Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2004

Spalte:

23–26

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Haupt, Heinz-Gerhard, u. Dieter Langewiesche [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nation und Religion in der deutschen Geschichte.

Verlag:

Frankfurt a. M.-New York: Campus 2001. 655 S. 8. Kart. Euro 51,00. ISBN 3-593-36845-5.

Rezensent:

Helmut Zander

In der Debatte um den Nationalismus, die seit etwa einem Jahrzehnt sehr intensiv geführt wird, ist der Faktor Religion nur selektiv wahrgenommen worden. Zwar hat man die religionsäquivalenten Strukturen nationalistischer Ideologien, in denen Nation als letzter, "metaphysischer" Wert überhöht wurde, gesehen, sowie die enge Verknüpfung von Protestantismus und deutscher Nation realisiert - allerdings nur in groben Zügen. Es fehlten weitgehend Analysen nichtprotestantischer Milieus und der protestantischen Binnendifferenzierung und überhaupt mikrohistorische Studien.

Diese Defizite sucht der vorliegende Sammelband mit 18 durchweg fundierten Aufsätzen auszuleuchten. Chronologisch reichen sie von den frühneuzeitlichen Wurzeln des Nationalismus, die in den allerletzten Jahren zu einem eigenen Forschungsfeld geworden sind, bis zum Ersten Weltkrieg. Methodisch haben alle Beiträge, dem Trend der Forschung folgend, den Schwerpunkt auf die Analyse des Nationalismus als Deutungskonfiguration verschoben und die ältere Forschungstradition, die stärker mit Entwicklungs- und soziostrukturellen Theorien analysierte, in den Hintergrund gerückt.

Die Relativierung der lange dominierenden protestantisch-borussischen Perspektive zeigt sich in vier Feldern:

- Für das Verhältnis von Katholizismus und Nation in Deutschland liegen weit weniger Arbeiten vor als für den Protestantismus. Auch katholischerseits hat man Frieden mit der Nation gemacht: liberale Katholiken früh, die katholischen Massenvereinigungen wie die Zentrumspartei und der Volksverein später, wie Beiträge über den Begriff der Nation in Lexika (Willibald Steinmetz), über konfessionelle "Helden" in der Nationalgeschichtsschreibung (Stefan Laube, Nikolaus Buschmann) oder über konfessionelle Bilder der Nation (Frank Becker) deutlich machen. Sie bestätigen, dass Ultramontanismus kein ausreichendes Etikett für das Verhältnis der Katholiken zum Deutschen Reich ist.

- Zwei Aufsätze über das Verhältnis von Nationalismus und Katholizismus in Tirol öffnen die kleindeutsche Perspektive auf das Habsburgerreich hin - mit bemerkenswerten Ergebnissen. Dass liberale Katholiken deutscher und italienischer Zunge in einem gemeinsamen Anti-Ultramontanismus zugleich den Nationalismus ihrer Sprachgruppen kritisierten (Thomas Götz), ist ebenso unerwartet wie die ebenfalls für Tirol belegte Differenzierung zwischen Nation (und Heimat) und katholischer Religion (Laurence Cole), die die traditionelle Vorstellung einer identifikatorischen Konstruktion von Nation und Religion relativiert. Der preußisch-deutsche Nationalismus erscheint vor diesem Hintergrund als regionale Ausprägung des chamäleonartigen Konzeptes der Nation.

- Beiträge über Minderheiten, insbesondere über Juden, aber auch über die Sorben, machen deutlich, wie groß die Hegemonisierungsbedrohung der nationalistischen Ideologie für Minoritäten war und wie prekär ihre Anpassungsversuche waren: Juden etwa suchten das Judentum von einer Religionsgemeinschaft in einen "Stamm" oder eine "Rasse" umzudefinieren, um einen im deutschen Nationalismus akzeptierten Status zu erhalten (Michael Brenner). Andererseits kann bei Minderheiten, etwa den Sorben (Hartmut Zwahr), auch deutlich werden, welches Gewicht Religion als Resistenzfaktor besitzen konnte.

- Ulrich Linse dokumentiert, wie weit eine international verfasste Minderheit wie die Theosophische Gesellschaft den nationalen Rahmen überschreiten konnte, zugleich aber an den national organisierten Landesgruppen fast zerbrochen wäre. Über solche internationalistisch strukturierten religiösen Vereinigungen, etwa im Bereich der christlichen Dissenter, wüssten wir gerne mehr, etwa ob sie auch langfristig ins Lager der Kritiker der Nation gehörten, wie einige Theosophen mit ihrem Engagement für den Völkerbund.

Mit diesen Neujustierungen verschiebt sich die makrohistorische Gesamtwahrnehmung in diesem Band gleichwohl nicht unproblematisch, weil sie, wohl nicht absichtlich, dem Missverständnis Raum bieten, dass die Vorherrschaft beim Projekt deutsche Nation nicht im Protestantismus gelegen haben könnte. Die protestantische Hegemonie zeigt allerdings in der gebotenen Deutlichkeit Frank-Michael Kuhlemann, der im Übrigen eine innerprotestantische Differenzierung dokumentiert, nämlich den Dissens in der Pastorenschaft. Insbesondere konservative Pfarrer realisierten sehr sensibel das Konkurrenzverhältnis zwischen dem christlichen Gott und der metaphysisch aufgeladenen Nation. Wie sehr der deutsche Nationalismus ein protestantisches Kind war, dokumentieren nicht zuletzt die Beiträge zur auslaufenden Frühen Neuzeit. Während Georg Schmidt für das Alte Reich noch eine konfessionelle Offenheit trotz frühnationalistischer Strömungen herausarbeitet, gibt es um 1800 eine Epochenzäsur. Von Friedrich Nicolais Antikatholizismus (Horst Carl) bis zur Sakralisierung der deutschen Nation im Angesicht der französischen Eroberungskriege (Jörg Echternkamp) zieht sich die protestantische Besetzung und Aufladung der in diesen Jahren als machtpolitischer Faktor konstruierten Nation.

Der Band besitzt das große Verdienst, das Verhältnis von Nation und Nationalismus als einen auch genuin religiös bestimmten Diskurs zu analysieren. Die Herausgeber plädieren dabei plausibel dafür, vom Begriff der politischen Religion oder der Ersatzreligion Abschied zu nehmen, und verstehen unter Nationalismus vielmehr die "Sakralisierung der Nation" als "Nationalisierung christlicher Glaubensinhalte" (16). Sodann weisen sie alle entwicklungstheoretischen Perspektiven von sich. Denn aus der Differenziertheit, nachgerade Widersprüchlichkeit der Optionen zur Konjunktion von Religion und Nation lässt sich nur die Folgerung ziehen, dass Deutschland zwar faktisch auf das kleindeutsch-preußisch-protestantische Modell verengt wurde, aber nur unter Eliminierung oder Abdunklung vieler alternativer Optionen. Studien dazu, insbesondere zu weiteren Minderheiten, Dissentern, regionalen oder gruppenspezifischen Differenzierungen, nicht zuletzt eine umfassende Arbeit zum Verhältnis von Katholizismus und Nationalismus wären adäquate Antworten auf den anregenden Fundus dieses Bandes.