Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

47 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wierzbicka, Anna

Titel/Untertitel:

What Did Jesus Mean? Explaining the Sermon on the Mount and the Parables in Simple and Universal Human Concepts.

Verlag:

Oxford et al.: Oxford University Press 2001. 525 S. gr.8. Geb. £ 57,50. ISBN 0-19-513732-9; 523 S. gr.8. Kart. £ 22,99. ISBN 0-19-513733-7.

Rezensent:

Uwe Durst

Was hat Jesus gemeint? - Diese scheinbar so triviale und theologisch doch so wichtige Frage wird hier von einer Linguistin gestellt. Anna Wierzbicka, ausgewiesene Expertin für sprach- und kulturvergleichende Semantik an der Australian National University hat - nach zahlreichen Publikationen zum Themenkomplex Sprache und Kultur - nun ein theologisches, ein exegetisches, ein hermeneutisches Buch vorgelegt.

Nach einer die methodischen Grundlagen knapp umreißenden Einleitung (3-23) folgt ein ausgedehnter Hauptteil (27- 437) mit 60 Einzelanalysen zur Bergpredigt und zu 18 ausgewählten Gleichnissen. Das Schlusskapitel (441-464) bietet eine zusammenfassende Charakterisierung von Jesu Lehre und eine semantische Interpretation des christlichen Glaubensbekenntnisses. Die Literaturverweise im Text sowie je 15 Seiten Endnoten und Bibliographie zeugen von einer intensiven Auseinandersetzung der Vfn. vor allem mit der christlich-exegetischen Literatur, aber auch mit dem jüdisch-theologischen und dem philosophischen Schrifttum.

Die Frage nach der Interpretation der Jesusworte sieht die Vfn. stets an die Frage nach Authentizität gebunden. Als wichtigstes Kriterium für Authentizität erscheint ihr das der Kohärenz. Zwar orientiert sich die Vfn. zunächst an einem weitgehend konsensfähigen Kern der auf den historischen Jesus zurückgehenden Überlieferung; entscheidend ist aber das in eben diesen Überlieferungen konstituierte kohärente Bild, das nun wiederum als Kriterium für die Echtheitsfrage dienen kann. Textgrundlage sind dabei die synoptischen Evangelien. Vereinzelte Hinweise auf die außersynoptische Tradition, etwa das Johannes- oder das Thomasevangelium, dienen lediglich dazu, die in den Einzelanalysen herauskristallisierten Aspekte der Lehre Jesu durch weiteres Belegmaterial zusätzlich zu stützen. Fragen der Datierung bleiben hier allerdings außen vor.

Das zentrale Anliegen der Vfn. ist nicht die historische Rekonstruktion dessen, was Jesus gesagt hat, sondern dessen, was er gemeint hat. Die Worte Jesu stehen so in einem Spannungsfeld zwischen der konkreten historischen Situation, in der sie gesprochen wurden, und ihrer universalen Ausrichtung. In diesem Zusammenhang unterscheidet die Vfn. drei Schichten der Evangelienüberlieferung: die "jüdische" Schicht, d. h. die Worte Jesu in ihrem historischen, geographischen, sprachlichen Umfeld; die "europäische" Schicht, die die Interpretation und Rezeption der Jesusworte durch die griechische und lateinische Tradition und durch die darauf basierenden europäischen Übersetzungen enthält; schließlich die "universale" Schicht, d. i. die von diesen kulturspezifischen Einflüssen unabhängige "Botschaft".

Aufgabe der Theologie ist es nun, diese universale Botschaft des Evangeliums aus ihrer historischen "Kruste" zu befreien. Das erfordert nicht nur die Abstraktion vom historisch-geographischen Kontext, sondern ebenso ein Ausklammern der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der letzten 2000 Jahre. Der "universale Kern" der Überlieferung ist frei von allen kulturgebundenen Vorstellungen und kann nur deshalb auch universal kommunizierbar, d. h. in alle Sprachen der Welt übersetzbar sein. Diese universale Übersetzbarkeit wiederum ist nur möglich durch das Medium einer universalen Sprache, die - anders als unsere theologische Fachsprache mit so komplexen Vorstellungen wie "Offenbarung", "Gnade", "Vergebung" und dergleichen - nur sprachliche, oder genauer: nur semantische Universalien enthalten kann.

