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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

38–40

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bryant, Robert A.

Titel/Untertitel:

The Risen Crucified Christ in Galatians.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2001. X, 272 S. gr.8 = SBL. Dissertation Series, 185. Lw. US$ 47,95. ISBN 1-58983-021-0.

Rezensent:

Ingo Broer

Diese Dissertation am Union Theological Seminary und an der Presbyterian School of Christian Education ist dem Galaterbrief gewidmet und analysiert ihn aus rhetorischer Perspektive.

Im ersten Kapitel fasst der Vf. die Ergebnisse der rhetorischen Analyse der Paulusbriefe seit Deissmann und die Ergebnisse der rhetorischen Diskussion zum Galaterbrief seit H. D. Betz zusammen. Darüber hinaus gibt er eine kleine Einführung in die von der antiken Rhetorik unterschiedenen Gattungen der Rede und streift dabei auch kurz die Geschichte der rhetorischen Analyse der Paulusbriefe von der Antike bis zur Gegenwart.

Die Aporetik der Zuweisung des Galaterbriefes an alle drei in der Rhetorik der Antike genannten Gattungen durch verschiedene Autoren in der jüngsten Vergangenheit führt den Vf. zu vier Perspektiven, die er weiter verfolgen will: Die Frage der Gattung des Galaterbriefes will er offen lassen und sich stattdessen auf bestimmte rhetorische und briefliche Praktiken und Kategorien konzentrieren; stärker als frühere Autoren will er die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Autors bei der Anwendung der rhetorischen und brieflichen Mittel ins Auge fassen; statt genus und dispositio will er mehr die inventio und elocutio in den Mittelpunkt stellen; schließlich will er die in der Literatur feststellbare Vernachlässigung des Präskriptes rückgängig machen und dessen auffällige Erweiterungen im Galaterbrief auf ihre Bedeutung für den ganzen Brief befragen.

Das zweite Kapitel dient dem Nachweis, dass Epistolographie und Rhetorik nicht so weit voneinander entfernt sind, wie in der Literatur gelegentlich behauptet worden ist, und bietet ebenso wie das dritte Kapitel eine lehrbuchartige Einführung in die antike Rhetorik, wie sie in deutscher Sprache etwa von M. Fuhrmann vorgelegt worden ist. Der Vf. hebt hier u. a. auf die Ähnlichkeit von Brief und Rede nach der antiken Rhetorik ab, die z. B. von Quintilian stark herausgestellt wird. Das schließt freilich nicht aus, dass Unterschiede zwischen beiden durchaus anerkannt werden. Im Unterschied zur Rhetorik sind freilich theoretische Abhandlungen zur Epistolographie frühestens aus dem 1. Jh. v. Chr. belegt. Die älteste dieser Ausführungen wird bekanntermaßen fälschlicherweise Demetrius von Phaleron zugeschrieben. Diese betont mit der Tradition die Nähe des Briefes zum Dialog, hebt aber selbst hervor, dass der "letter should be a little more formal than the dialogue". Aus der späteren Zeit gibt es mehrere theoretische Werke zur Briefkunst. Das Schreiben von Briefen spielte auch schon seit dem 4. Jh. v. Chr. im Fortgeschrittenen-Stadium der Schule eine Rolle, hatte aber dort nicht den Zweck, die Kunst des Briefeschreibens zu vermitteln, sondern die Nachahmung bestimmter Stile zu fördern.

