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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

34–37

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kessler, Rainer

Titel/Untertitel:

Die Ägyptenbilder der Hebräischen Bibel. Ein Beitrag zur neueren Monotheismusdebatte.

Verlag:

Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2002. 176 S. 8 = Stuttgarter Bibelstudien, 187. Kart. Euro 21,90. ISBN 3-460-04971-5.

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

"Das alte Ägypten hält die europäische Phantasie besetzt wie keine andere Kultur der vorgriechischen Antike" (Vorwort). Diese "Faszination Ägypten" ergreift immer wieder auch die Bibelwissenschaft und auf dem Hintergrund dieser Faszination haben auch die Bücher des Ägyptologen Jan Assmann, etwa dessen Mose-Buch, ihren Erfolg. Eben dieses Buch (Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, deutsch 1998) war der Anstoß für die hier zu besprechende Untersuchung: Allerdings vermerkt Kessler schon in der Einleitung Zweifel an der von Assmann vorgenommenen Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Ägypten und Israel auf die Frage der Religion und des Monotheismus. "Sollte für die im Alten Testament ja tatsächlich breit belegte Konstellation von Israel und Ägypten wirklich die leitende Unterscheidung ... die zwischen wahrer Religion und Götzendienst sein? Denkt man beim Exodus nicht erst einmal an die Unterscheidung von Sklaverei und Freiheit? Und was den Bildkult angeht, den man gewiss nicht ohne Anhalt in der Hebräischen Bibel zur furchtbarsten Sünde zählen kann: Wird er denn wirklich ausgerechnet an Ägypten festgemacht? Fallen einem da nicht zunächst die kanaanäischen Baale und Ascheren ein oder die Götterbilder Babels ... Einmal ins Grübeln geraten und der Assmannschen Füllung der mosaischen Unterscheidung gegenüber misstrauisch geworden, tut sich die Frage auf, der ich in dieser Studie nachgehen will: Welches Bild haben die alttestamentlichen Schriften dann eigentlich von Ägypten?" (11)

K. unterscheidet drei Bereiche, für deren Darstellung er von Assmann den Begriff des Diskurses aufnimmt, weil dieser die "sprachlichen Formen und Semantiken mit den Interessen und Machtstrukturen, die am Aushandeln der Wirklichkeit beteiligt" sind, verknüpft (13). Er unterscheidet den außenpolitischen Diskurs, den Exodusdiskurs und den weisheitlichen Diskurs. Als ersten stellt K. den außenpolitischen Diskurs dar, weil dieser Diskurs am wenigsten beachtet wird und weil die Äußerungen den entsprechenden Ereignissen zeitlich nahe stehen, d.h. dass etwa die prophetischen Äußerungen unmittelbar auf zeitgenössische, außenpolitische Gegebenheiten Bezug nehmen, während der Exodusdiskurs oder der weisheitliche Diskurs auf eine fernere Vergangenheit Bezug nehmen.

Die Darstellung des außenpolitischen Diskurses nimmt denn auch mehr als die Hälfte des gesamten Buches ein (14-90). K. gliedert die Darstellung nach den ägyptischen Dynastien, zunächst "vom 10. Jh. bis zum Beginn der Kuschitenherrschaft", weiter "von den Kuschiten zu den Saiten" (7. und 6. Jh.) sowie "Ägypten seit Beginn der Perserherrschaft" und schließlich einem Ausblick auf "die Zukunft Ägyptens". K. erörtert in gut verständlicher Sprache und zugleich fachlich ertragreich die jeweiligen geschichtlichen Entwicklungen und die relevanten prophetischen Worte. Durch die Konzentration auf die Beziehung zu Ägypten gewinnen die sonst eher am Rande stehenden Prophetenworte ein interessantes, klares Profil, und es entsteht eine deutliche Entwicklungslinie. Insgesamt wird deutlich, dass "der Gegensatz zwischen JHWH und Ägypten im engeren Sinn kein religiöser [ist]. Es geht nicht um den Gegensatz zwischen JHWH und den Göttern Ägyptens, es geht nicht um den Gegensatz zwischen Monotheismus und Polytheismus, nicht um den Gegensatz von bildloser Gottesverehrung und buntem Bilderkult. Die Götterwelt Ägyptens spielt im außenpolitischen Diskurs keine Rolle" (90). - Dass gerade dieser aktuellste der drei Diskurse praktisch keinen Bezug auf die religiöse Welt Ägyptens, aber auch auf die Monotheismus-Frage enthält, stellt schon in sich eine wichtige Erkenntnis und eine erhebliche Anfrage an die von Assmann postulierte Grundunterscheidung dar.