Eine solche semantische Beschreibungssprache hat die Vfn. in ihrem Buch Semantic Primitives (1972) erstmals systematisch erarbeitet und seither beständig weiterentwickelt. Sie besteht nur aus semantischen Primitiven, kleinsten, nicht weiter zerlegbaren Bedeutungseinheiten, die aber nicht wie in den linguistischen Hauptströmungen durch abstrakte Merkmale oder formallogische Elemente repräsentiert sind. Als semantische Primitive können vielmehr nur solche Elemente gelten, die in der "Oberflächenstruktur" einer Sprache, d. h. als konkretes Wortmaterial, vorhanden sind. Das Wort oder Konzept "ich" beispielsweise ist demnach semantisch einfacher als linguistische Konstrukte wie "1. Person Singular", da es erstens intuitiv verständlicher ist und zweitens der Begriff der "1. Person" durch das Konzept "ich" überhaupt erst definierbar ist und nicht umgekehrt. - Das Definiendum aber, so die Vfn. mit Verweis auf Aristoteles und den philosophischen Rationalismus der Neuzeit, kann nicht einfacher sein als das Definiens.

Mit einem Basisvokabular von mittlerweile etwa 60 Primitiven und deren Kombinationsregeln gelingt es der Vfn., auch sehr komplexe kulturgebundene Konzepte für Außenstehende verständlich zu übersetzen. Mit dieser Technik lassen sich dann auch Sätze und größere Texteinheiten semantisch interpretieren. Das Wort von der unwissenden linken Hand in Mt 6,3 beispielsweise hat nach der Vfn. folgende Bedeutung (142; Übersetzung des Rez.):

(a) manchmal, wenn eine Person etwas Gutes für andere Leute tut,

(b) denkt diese Person: "ich tue etwas Gutes für andere Leute"

(c) (deshalb fühlt diese Person etwas Gutes);

(d) es ist nicht gut, wenn du so denkst,

(e) wenn du etwas Gutes für andere Leute tust

Zeilengliederung und Duktus entsprechen dem englischen Original und haben durchaus etwas Poetisches, Meditatives an sich: Jedes einzelne Wort ist sinnbestimmend.

Die Vfn. stellt ihre Version der Analyse explizit der gängigen Auffassung in der neueren Kommentarliteratur (Betz, Luz, Strecker) entgegen, die das Logion als eine Ermahnung, die gute Tat nicht zur Schau zu stellen, verstanden wissen will. Sie schließt sich vielmehr der älteren, seit Clemens bezeugten und von Bonhoeffer vertretenen Interpretation an, modifiziert diese aber an einem zentralen Punkt: Nicht was der Geber weiß, sondern was er denkt (und evtl. dabei fühlt) - das ist hier das Entscheidende. Die in Zeile (b) (und (c) ausformulierte Komponente gibt eben jene Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit wieder, die etwa auch im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner Lk 18,9 ff. (429 ff.) angeprangert werden.

So werden durch die begriffliche Schärfe der Analysesprache neue Lesarten und Textbezüge herausgearbeitet, wird ein "kohärentes Ganzes" entwickelt, das Jesus in erster Linie als ethischen Lehrer, als Weisheitslehrer zeigt. Die semantischen Analysen zeigen das Proprium von Jesu Ethik im religions- und kulturgeschichtlichen Vergleich und stellen im Verbund die Verknüpfung von Ethik, Theologie und Eschatologie dar. Reich Gottes (das "Leben mit Gott") und ethisches Handeln und Wollen sind untrennbar miteinander verbunden.

Das semantische Modell der Vfn. hat in der Linguistik einige Nachfolger gefunden. Inwieweit ihr Vorschlag einer "semantischen Exegese" in der Theologie Anklang findet, bleibt abzuwarten. In jedem Fall ist ihr ein anregendes, bisweilen provokatives Buch gelungen, das der interdisziplinären Arbeit ebenso förderlich sein kann wie einem Dialog der Religionen.