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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

44–46

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stolle, Volker

Titel/Untertitel:

Luther und Paulus. Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 521 S. gr.8 = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 10. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-01990-0.

Rezensent:

Walter Klaiber

Volker Stolle, Neutestamentler an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel, hat sich mit diesem Buch einer schwierigen und wichtigen Aufgabe gestellt: Schwierig, weil es eine Gleichung mit mehreren Unbekannten zu lösen gilt. Denn weder in der Auslegung der paulinischen Rechtfertigungslehre noch in deren Interpretation durch Luther gibt es einen Konsens, auf den man zurückgreifen könnte. Wichtig, weil die Diskussion um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre auf evangelischer Seite nicht selten den Eindruck erweckte, die Berufung auf das reformatorische sola scriptura lasse sich durch den Rekurs auf Luthers Auslegung einlösen. Hier möchte S. Klarheit schaffen.

Er ist sich der Komplexität der Aufgabe voll bewusst, wie I. "Einleitung" (13-72) zeigt, in der S. das Problem und seine Geschichte skizziert. Zur Methode sagt er: "Es sollen nicht etwa zunächst auf irgendeine Weise aus der gegenwärtigen Forschungslage Durchschnittsauffassungen über Paulus und Luther ermittelt und diese Texte dann ins Gespräch miteinander gebracht werden. Vielmehr soll Paulus einerseits möglichst unabhängig von Luthers Anleitung gelesen werden, andererseits sollen Luthers Auslegungen in ihrem Bezug auf die Paulustexte analysiert werden. Beide Bilder sollen dann in ihrem Verhältnis zueinander gewürdigt werden" (71). Dieser Ansatz ist richtig, führt aber zu einer relativ verschlungenen Argumentationslinie.

Leitfaden für sie ist Luthers Entwicklungsgang. II. "Luthers autobiographische Selbstvorstellung als Paulus" (73-116) fragt nach dem persönlichen Zugang Luthers zur Exegese der Paulustexte und deutet erste Differenzen zum Befund bei Paulus an (z. B. in der Auslegung von "Gerechtigkeit Gottes" [82 f.] oder in der Gewichtung des Verhältnisses von Gal und Röm [114 f.]). III. "Luthers frühe Beschäftigung mit Paulus im Kolleg (1513- 1518)" (117-160) ist den ersten exegetischen Vorlesungen Luthers bis zur Universitätsreform von 1518 gewidmet, die nach S. eine deutliche Zäsur in der Auslegungsmethode Luthers darstellt. Es geht um die Paulusinterpretation der ersten Psalmenauslegung (1513-1515), die Römerbriefvorlesung (1515/16), die Vorlesung über den Galaterbrief (1516/17) und über den Hebräerbrief (1517/18). Insbesondere an der Römerbriefvorlesung zeigt S. auf, wie sehr sich die Leserichtung Luthers von der Aussageintention des Paulus unterscheidet. "Luther folgt ... in der Tradition Augustins der anthropologischen Umkehrung der theologischen Perspektive, aus der heraus Paulus redet", stellt aber seinerseits "diese anthropologische Perspektive nun unter ein theologisches Vorzeichen und vollzieht damit einen Paradigmenwechsel gegenüber dem philosophischen Ansatz der Theologie seiner Zeit" (145). Luther entwickelt einen eigenen Interpretationsansatz: "Die biblischen Texte sind die Folie, auf die er seine eigene Botschaft aufträgt. Er redet bewusst mit Worten der Schrift, weiß diese aber so zu artikulieren, dass eine auf seinen eigenen kirchlichen Kontext bezogene Aussage laut wird" (159).

Die nächsten beiden Kapitel bilden den Kern der Untersuchung: IV. "Luthers Argumentation mit Paulus im wissenschaftlichen Diskurs (1519-1521)" (161-232) behandelt vor allem Luthers Auffassung der Gerechtigkeit "vor Gott" (Operationes in Psalmos. 1519-1521) und seine Auslegung von Römer 7 (im "Antilatomus" von 1521). Im Anschluss an den ersten Schwerpunkt untersucht S. "das paulinische Verständnis von Gottes Gerechtigkeit" (180-200). S. macht darauf aufmerksam, dass die "Rede des Paulus von der Gerechtigkeit Gottes" nicht "in die forensische Situation des letzten Gerichtes" eingeordnet ist (191). Der vom Gebrauch im Alten Testament geprägte theologische Ansatz der Bedeutung von Gerechtigkeit Gottes wird von Luther anthropologisch umgepolt, was die protestantische Auslegung mit wenigen Ausnahmen (E. Käsemann) bis heute bestimmt (203-209). Auch im Blick auf Röm 7 konturiert S. die Aussagen des Paulus (215-219) scharf gegen die Auslegung Luthers, dessen Formel simul iustus et peccator weder von Röm 7 ableitbar noch biblisch vorgegeben ist (221). Sie erwächst aus Luthers Auseinandersetzung mit dem Thema Buße und beruht auf einer (unzutreffenden) Auslegung von Gal 5,17.

Im Zentrum von V. "Luthers eigenständig geprägter Paulinismus seit 1522" (233-374), dem umfangreichsten Kapitel des Buches, steht ein sorgfältiger Vergleich von Luthers zweiter Auslegung des Galaterbriefs 1531/35 mit dem, was heutige Exegese als Aussageabsicht des Paulus erkennen kann ("Paulus und Luther im Kampf um die Wahrheit", 286-345). Luther interpretiert den Galaterbrief ganz aus seiner Situation, dem Kampf gegen die Heilsbedeutung von guten Werken. Darum geht es aber im Galaterbrief nicht, sondern um die Vollendung des Weges in den Bund Gottes durch Beschneidung und Thoraobservanz.

