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Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

26–28

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Krech, Volkhard

Titel/Untertitel:

Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XI, 377 S. gr.8 = Religion und Aufklärung, 8. Kart. Euro 59,00. ISBN 3-16-147755-3.

Rezensent:

Stefan Laube

Dieses Buch von Volkhard Krech ist nicht aus einem Guss geschrieben. Ausgangspunkt war der nicht publizierte, wissenschaftsgeschichtliche Teil seiner Dissertation von 1998 über "Georg Simmels Religionstheorie", dem sich ein von der DFG gefördertes Projekt (Leitung: Hans G. Kippenberg) zur Geschichte der Religionsforschung anschließen sollte. Die Abschnitte über Religion und Kunst sowie zur Mystik hat der Autor schon in Aufsätzen veröffentlicht, sie werden hier nochmals verwertet.

Schon zu Beginn der Lektüre löst der viel versprechende Wortlaut des Titels Irritationen aus: Bei "Wissenschaft und Religion" hätte man beispielsweise gerne mehr über den religiös fundamentierten Fortschrittsglauben erfahren, vielleicht auch über den komplementären wissenschaftsdogmatischen Materialismus. Auch die zeitliche Eingrenzung zwischen 1871 und 1933 im Untertitel ist nicht korrekt. Präzise wäre es gewesen, ihn "Studien zur Religionsforschung um die Jahrhundertwende" zu nennen. Denn das Jahr 1900 ist die Achsenzeit, um die sich bei K. alles dreht. Die Wissenschaftsgeschichte der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jh.s oder die so wichtige Frage über Brüche und Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus gefrieren in seinen deduktiv-narrativen Ausführungen zur vor- bzw. nachgeschichtlichen Abbreviatur. Entwicklungslinien sichtbar gemacht hat dieses Buch gewiss nicht.

Darin geht es also um eine Wissenschaft, deren Gegenstand im deutschen Fächerkanon lange Zeit nicht zu einer eigenen Disziplin aufsteigen sollte. Das Religiöse blieb vielmehr auf verschiedene Wissenschaften verteilt, was ja kein Nachteil sein muss, sondern den interdisziplinären Blickwinkel und die Methodenvielfalt geradezu verstärkt. K.s größte Aufmerksamkeit gilt dabei den Konstitutionsbedingungen der Religionssoziologie. Wer sich darüber und über die Abhängigkeiten der Religionsforschung von außerwissenschaftlichen, gesellschaftlichen und weltanschaulichen Bedingungen kundig machen will, wird das Buch mit Gewinn lesen.

Kurz zum Inhalt der Arbeit, die aus drei Teilen besteht: Im ersten Teil geht es um die Paradigmen von Religionswissenschaft. Hier trifft K. eine wichtige methodische, gerade auch historisch plausible Unterscheidung, diejenige zwischen Religion und Religiosität, die auf Max Weber zurückgeht und die das gesamte religionswissenschaftliche Forschungsfeld von "objektiven" Institutionen bis zu "subjektiven" Wahrnehmungen aufspannt. K. liefert dazu einen begriffs- und geistesgeschichtlichen Exkurs, der bis ins 18. Jh. zurückreicht. Der zweite Teil widmet sich der Wissenssoziologie und fragt danach, wie die Religionsforschung auf den sozialen Wandel reagierte. Einer Separierung des religiösen Feldes in einer immer differenzierteren Gesellschaft stand eine zunehmende Vielfalt religiöser Lebensformen gegenüber, gerade auch außerhalb der Kirchen. Der dritte Teil adaptiert die Kompensationstheorie aus den Geisteswissenschaften der 1960er Jahre auf die Religionsforschung der 20er Jahre. Denn er macht angesichts des universalen Modernisierungsprozesses damit verknüpfte Sehnsüchte und Verlusterfahrungen zum Thema: Ursprungsphantasien, die sich um Begriffe des Messianismus oder des "ganz Anderen" zentrierten.

