Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1328–1331

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Großhans, Hans-Peter

Titel/Untertitel:

Die Kirche - irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003VIII, 318 S. gr.8. Geb. Euro 48,00. ISBN 3-374-02071-2.

Rezensent:

Gunther Wenz

Rechte Theologie ist eine elementare Kunst des Unterscheidens: zwischen Gott und Mensch, zwischen Glaube und Werken, zwischen bezeugtem Christus und christlichen Zeugen. Apostolische Zeugenschaft und kirchliche Zeugenschaft in der Nachfolge der Apostel leben von der österlichen Gewissheit, dass im Zeugnis vom auferstandenen Gekreuzigten dieser in der Kraft des göttlichen Geistes sich selbst lebendig zu bezeugen vermag. Ohne das gläubige Vertrauen in das Selbstbewährungsvermögen der Wahrheit des dreieinigen Gottes kann es ein entsprechendes Bekenntnis zu ihm nicht geben. Es ist daher kategorisch untersagt, dass sich christliche Zeugenschaft ununterscheidbar mit dem bezeugten Grund des Christentums identifiziert. Die Unterscheidbarkeit des Wahrheitszeugnisses von der bezeugten Wahrheit ist konstitutiv für die Wahrhaftigkeit des bzw. der Zeugen. Mit Hans- Georg Geyer zu reden: "Der strenge Unterschied zwischen dem Zeugnis für die Wahrheit und der vom Zeugnis intendierten Wahrheit selbst gehört offenbar zum Wesen des wahren Zeugen. Das wahre Zeugnis wahrt die Unterschiedenheit zur Wahrheit, die es bezeugt." (Einige Überlegungen zum Begriff der kirchlichen Lehre, in: Gemeinschaft der reformatorischen Kirchen. Berichte und Dokumente des lutherisch-reformierten Gespräches in Europa [Auf dem Weg II; Polis 41], Zürich 1971, 25-68, hier: 46.) Kann daher zwar nicht ohne weiteres gesagt werden, "dass Bewusstsein und Bekenntnis dieses qualitativen Unterschiedes eine menschliche Äußerung als evangelisches Zeugnis qualifizieren, so gilt doch die negative Konsequenz, dass seine Leugnung ihre Disqualifizierung bedeutet" (a. a. O., 54 f.).

Mit den skizzierten Grundsätzen bzw. den ihnen impliziten Grundunterscheidungen sind die Leitlinien des Kirchenverständnisses markiert, das G. in seiner von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen angenommenen Habilitationsschrift (Gutachter: Eberhard Jüngel und Eilert Herms) unter drei Aspekten entfaltet hat: 1.Der Ursprung und das Sein der Kirche; 2. der Wahrheitsbezug und die Apostolizität der Kirche; 3. Kirche als irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums. Epilegomena zu ekklesiologisch relevanten Wahrheitstheorien sind beigegeben. Dabei plädiert G. entschieden für einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff, dem ekklesiologisch der Vorzug vor kriteriologischen Wahrheitsbestimmungen konsens- oder kohärenztheoretischer Art zu geben sei, weil nur er eine konsequent wirklichkeitsbezogene Wahrheitsdefinition biete.

Die Wirklichkeit, deren Wahrheit die Kirche bezeugt, ist nach G. inbegriffen im Evangelium der Rechtfertigung des Sünders, welches der auferstandene Gekreuzigte in Person ist. In ihm erhält die theologische Basisunterscheidung von Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf jene Konkretion, ohne welche sie abstrakt bleiben müsste: Gott nimmt in Jesus Christus aus Gnade allein den Sünder an. Indem er das Rechtfertigungsevangelium beglaubigt, schafft der Heilige Geist die Gemeinschaft der Gläubigen, die in Wort und Tat den im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Gott bekennen. Der Ursprung der Kirche, der ihr Sein als Leib Christi beständig bestimmt, ist damit in einer trinitätstheologisch-pneumatologischen Weise bündig umschrieben, die im Rechtfertigungsevangelium ihre soteriologische Mitte findet. Präzisiert wird diese Umschreibung im ersten Kapitel durch differenzierte Studien zum Wahrheitsverständnis im Galaterbrief sowie zur Rezeption des paulinischen Verständnisses der Wahrheit des Evangeliums in den deuteropaulinischen Briefen.

Ihr Ursprung in der Wahrheit des Evangeliums, das sie folgsam bezeugt, bestimmt das Sein der Kirche als Leib Christi, wobei der differenzierte Zusammenhang der Kirche mit ihrem Haupt durch die konsequente Wahrung des Unterschieds zu ihm vermittelt ist. Es ist nach G. das Wesensmerkmal der Apostolizität, welches die Kirche dauerhaft an das sie konstituierende Ursprungsgeschehen bindet und die beständige Exzentrizität ihres Seins ausmacht. Die Apostolizität der Kirche hält deren Relation auf die als Wahrheit bekannte Wirklichkeit, der sich Kirche verdankt, dauerhaft fest. Dies wird im zweiten Kapitel unter Bezug auf das zentrale Problem des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Verborgenheit der Kirche, in Bezug auf die Frage kirchlicher Irrtumsfähigkeit sowie bezüglich der Kennzeichen der Kirche im Einzelnen entfaltet. Erwägungen zum Schriftprinzip, das G. nicht formal, sondern ganz von der inneren Mitte des Rechtfertigungsevangeliums her verstanden wissen will, zur Verbindlichkeit von Bekenntnisschriften sowie zur Funktion kirchlicher Lehre sind angefügt. Die Grundfiguren der Argumentation sind dabei stets die gleichen: Kirche ist, was sie ist, indem sie sich in der Gewissheit des Glaubens auf die im Rechtfertigungsevangelium wirksame Wahrheit Gottes verlässt, in welcher sie ihren externen Konstitutions- und Erhaltungsgrund findet.