Allerdings möchte ich hier S. fragen, ob er selbst (im Gefolge der "New Perspective") das Anliegen des Paulus nicht zu ausschließlich heilsgeschichtlich interpretiert und dabei eher der Argumentation der Gegner als der des Paulus folgt, in der nach Gal 2,16-3,13 die existenziell-anthropologische Dimension des Umgangs mit den "Werken des Gesetzes" und der Gegensatz von "Tun" und "Glauben" doch eine Rolle spielen! S. scheut sich übrigens auch nicht vor sachkritischen Anmerkungen zur Argumentation des Paulus (317 zu Gal 3,13; 328 zu Gal 4,21-31), beobachtet aber, dass Paulus sich selbst durch eine Neubewertung von Israel (und Gesetz) im Römerbrief korrigiert, eine Bewegung, die Luther weder bemerkt hat noch nachvollzog. Beobachtungen zur Auslegung von Röm 3,28 in den Disputationen 1535-1537 schließen das Kapitel ab.

Das Fazit ist prägnant: In der Paulusauslegung Luthers ging es "letztlich gar nicht mehr um ein angemessenes Paulusverständnis, sondern um eine paulinisch legitimierte und deshalb paulinistisch gestaltete Ausformung seiner eigenen Theologie. Indem Luther die Evidenz der reformatorischen Botschaft auf die Paulustexte bezog, gewannen diese Texte andererseits selbst auch wieder eine neue Aktualität. ... Der alte Text wurde nicht durch einen sekundären Interpretationstext ersetzt, sondern selbst zum eigentlichen Träger der neuen Evidenz gemacht. Seine eigene Theologie bot Luther als Auslegung des paulinischen Grundtextes dar, der dadurch eine einzigartige Karriere erlebte" (371). Diese "von Luther bewusst gewollte Intertextualität zu Paulus" ist auch für die heutige Auslegung zu würdigen. Weil Luthers Theologie geschichtlich bedingt und deshalb auch zeitgebunden ist, "wird eine Transformation seiner Theologie in einem erneuten Rekurs auf die Schrift unter ökumenischem Vorzeichen erforderlich, um die Evidenz des Evangeliums heute zu erweisen" (373).

Bevor S. sich dieser Aufgabenstellung widmet, zeigt er in VI. "Der Paulinismus in der bekenntnismäßigen Ausprägung der lutherischen Rechtfertigungslehre" (375-412), wie Luthers "Paulinismus" in den Bekenntnisschriften weitergeführt wird. Der Perspektivenwechsel wird zu einem "Paradigmenwechsel", was eine "erhebliche Horizonterweiterung" bedeutete (410), aber auch das kritische Potential des Gegenübers zum biblischen Text zu verdunkeln drohte.

Beides neu zu gewinnen ist das Anliegen von VII. "Paulus, Luther und die Moderne/Postmoderne" (413-480). In einem ersten Abschnitt ("Von Paulus zum Paulinismus Luthers", 415- 438) kennzeichnet S. noch einmal in knappen Strichen die Theologie des Paulus und ihre Rezeption durch Luther. Der nächste Abschnitt ("Paulus und Luther in ihrer Bedeutung angesichts heutiger Herausforderungen", 439-476) verfolgt die Behandlung der paulinischen und lutherischen Rechtfertigungslehre in den ökumenischen Dialogen, wobei insbesondere die Gemeinsame Erklärung einer scharfen Kritik unterzogen wird.

Dabei scheint mir allerdings manches Argument überzogen. So wird z. B. die Differenz zwischen GER 10 und Röm 1,16 f. gerügt: "Die Gottesgerechtigkeit wird nach Paulus auch nicht verkündet, sondern offenbart, hat also unmittelbaren göttlichen Geschehenscharakter" (452). Aber: Wenn Paulus von der Offenbarung der Gottesgerechtigkeit im Evangelium (1,17) spricht - wo anders geschieht diese Offenbarung als in der Verkündigung des Evangeliums? Auch die einseitige Festlegung des paulinischen Verständnisses vom Glauben als "Entscheidung Gottes" (455) und die daraus abgeleitete Kritik müsste im Einzelnen diskutiert werden.

Die Frage, wie eine "Neuinszenierung des paulinischen Evangeliums" (373) für heute aussehen könnte, die diesen Maßstäben genügt, ist offen. S. selbst setzt dafür höchste Anforderungen: "Nötig ist eine Übersetzung, bei der sowohl weitestgehende Werktreue als auch ein Höchstmaß an analoger Aussagekräftigkeit in der neuen Sprachwelt angestrebt werden" (470). Das ist eine große Herausforderung - vielleicht sogar eine Überforderung. Aber damit ist der Blick für die Aufgabe geschärft und dafür ist S. zu danken, ebenso dafür, dass er die Unterschiede zwischen der paulinischen Rechfertigungslehre und ihrer Interpretation durch Luther klar herausgearbeitet hat. Ich meine allerdings, dass die Wirkung der kongenialen "Neuinszenierung" der paulinischen Botschaft durch Luther nicht nur einer gelungenen Intertextualität, sondern auch einer inhaltlich beschreibbaren Übereinstimmung in wichtigen Punkten zu verdanken ist.