Für das dritte Kapitel gibt Cicero das Motto, das die stereotype Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte nach der rhetorischen Tradition der Antike beschreibt: "Erstens muß der Redner finden, was er sagen will, dann das Gefundene nicht nur in ordentlicher Abfolge, sondern auch mit wohlerwogener Gewichtung verteilen und zusammenstellen, drittens das Gerüst sprachlich umkleiden und ausstatten, danach alles im Gedächtnis verwahren und schließlich mit Würde und Geschmack vortragen" (De oratore, I 142). Der Vf. handelt dieses Kapitel deswegen unter den Stichworten invention, arrangement, expression und composing for persuasion ab und geht naturgemäß auf den für den Brief unwichtigen Schritt des Auswendiglernens (memoria) nicht näher ein. Ergebnis ist u. a.: "the ancient teachers of communication show evidence of preferring the linear development of ideas and the placement of a message's most central points at the beginning and ending of the communication" (233). Diese Erkenntnis hatte sich bereits im ersten Kapitel angedeutet und führt den Vf. dazu, den Briefeingang des Galaterbriefes einer intensiven Analyse zu unterziehen, die in gewisser Weise das Zentrum des Buches bildet.

Dies geschieht im 4. Kapitel, in dem der Vf. sich von der allgemeinen Rhetorik wegbewegt, sich dem Galaterbrief zuwendet und versucht, hier die zuvor aus der antiken Rhetorik erhobenen Kategorien auf den Brief des Heidenapostels anzuwenden. Der Vf. beschreibt das Briefvorwort des Galaterbriefes, das er letztlich in 1,1-10 findet, vor allem im Vergleich mit dem Vorwort anderer antiker Briefe und mit dem der übrigen echten Paulusbriefe und sucht die Frage nach den Gründen für die zahlreichen paulinischen Abweichungen vom Formular des Eingangsgrußes zu beantworten. Damit folgt der Vf. dem anfangs erarbeiteten Ziel, die Flexibilität des Paulus bei der Anwendung der rhetorischen und epistolographischen Regeln zu verfolgen und der Vernachlässigung des Vorwortes des Galaterbriefes in den bisherigen rhetorischen Analysen gegenzusteuern. Bei der Erörterung des Briefeingangs spielen naturgemäß das Fehlen der sonst bei Paulus üblichen Danksagung und der Ausdruck der Verwunderung in 1,6 eine wichtige Rolle. Paulus hat nach B. diese Abweichungen bzw. Expansionen vom Briefeingang bewusst vorgenommen, denn er hat zu Anfang des Galaterbriefes, wie bereits R. G. Hall für Gal 1,1-5 festgestellt hatte, die brieflichen Elemente der salutatio mit den rhetorischen Elementen des exordiums verbunden und so ein "salutation/exordium" geschaffen. Der Vf. greift dafür mit Betz und Lüdemann auf die beiden Typen des exordiums zurück, auf das principium und die insinuatio ("Einschmeichelung"). Hinter dieser Verbindung von principium und insinuatio in einem einzigen exordium steckt freilich ein Problem, das bereits Betz vorsichtig angedeutet und unter Hinweis auf das schwierige Verhältnis des Paulus zu den Galatern nach deren Fast-Übernahme der judaistischen Predigt abgewiesen hatte (vgl. auch 138). Denn der Autor der Rhetorik ad Herennium betrachtet principium und insinuatio als alternative Einleitungen einer Rede, die sich gegenseitig ausschließen. Auch der Vf. spielt auf das Problem an ("Mixing these two rhetorical forms may seem peculiar to some", 136; vgl. auch 140, Anm. 108), überspielt es aber mit Hinweis auf die "Graeco-Roman emphasis on wise adaptability" (136).

Das principium findet der Vf. vor allem in der mehrfach wiederholten Hervorhebung des "Evangeliums", in dem doppelten Fluch und in V. 10, obwohl nach seiner Meinung hier unerklärbare Reste bleiben, die insinuatio in dem zuvor als Zitat einer Bekenntnistradition herausgearbeiteten V.4 f. und in dem "ich bin erstaunt"-Satz (V. 6). Da das exordium auf den Gegenstand der Rede vorbereiten soll, muss der Gegenstand in diesem deutlich angesprochen werden. Nach Ansicht des Vf.s ist in Gal 1,1-10 "the unmistakable keynote ... the gospel of Christ". Dieses Grundthema wird bereits im Briefeingang erläutert durch die Auferweckung des Gekreuzigten (1,1), dessen Selbsthingabe (1,4) und den Willen Gottes (1,4 f.10) - alles Themen, die sich im Corpus des Briefes wiederfinden und damit den Charakter des Briefeingangs als exordium bestätigen.

