -einstellung, Kontext und Kommunikationssituation regeln die dann jeweils zum Tragen kommenden Bedeutungssegmente von Evangelium" (157). Dieser Zugang ermöglicht es dem Vf., die vielfach vertretenen Alternativen zwischen der Kalenderinschrift von Priene, Plutarchs Parallelbiographien, Aischylos' Agamemnon (193-197) sowie dem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund aus Jes 52,7 f. konstruktiv zu umgehen, ohne dabei die Unterschiede zu übersehen (195-197).

Im dritten Kapitel wird direkt das Charakterbild des Helden im Bios mit dem Charakterbild im MkEv verglichen (198-285). Grundlegend für dieses Vorgehen ist die Einsicht, wonach sowohl im Bios wie im Evangelium die Erzählung von einer Person im Mittelpunkt stehe und von dieser Gemeinsamkeit aus die Frage nach dem Wie bzw. Wer beantwortet werden könne. Berücksichtige man auch hier die Sprech- und Lesesituation, die vor allem durch Lk 1,1 angezeigt sei, dann sei auch hier kein Gegensatz zu den paganen und alttestamentlich-jüdischen Parallelen aufzurichten (203). Materialiter erfolgt sodann der Vergleich anhand des bíos Catos d. Jüngeren, da hier das Charakterbild auf Allgemeingültigkeit ziele und zugleich ein präziserer Vergleich durch Parallelen und Unterschiede möglich sei. Eine solche Gegenüberstellung (215-285) zum MkEv erfolgt eindrücklich anhand einer tabellarischen Übersicht sowie interpretierender Bemerkungen zur Handlungsführung, zur Raum- und Zeitstruktur sowie zur Gesamtanlage (vgl. Mk 1,1-15; 1,16-8,26; 8,27-16,8 mit Plut Cato minor 1,1-4,4; 5,1-51,7; 52,1-73,7).

Eine Zusammenfassung der Ergebnisse (286-290) sowie ein Literaturverzeichnis (291-309) beschließen das Werk.

Kritisch sind folgende Aspekte zu nennen:

- Wenn der Vf. die Relevanz der plutarchischen Biographie in ihrem charakterbildenden Aspekt materialiter anhand der Darstellungen von Caesar und Cato analysiert, wäre zunächst zu fragen, weshalb diese beiden Abschnitte ausgewählt werden. Im Rahmen der methodischen Vorbemerkungen muss man hier Begründungen erwarten können, die jedoch leider fehlen und sich auf den ersten Blick lediglich für Cato d. J. erschließen. Erstaunlicher ist jedoch, weshalb der Vf. die von Plutarch selbst gewählten Parallelbiographien zu Caesar (Alexander) und Cato (Phokion) nicht wesentlich stärker herangezogen hat. Caesars wie Catos Biographie lassen sich im plutarchischen Sinne nur aus ihren griechischen Vorbildern verstehen. Eine Analyse dieser beiden Biographien sollte also immer im Lichte des jeweiligen Vorbildes verlaufen.

- Innerhalb der Exegese des MkEv ist fraglich, ob von einer "Umkehr zu Gott" in Hinsicht auf Jesu prosopon geredet werden kann (181.186), zumal dann, wenn der Vf. selbst von Jesu "Identität als Gottessohn" spricht (184) und den Boten der Botschaft gleichzeitig als dessen Autor bezeichnet. Eine solche Exegese des Bußrufes des Täufers ist kaum überzeugend.

- Die zuvor genannten kritischen Aspekte hätten bei Berücksichtigung der Plutarch-Forschung aufgefangen werden können (vgl. den Kommentar von J. R. Hamilton, Plutarch, Alexander, Oxford 21999, und Tim Duff, Plutarch's Lives. Exploring Virtue and Vice, Oxford 1999).

- Im Rahmen der äußeren Gestaltung des Bandes fällt der intensive Gebrauch von Skizzen und Tabellen auf, die sicherlich manches erhellend bündeln können (z. B. 191, Abb. 10.11; 193-195), bisweilen aber eher banal sind (z. B. 192, Abb. 12) oder aber in ihrem bündelnden und gegenüberstellenden Charakter nicht deutlich werden (z. B. 215-226). Ferner muss jedoch deutlicher bemängelt werden, dass durchgängig die Formatierung den heutigen Bedürfnissen des Buchsatzes nicht genügen kann: Formatierungen und Plazierungen der Überschriften sollten nicht in gleicher Größe erfolgen bzw. sollten optimaler die Seite ausfüllen und im Kapitelsatz auf neuer, rechter Seite beginnen (31 f.105 f.135.137 f.152. 198.215 u. ö.); Hervorhebungen im Haupttext sollten nur ein Merkmal tragen und nicht mehrere zusammen (152.198 u. ö.); griechische Akzente (Asper/Lenis vor Großbuchstaben, Zirkumflex) sowie die Schriftgröße des Brotfonts und des griechischen Fonts sind in ihrem Erscheinungsbild ungenügend. Durch diese Mängel wird das Lesen unruhig und immer wieder erschwert.

- Leider fehlt ein Stellenregister, das die gebändigte Fülle der Literatur transparenter hätte werden lassen.

Es ist ein spannendes Unternehmen, sich diesen akribischen Beobachtungen des Vf.s auszusetzen und ihnen zu folgen. Ein ganz entscheidender und den Rez. überzeugender Gewinn, der zu verbuchen ist, liegt darin, nicht über 140 Texte zu analysieren, um Topologien zu ermitteln, sondern in der geduldigen Erarbeitung von Konvergenzen und Eigenarten zwischen dem MkEv und den plutarchischen Parallelbiographien anhand eines überschaubaren Materials, wie es sich insbesondere in Plut Caes sowie Plut Cato minor bietet.