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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1354–1356

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Seip, Jörg

Titel/Untertitel:

Einander die Wahrheit hinüberreichen. Kriteriologische Verhältnisbestimmung von Literatur und Verkündigung.

Verlag:

Würzburg: Echter 2002. XII, 449 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 48. Kart. Euro 28,80. ISBN 3-429-02421-8.

Rezensent:

Lutz Friedrichs

I. Predigten greifen gern auf Literatur zurück. Ein Stück aus Böll, Brecht oder Kaschnitz wirkt motivierend, bestärkend, auflockernd oder auch konterkarierend. Literatur in der Predigt macht "angenehm betroffen" (320), trifft aber nicht.

So sieht es der Autor. Als Ursache vermutet er eine "Verfestigung der Predigt zu einem Predigtritual" (320), in dem Literatur - als Versatzstück funktionalisiert - gleichsam erstarren muss. Aber nicht nur so wird ihr Eigenwert verspielt. Bleibt die ästhetisch-literarische Form ohne Einfluss auf das Predigen, wird die Verkündigung unansprechend, weil sie Hörerinnen und Hörer nicht zur "Mitarbeit" herausfordert. Genau diesem zweiten Aspekt stellt sich Jörg Seip, Vikar in der Pfarrseelsorge in Bad Lippspringe, in seiner Dissertation. Sie zielt auf die Frage, wie Predigt literarisch werden kann. Gemeint ist nicht, dass Predigt zu einem "ästhetischen Glanzwerk" (315) werden solle. Vielmehr geht es um das "Beachten literaturwissenschaftlicher Kriterien beim Verfassen eines Predigtmanuskripts" (315).

II. Seine zentrale These lautet: Das Verhältnis von Verkündigung und Literatur muss "nach den Wunden vergangener Zeiten formal eingeübt werden" (414). Dazu sei der Begriff der Fiktionalität besonders geeignet, weil er das Eigene der Literatur ebenso markiere wie "den neuralgischen Punkt der Theologie" (ebd.): Fiktionaliät sei theologisch bisher weitgehend undifferenziert als Gegensatz zu "Wahrheit" verstanden worden; das habe Missverständnisse produziert, die in Zukunft vermieden werden sollen. - Diese These entfaltet S. nach einer kurzen Einleitung (A.) in zwei Argumentationsgängen zunächst historisch (B.), dann systematisch (C.). Der letzte Teil konkretisiert das Verhältnis von Verkündigung und Literatur exemplarisch am Beispiel der Predigt (D.). S.s Überlegungen sind weitgespannt und facettenreich. Ich beschränke mich auf eine Skizze der argumentativen Hauptlinie.

In einem ersten Argumentationsgang lotet S. das Verhältnis von Verkündigung und Literatur historisch in drei exemplarischen Querschnitten aus (B. Literatur und Theologie - Koalition oder Mesalliance?): 1. Der Lessing-Goeze-Streit zeige "eine zu eng gewordene Theologie [...] und darüber hinaus die Überwindung dieser Enge [...]: auf dem Theater behandelt Lessing Göttliches ansprechender und - vor allem - wirksamer als es auf der Kanzel der damaligen Theologen geschieht" (100). Wie S. selbstkritisch vermerkt, tendiert diese Rekonstruktion hinsichtlich der Ausgangsfrage zum Trivialen (siehe 101). 2. Der "Katholische Literaturstreit" im ausgehenden 19. Jh. (der Fall Handel-Mazzetti und die Zeitschrift Hochland) zeige überdeutlich lehramtliche Bemächtigungsversuche katholischer Literatur, basierend auf einem zu engen Verständnis von Fiktionalität, das doch eigentlich einen "Dienst an der Selbstbefreiung des Lehramtes zu sich selbst" leisten könnte (129). Damit kommt der dritte Querschnitt in den Blick: 3. "Neubeginn auf dem Papier oder Das Veto der Literaten und das zweite Vatikanum" (129). Da das zweite Vatikanum die Autonomie der Kunst und Literatur prinzipiell anerkannt habe, diese aber nur unzureichend realisiere, sei heute von einer "Situation ohne mildernde Umstände" (152) auszugehen. In diesem Zusammenhang spannend zu lesen ist die kritische Analyse einer frühen Celan-Deutung Karl-Josef Kuschels.

Den zweiten Argumentationsgang lese ich als das Herzstück der Arbeit (C. Fiktion und Offenbarung - Antinomie oder Komplementarität?). In ihm wird der Begriff der Fiktionalität unter Rekurs insbesondere auf die Wirkungsästhetik Wolfgang Isers literaturwissenschaftlich aufgearbeitet und theologisch reflektiert. Fiktionalität, auch anthropologisch und philosophisch bedacht, wird mit Wolfgang Iser nicht als Gegenpol, sondern als "Mitteilungsverhältnis" verstanden: "Statt Gegenteil zur Wirklichkeit zu sein, teilt die Fiktion etwas über die Wirklichkeit mit. [...] Versteht man die Fiktion somit als Kommunikationsstruktur, so muss die alte Frage "Was bedeutet die Fiktion? ersetzt werden durch die Frage Was bewirkt sie?" (207) Damit kommt die sinnstiftende Funktion von Literatur in den Blick: "Was die Fiktion ermöglicht, ist die Verbindung von Wirklichkeitserfahrung und Sinnbildung: Die Fiktion lässt uns etwas als Wirkliches und zugleich als Medium der Sinnbildung begreifen." (Johannes Anderegg, 318, Anm. 13). Theologisch ist dieses Verständnis von Fiktionalität insofern brisant und herausfordernd, weil nicht nur die biblische Tradition unter solchen wirkungsästhetischen Gesichtspunkten zur fiktionalen Literatur zu zählen ist, sondern auch die Frage nach dem Verhältnis von Fiktionalität und Offenbarung aufgeworfen wird. S. nimmt diese Spuren auf, deutet an, dass die klassische Gegenüberstellung von Offenbarung und Fiktion nicht mehr haltbar ist, muss aber einräumen, dass damit ein sich weiter ergebendes, von ihm nicht zu bearbeitendes Feld eröffnet wird (266).