Diese drei Themen werden in den folgenden Kapiteln im Galaterbrief aufgesucht und primär innerbrieflich, z. T. aber auch innerpaulinisch in unterschiedlicher Intensität, aber sehr eloquent erörtert. Die Erläuterung der großen Bedeutung des gekreuzigten ist im Galaterbrief natürlich leichter als die des auferstandenen Christus, da das Verbum "auferwecken" im Galaterbrief nur einmal und das Verb "auf(er)stehen" kein einziges Mal vorkommt, während das Verb "kreuzigen" und das Substantiv "Kreuz" jeweils dreimal begegnen. Aber da Paulus im ersten Satz des Briefes Jesus Christus in der Tat ganz betont als den Auferweckten zur Sprache bringt, kann man natürlich erwägen, ob nicht bei jeder Erwähnung Jesu Christi im Galaterbrief an den (Gekreuzigten und) Auferstandenen gedacht ist. Nur, wenn man von der These ausgeht, dass in 1,1-10 briefliche salutatio und rhetorisches exordium eine Verbindung eingegangen sind und es gerade eine Eigenart des exordiums ist, die wichtigsten Themen der Rede vorab zu intonieren, so gerät man natürlich leicht in die Gefahr eines Zirkelschlusses, wenn man nicht alle Christus-Belege sehr sorgfältig darauf prüft, ob es hier wirklich immer um den im Vorwort so betonten Auferstandenen geht. Dass in Gal 1,15 die Offenbarung des Sohnes an Paulus nicht unabhängig von der Auferstehung gedacht werden kann und soll, ist ohne weiteres einleuchtend, und dasselbe wird auch für 2,16 gelten, aber steht z. B. in Gal 5,1.2 und 5,10 wirklich auch der Gedanke der Auferstehung im Vordergrund oder ist er möglicherweise, wenn überhaupt, nur mitgedacht? Reicht es als Nachweis, für 5,2.10 zu fragen: "For instance, of what use is it for Paul to speak of advantages coming from a Christ who does not live? Or what reason is there for Paul's confidence in the Lord, if the Lord Jesus who was crucified is not risen (5:10)?" (156)? Dieselbe Gefahr besteht m. E., wenn der Vf. zum Briefeingang feststellt: "Evidently, the issues at stake in Galatia regarding the gospel were too important for Paul to withhold these matters until after an epistolary salutation" (233). Dies ist eine Möglichkeit, neben der aber auch noch andere gleichberechtigt bestehen bleiben.

Es handelt sich um eine durchaus eindrucksvolle Arbeit, die eine große Menge von Literatur rezipiert hat, die durchaus eigenständig mit den Kategorien der antiken Rhetorik umgeht und Linien durch die Theologie des Galaterbriefes aufzeigt, deren Ergebnisse freilich überzeugender wären, wenn der Vf. an einigen Stellen auch den Beweis bzw. den Gegenbeweis angetreten hätte. Lässt sich dasselbe Verfahren an den anderen echten Paulusbriefen in gleicher Weise durchführen, und stößt man dort auf Grund der anderen Briefsituation auf andere Grundthemen? Denn zumindest bei der Behauptung zum "risen crucified" bleibt die Frage bestehen, ob die Annahmen hier nicht so allgemein gewählt sind, dass sie überall passen. Auch wäre es für die Plausibilität der These, in Gal 1,1-10 läge eine nach der antiken Rhetorik sich ausschließende Verbindung von insinuatio und principium vor, sicher nützlich, Analogien aus der Antike beizubringen. Ein Hinweis auf ein Luther-Zitat dürfte dafür kaum ausreichen.