Bei der Darstellung des Exodusdiskurses - in der Überschrift charakterisiert mit Ex 20,2 "aus dem Land Ägypten, dem Sklavenhaus, herausgeführt" - nennt K. zunächst die "präludierenden" Überlieferungen von den Erzeltern und die Erwähnungen des Exodus im geschichtlichen Credo sowie die Wendung im Dekalog. Die eigentliche Darstellung setzt aber mit der "Exodustradition als Nordreichstradition" und konkret mit dem Exodusmotiv bei Hosea ein (91-101). Zur Frage des Exodus als Ursprungsmythos des Nordreichs erörtert K. die Parallelen zwischen Ex 1-5 und 1Kön 5-12, wobei er (gegen E. Otto, der zur Mosegeschichte nur neuassyrische Bezüge sieht) festhält, dass - jedenfalls auch - eine Beziehung zwischen der Exodusgeschichte und den Salomo-Jerobeam-Texten besteht. Der Exodusdiskurs steht unter einem völlig anderen Vorzeichen als der außenpolitische Diskurs. "Das Ägypten dieser Überlieferungsbildung ist nicht mehr das Ägypten eigener Erfahrung - auch wenn diese am Anfang gestanden haben mag -, es ist ein Ägypten der Projektion. Darin unterscheidet sich dieses Ägyptenbild völlig von dem des außenpolitischen Diskurses ..." (100). Diese Beobachtung gilt auch für die weitere Entfaltung der Exodustradition in der deuteronomischen und nachdeuteronomischen Literatur wie auch für "die narrative Entfaltung in Ex 1-15" (109-115). Selbst dort, wo es um religiöse Aspekte geht, wie etwa bei der Auseinandersetzung mit den ägyptischen Zauberern, geht es aber nicht um einen Gegensatz zur ägyptischen Religion, sondern um den Gegensatz zum Pharao und damit zur Macht der Unterdrückung. Selbst in den literarisch jungen Erzählungen um den Konflikt mit den ägyptischen Zauberern "bleibt als Grundkonstellation der soziale Konflikt enthalten (1,13 f.; 6,5-7). Das religiöse Motiv spielt nur eine Nebenrolle" (114). Eine explizit religiöse Dimension wird in dem Geschichtsrückblick von Ez 20 angesprochen, wenn hier Ägypten zum Land des Götzendienstes der Vorfahren wird. Der Text macht allerdings deutlich, dass es auch hier nicht um Ägypten an sich geht, sondern dass Ägypten zur Projektionsfläche innerisraelitischer Erfahrungen und Konflikte wird.

Dieses Faktum, dass der Ägyptendiskurs sowohl in seiner politischen wie in seiner ansatzweise religiösen Dimension letzten Endes Ägypten als Projektionsfläche für israelitische Probleme darstellt, stellt ein theologisches und ethisches Problem dar. Wie verhält es sich bei dieser Typisierung Ägyptens mit der Beziehung zum realen Ägypten? K. hält zu Recht fest, dass mit der Erklärung, dass es sich nur um eine fiktive Aussage handelt, das Problem nicht gelöst ist. Wichtiger ist u. a., dass Ägypten nicht nur als Sklavenhaus, sondern auch als Land der Fremdlingschaft (und damit der Zuflucht) gesehen wird, was im Gemeindegesetz von Dtn 23,2-9 eine positive Beziehung begründet (zur Projektionsproblematik s. u.).