Der dritte Gang konkretisiert die eher allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Verkündigung und Literatur homiletisch (D. Re-Literarisierung der Verkündigung am Beispiel der Predigt). S. beansprucht, hier nur einen "Vorschlag" (314) zu machen. Er will seine Leserinnen und Leser - ganz auf der Linie der wirkungsästhetischen Theorie - mit drei Aspekten "zur weiteren Auseinandersetzung" (315) provozieren: 1. Im Anschluss an Henning Luthers Predigtpraxis und Wilfried Engemanns Predigttheorie soll Predigt als literarisch-fiktionale Predigt "den Sinn der Welt erschüttern, eine indirekte Frage stellen, auf die zu antworten der Prediger sich in einer letzten Unentschiedenheit versagt." (325) Dazu müssen 2. Predigerinnen und Prediger in besonderer Weise sensibilisiert werden (biblische Texte laut lesen; Lesen als Beitrag zur Selbstauslegung; Einüben ins Narrative). 3. gilt es "fünf Möglichkeitsbedingungen" von Predigt als Literatur zu berücksichtigen, die S. mit den zwei grundlegenden Stichworten "Variation" und "Eigenstand" verbindet (Variation durch Bilder und Erzählungen; Ernstnehmen des Eigenstandes von Hörer, Texten und Tradition). Dass er beim Thema "Eigenstand der Tradition" auf den dynamischen Prozess setzt, in dem Wahrheit nicht feststeht, sondern immer erst zu "suchen" (409) ist, weist auf einen sympathischen Zug hin: S. lebt sozusagen vom Zutrauen in eine sich selbst offen haltende Tradition - ohne sich abschrecken zu lassen von den vielen Gegenbeispielen, die er nicht verschweigt.

III. S. will sich die Wahrheit der Literatur "hinüberreichen" lassen - wie einst Nelly Sachs 1959 aus Stockholm an Paul Celan schrieb. Er erhofft sich damit die Überwindung eines fundamentalen homiletischen Problems, des unsäglichen Nebeneinanders von explicatio (Erklärung) und applicatio (Anwendung), wie es bereits Eduard Mörike verdichtet hat: "Bis Anfang Applicatio. Indes der Wächter Elfe schreit. // Mein Herr denkt: es ist Schlafenszeit; // Ruckt seinen Stuhl und nimmt das Licht; // Gut Nacht, Herr Pfarr! - Er hört es nicht."

Das Buch ist, auch wenn es in seiner Diktion nicht immer einfach ist, anregend zu lesen, weil solche und viele andere literarische Beispiele verarbeitet sind. Nach seiner Lektüre hatte ich allerdings den Eindruck, dass angesichts der Fülle dieser Beispiele deren "Eigenstand" - der Absicht S.s zuwiderlaufend - nicht immer zum Zug kommt.

Plausibel ist zudem die grundlegende These, dass eine sich literarisch verstehende Predigt das "Mörike-Problem" gleichsam zu lösen in der Lage ist: durch kreative Variation biblischer Tradition "kann über die Gegenwart, die Situation der Hörer ohne Zweiteilung in Exegese und Applikation gesprochen werden" (383). Leider werden die vielen guten Anregungen für eine literarische Predigtpraxis material kaum konkretisiert, was kein Vorwurf ist, weil das Buch damit seinem ausdrücklichen Anspruch treu bleibt, eine "Fundamentalhomiletik" (315) sein zu wollen. S. begrenzt sein Feld, und das ist angemessen. So hebt er auch ausdrücklich hervor, dass er die rhetorischen und liturgischen Probleme seines Themas zwar sieht, aber nicht bearbeiten kann. Dennoch hätte ich es als angemessen empfunden, dass zumindest das Problem "Verkündigung" nicht nur im literarischen, sondern auch im gesellschaftlich-medialen Zusammenhang bedacht worden wäre - etwa unter der Frage, ob und wie unter gegenwärtigen Bedingungen Verkündigung überhaupt (noch) möglich ist. Vermisst habe ich auch eine kritische Verortung des eigenen Ansatzes im Dialog "Literatur und Theologie". Das hätte geholfen, Begriffe wie "katholische Literatur" oder "Religion" theoretisch zu differenzieren oder den Rekurs auf die literarische Form kulturtheologisch stärker zu reflektieren.

Das Buch will zum Weiterdenken provozieren. Wer es zur Hand nimmt, wird zur "Mitarbeit" herausgefordert - auf manch einem Nebenpfad, besonders aber hinsichtlich seines zentralen Anliegens, den theologisch-homiletischen Blick auf Fragen der Fiktionalität zu richten. In der letzten Zeit hat sich auf diesem Feld einiges bewegt. Ich hoffe, dass die Spuren, die von S. gelegt werden, aufgenommen und weiter verfolgt werden.