Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1346–1348

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gebhard, Dörte

Titel/Untertitel:

Menschenfreundliche Diakonie. Exemplarische Auseinandersetzungen um ein theologisches Menschenverständnis und um Leitbilder.

Verlag:

2. Aufl. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2002, 331 S. 8 Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1791-2.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Dörte Gebhard legt mit ihrer bei R. Schmidt-Rost entstandenen Kieler praktisch-theologischen Dissertation von 1999 - die 2.Auflage ist gegenüber der Erstpublikation unverändert geblieben - einen Ansatz für eine theologische Apologetik vor. Anthropologische Fragestellungen werden ihr dabei zum Fokus für eine weitgreifende polemische Kritik an der Diakonik und den meisten ihrer Protagonisten. Im Hintergrund ihrer Studie stößt man immer wieder auf ein Motiv, das zu tun hat mit der Selbstrechtfertigung der von G. vertretenen Richtung universitärer Theologie gegenüber den als Vorwürfen empfundenen Kritiken von Diakonikern etwa an der Diakonievergessenheit der Theologie. G. diagnostiziert "Probleme bei der Theologierezeption vonseiten der Diakonik", stellt fest, dass "von den Vorwürfen, die von diakoniewissenschaftlicher Seite vorgetragen werden, ... der gesamte theologische Fächerkanon betroffen" sei, und sieht zu überwindende "Kommunikationsbehinderungen in der diakonischen Wissenschaft selbst und zwischen der Diakonik und Universitätstheologie" (18). Am Beispiel anthropologischer Fragestellungen will sie "die Leistungsfähigkeit der theologischen Überlegungen für die Praxis" (18) der Diakonie nachweisen. Die Anthropologie versteht sie dabei als "Fundamentalwissenschaft" (39), mittels derer sie eine theologische Messlatte an die theologische und interdisziplinäre Argumentationskraft der Diakonik anlegt.

Nach einem wissenschaftshistorischen Durchgang zur Entwicklung der Anthropologie aus philosophischer, theologischer, medizinischer und diakoniewissenschaftlicher Perspektive inspiziert G. die Auseinandersetzung der Diakonik mit der wissenschaftlichen Theologie (49-105). Dabei übt sie eine Art "Form- und Gattungskritik" (49) an der diakonischen Literatur, indem sie auf deren oft "populärwissenschaftlichen Charakter" (50) oder pauschalierende Begrifflichkeit (54) hinweist. Sie expliziert die diakoniewissenschaftliche Kritik an der Theologie als Ganzer, an der Praktischen Theologie und an systematisch-theologischen Argumentationsmustern. Im Gegensatz zu vielfältigen diakoniewissenschaftlichen Thesen, die dargestellt werden, kommt G. zu dem Ergebnis, "dass die Theologie durchaus ihrer kritisch-begleitenden Aufgabe für die Diakonie gerechtzuwerden vermag" (105).

In zwei weiteren Kapiteln wird die Auseinandersetzung der Diakonik mit den Humanwissenschaften ausgeführt, deren gesellschaftliche Bedeutungszunahme von Seiten der Diakonik bis in die 1960er Jahre hinein tendenziell noch kritisch abgelehnt, bald aber über die Maßen unkritisch adaptiert wurde. Die Rezeption der Humanwissenschaften in der Diakonik im Sinne von untergeordneten "Hilfswissenschaften" (128), Fremd- bzw. "Heilsprophetien" (129) oder im interdisziplinären Dialog theologisch-kritisch zu integrierende Wissenschaften wird systematisch dargestellt. G. offenbart in der diakonalen Adaption der Humanwissenschaften eine überbestimmte und theologisch nicht korrigierte Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen, für die die Diakonie arbeitet, eine "Ausblendung oder Instrumentalisierung der Ethik" (162) und eine "Ergebnisorientierung als Zielfixiertheit" (166). Die Propriumsdiskussion der Diakonie empfindet G. deshalb als "personalisiert" (169), da die christliche Profilierung diakonischer Praxis weitgehend an der Motivation der Mitarbeitenden aufgehängt werde. Die Leitvorstellungen der "Einheitlichkeit, Ganzheitlichkeit und Vorbildlichkeit" (169 ff.) als spezifisch christliche Charakteristika diakonisch-anthropologischer Theoriebildung und Handlungspraxis werden in Auseinandersetzung mit zahlreichen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen diskutiert.

Im Zuge der Ökonomisierung des Sozial- und Gesundheitswesens steht die theologische Begleitung diakonischen Handelns vor der Aufgabe, sich kritisch mit den Wirtschaftswissenschaften auseinander zu setzen. Die Menschenverständnisse, die dabei aufeinanderstoßen, werden in einem eigenen Kapitel (238-277) verhandelt. G. bringt hier zunächst die wirtschaftswissenschaftliche Selbstkritik bezüglich der ihr zu Grunde liegenden Anthropologie und dann weitere Kritiken etwa am Postulat der "Sachzwänge und Eigengesetzlichkeit" (251 ff.) oder der "individualistischen Verengung" (255 f.) ins Spiel. G. zeichnet die Tendenzen der diakonisch-theologischen Ablehnung der Ökonomisierung ebenso nach, wie sie die diakonietheoretische Aufnahme ökonomischer Konzepte des Managements und der Unternehmenspolitik bei Alfred Jäger oder des Dienstleistungstheorems bei Johannes Degen kritisiert.

Abschließend stellt sie den Zusammenhang von Apologetik und Diakonik unter dem Leitbegriff "Denkende Diakonie" (278 ff.) her, indem sie die "Beschäftigung mit apologetischen und vor allem volksmissionarischen Konzepten ... in der Diakonik als exemplarischen Fall der notwendigen, theologischen Selbstkritik" (280) fordert. Diakonik, Poimenik und Apologetik rücken in der Sicht G.s dann notwendigerweise zusammen, wenn "die denkende Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben nicht mehr im unmittelbaren Kontakt mit den Nöten der Menschen stattfindet" (283). So werden vielfältige Parallelen von Apologetik und Diakonik aufgezeigt, die etwa die fehlende Herausbildung einer eigenständigen Disziplin im theologischen Fächerkanon, die Suche nach einer theologischen Heimat oder die "Orientierung am Primat der Praxis" (298) betreffen. Perspektivisch müsse eine theologisch fundierte Diakoniewissenschaft und -praxis ihre "Menschenfreundlichkeit und -dienlichkeit" (303) daran erweisen, dass sie einer "unevangelische[n] Überforderung" besonders der Diakoniemitarbeitenden entgegenzuwirken habe, die nicht primär aus ökonomischer Überfremdung, sondern bereits aus der spezifisch theologischen Fundierung der Diakonie in oft gesetzlicher Tendenz entstehe.

G.s Urteil über die Diakonik fällt über weite Strecken vernichtend aus. Dennoch findet sie auch Anknüpfungspunkte in der Wissenschaft der Inneren Mission und der Diakonie des 19.und des 20. Jh.s, die sie konstruktiv einsetzt und zum Teil weiterführt. Ihr Interesse dabei scheint weniger die theologische Fundierung der gegenwärtigen diakonischen Praxis und wissenschaftlichen Diakonik zu sein als vielmehr die Neubegründung einer theologischen Apologetik, die freilich nicht in erster Linie den christlichen Glauben verteidigt, sondern die Theologie. Am Ende ergeben sich interessante und diskussionsbedürftige Optionen für die theologische Apologetik und für eine in die Theologie zu integrierende Diakonik.