Auch die Diskursrhetorik des Autors verbirgt nicht seine traditionelle Vorgehensweise, die am besten mit "Ideengeschichte der großen Geister" umschrieben zu sein scheint. Weite Strecken der Arbeit, insbesondere das Kapitel über Paradigmen und Methoden, das mit den Leitbegriffen Historismus, Funktionalismus und Existenzialismus plakatiert ist, oder der abschließende Teil über das so genannte Nietzsche-Syndrom gestalten sich wie ein kursorischer Parforce-Ritt durch ein Gelände, wo sich Klassiker mit ihren Ansichten zur Religion auftürmen. Interessierte ohne fundierte Bibliothek in Reichweite werden K.s Potpourri aus Zitaten und Paraphrasen zu schätzen wissen. Zentrale Aussagen zur Religion sind nun zwischen zwei Buchdeckeln komprimiert zu finden.

Der Autor versteht seine "Studien" nicht als "Detailuntersuchung", sondern als Versuch, "einen Überblick über die Religionsforschung in ihrer formativen Phase" zu geben. In seinem Vorwort räumt er ein, dass seine Darstellung "von vereinseitigenden Schwerpunkten" durchsetzt ist. Tatsächlich scheint es hier weniger um den umfassenden Konstitutionsprozess der Religionsforschung zu gehen, sondern um die Entstehungsbedingungen der Religionssoziologie und ihre Aufwertung in diesem geisteswissenschaftlichen Rahmen. Die Stärke des Buches liegt eben in den religionssoziologischen Passagen, so in den zu vergleichenden Betrachtungen anregenden Teilen über Simmel, Troeltsch und Max Weber.

Insgesamt behandelt der Autor ein wichtiges und bisher vernachlässigtes Thema. Dennoch hätte man sich eine stringentere Verbindung der drei Teile gewünscht, ein Defizit, auf das der Autor unverblümt in seinem Vorwort hinweist. Viel wäre gewonnen, wenn von dieser Studie aus der Vogelperspektive interdisziplinäre, historisch abgestützte Fallstudien ausgehen würden. Denn erst, wenn man sich die Mühe macht, versteckte Quellen auszugraben, auch aus Bild- und Archivforschung Schlüsse zieht, werden subtile wissenschafts- und symbolpolitische Zusammenhänge offensichtlich. Erst dann wird es gelingen, dem Wandel Gesicht zu verleihen, anstatt das Jahr 1900 zum alles überstrahlenden Fixstern zu hypostasieren. Auch das epochale Spannungsfeld zwischen Kirchenentfremdung und Virulenz des Religiösen ist erst dann objektiv behandelt, wenn es auch aus kirchlicher Sicht reflektiert wird. Dass modellhaft und deduktiv die heutige Gesellschaftsbetrachung auf eine historische Epoche übertragen wird, ist K. nicht vorzuwerfen, denn er arbeitet soziologisch. Dennoch: Wenn konsequenter der soziale Wandel auf der Folie der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung in den Blick gerückt worden wäre, wenn der Autor überhaupt stärker das Spätere aus dem Früheren erklärt hätte, wäre wohl auch ihm nicht verborgen geblieben, dass damals Religion und Moderne in sich so verschränkt waren, dass eine idealtypische Trennung bisweilen mehr verdecken als erklären kann.

Die Gedankenführung der gut lesbaren, wenn auch unanschaulichen und lexikalisch anmutenden Arbeit stören nur in Einzelfällen soziologische Stilblüten, wenn es zum Beispiel auf S. 12 zum Auseinandertreten zwischen Religiosität und Religion heißt: "Aber gerade darin war, um es noch einmal zu betonen, der wie auch immer geartete Rückbezug von Religiosität auf objektive Religion im Sinne eines eigenständigen Kulturgebildes genauso impliziert, wie der Individualisierungsprozeß das Korrelat des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses ist." Von Nutzen ist es, dass jeder Religionsforscher bei der ersten Nennung mit Geburts- und Sterbejahr erwähnt wird. Dem hätte es entsprochen, wenn bei den Literaturangaben und im Register die Protagonisten der Studie auch mit ihrem vollständigen Vornamen genannt worden wären.