Der dritte und kürzeste Abschnitt behandelt den weisheitlichen Diskurs (129-153). Hier geht es um die Anerkenntnis von Ägypten als Land der Weisheit, wie sie sich an verschiedenen Stellen findet, sodann um den "neugierigen Blick" auf Ägypten, wie er sich in einigen prophetischen Texten (Jes 19, 5-10 und Ez 30,13-19) und insbesondere in der Josefsgeschichte niederschlägt. In diesen Texten wird der Blick sehr offen auf Ägypten gerichtet, aber die Anerkenntnis ägyptischer Gegebenheiten steht immer im Horizont der Unüberbietbarkeit JHWHs. "Es geht nicht ... um die Behauptung einer Überlegenheit Israels - in den Gestalten von Josef, Mose und Aaron oder Salomo - über Ägypten, dies wäre ja auch kaum plausibel zu machen, aber es geht um die Überlegenheit JHWHs. Wo immer die Überlegenheit seiner Protagonisten erzählt oder auf andere Weise formuliert wird, muss sie deshalb immer an JHWH selbst zurückgebunden werden. Er ist der eigentlich Überlegene." An dieser Stelle kommt nun K. auf Assmanns "Mosaische Unterscheidung" zurück, indem hier in der Tat - jedoch nicht wegen eines monotheistischen Prinzips, sondern auf Grund des Anspruchs JHWHs - eine grundsätzliche Überlegenheit JHWHs bzw. eine Intoleranz gegenüber anderen Ansprüchen erhoben wird.

Unter "V. Zum Schluss: Der Eine Gott und der schmerzhafte Weg zu Frieden, Freiheit und Teilhabe" (154-161) erörtert K. das theologische und hermeneutische Problem. Gegenüber Assmann hält er fest, dass offensichtlich "gar nicht die Unterscheidung zwischen Polytheismus und Monotheismus" wesentlich ist (156). "Das Frieden Stiftende und kulturelle Übersetzung Ermöglichende wie das Gefährliche, Krieg und Intoleranz Fördernde liegen weder im Polytheismus noch im Monotheismus - und für die Moderne kann man hinzufügen: auch nicht im Atheismus - als solchen, sondern in deren jeweiliger gesellschaftlicher Verbindung. Und genau an dieser Stelle entfalten die Ägyptendiskurse der Hebräischen Bibel ihre ganze Stärke. Denn sie verlaufen eben nicht entlang der Scheingrenzen von Monotheismus oder Polytheismus als solchen. Sondern ihre Opposition ist der eine Gott JHWH auf der einen und der Pharao als Repräsentant imperialer Macht auf der anderen Seite. Kritisiert wird nicht Ägypten als Hort des Polytheismus, sondern als Repräsentant des Imperialismus" (157). Der abschließende hermeneutische Aspekt ist, dass Ägypten für Israel von der Projektionsfläche zum Spiegel wird bzw. werden sollte. K. greift dazu ein Modell aus der Entwicklungspsychologie auf, demzufolge im Umgang mit Projektionsobjekten Konflikte gewissermaßen außerhalb des eigenen Ich bearbeitet werden können, dass es aber nur dann zu einer gesunden Entwicklung kommt, wenn die so gewonnen Einsichten auf das eigene Ich zurückbezogen werden. "Was in den Ägyptendiskursen des Alten Testaments an Ägypten kritisiert wird, ist ein Spiegel dessen, was in Israel selbst in die falsche Richtung zu gehen droht." (159) Worauf es letzten Endes ankommt, ist, diese Projektion zu erkennen und fruchtbar zu machen, nicht nur in der Auslegung des Alten Testaments, sondern auch in der "Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts" (160 f.). Unter diesem Aspekt ist die material- und gedankenreiche Arbeit nicht nur ein thematischer Längsschnitt durch das Alte Testament, sondern ein überzeugender Beitrag zur Hermeneutik und Bedeutung des Alten Testaments.