Nicht durch Selbstgleichsetzung mit der göttlichen Wahrheit, sondern nur in der Weise konsequent durchgehaltener Selbstunterscheidung von ihr kann Kirche sein, wozu sie bestimmt ist: irdischer Raum der Wahrheit des Evangeliums. Die Reflexionen zur wirklichen Kirche, will heißen: zu der vom Heiligen Geist in der Welt als Teil der Welt gewirkten Kirche im dritten Kapitel bestätigen diesen Sachverhalt, indem sie die bezeichnete argumentative Grundfigur variieren. Erörtert werden in diesem Zusammenhang Fragen der Heilsnotwendigkeit der Kirche, ihrer kirchenrechtlich verfassten Ordnung sowie ihrer Weltsendung. Als wichtigste ekklesiologische Autorität fungiert Karl Barth, den mit seinem Antipoden Schleiermacher zu versöhnen G. nach Kräften bemüht ist.

Das abschließende Kapitel enthält wahrheitstheoretische Reflexionen in ekklesiologischer Absicht. G. favorisiert, wie erwähnt, die Korrespondenztheorie der Wahrheit, weil der Bezug auf Wirklichkeit das Proprium ihres Wahrheitsbegriffs bilde, wohingegen die Konsens- und Kohärenztheorien der Wahrheit ihre unbestrittene kriteriologische Funktion nur dann recht wahrnehmen können, wenn sie eine korrespondenztheoretische Definition der Wahrheit bereits voraussetzen. "Die Korrespondenztheorie der Wahrheit", so G., "hält fest, dass wir auch bei einem konsensuell legitimierten Wahrheits- oder Geltungsanspruch oder einer kohärentistisch legitimierten Proposition immer noch einmal fragen können und sollen, ob sie wirklich richtig bzw. wahr sind, da wir es auch dann immer nur mit unseren (rational gerechtfertigten) Auffassungen von Richtigkeit und Wahrheit zu tun haben." (276 f.) Um der Wahrheit willen ist zwischen einer mit Wahrheitsanspruch vorgetragenen Behauptung und der in ihr behaupteten Wirklichkeit zu unterscheiden. Wie schon in seiner Dissertation plädiert G. entschieden für das, was er "theologische[n] Realismus" nennt.

Was darunter genau zu verstehen ist, lässt sich in bündiger Form dem Artikel "Gegenstand" im dritten Band der Neuauflage der RGG entnehmen, den G. in religionsphilosophischer und theologischer Hinsicht bearbeitet hat (vgl. RGG4 III, Sp. 545 f.). Als Gegenstand soll danach alles gelten, "was wir als Referenzobjekt unseres Redens und Denkens semiotisch konstruieren" (Sp. 545), wobei zwischen idealen und realen Gegenständen zu unterscheiden sei. Real ist ein Gegenstand dann, wenn sich seine Existenz nicht lediglich der Tatsache verdankt, als Gegenstand intendiert zu sein, sondern seinem Sein als solchen. Das Gottsein Gottes hat in diesem Sinne als real zu gelten, wenn es nicht, wie in der radikalen Religionskritik der Fall, als rein idealer Gegenstand verstanden werden soll, dessen Sein mit Intendiertsein zusammenfällt. Die mit der realen Gegenständlichkeit Gottes "geltend gemachte semiotische Differenz zw. Darstellung und Dargestelltem sowie die ontologische Differenz zwischen dem Dargestellten als semiotischem Konstrukt und dem damit Dargestellten als außersemantischem Objekt wird gegenwärtig", so G., "v. a. unter dem Schlagwort des theol. Realismus diskutiert." (Ebd.) Das aktuellen Diskussionen namentlich in der angelsächsischen Theologie und Religionsphilosophie entnommene Schlagwort bildet signifikanterweise auch den Titel der Dissertation von G., die 1996 in Tübingen erschienen ist. In Auseinandersetzung mit den Entwürfen von Saul Kripke, Hilary Putnam und insbesondere Ludwig Wittgenstein entwickelt G. einen eigenen - so der Untertitel der Arbeit - "sprachphilosophische[n] Beitrag zu einer theologischen Sprachlehre", der es primär um den Sachbezug der Sprache zu tun ist. Was in diesem Zusammenhang über die kausale Theorie der Referenz, über internen Realismus sowie über die hermeneutische Eigenart der Sprache des christlichen Glaubens ausgeführt wird, ist grundlegend für die ekklesiologisch applizierte Wahrheitstheorie von G.s Habilitationsschrift.

G. sieht den theologischen Realismus seiner eigenen Position aufs engste mit Kant verbunden, an dem sich nicht zuletzt seine Erörterungen zur Korrespondenztheorie der Wahrheit im Wesentlichen ausrichten. Insbesondere an der Kantschen Unterscheidung zwischen einer durch Synthesis von Anschauung und Begriff charakterisierten phänomenalen Gegenständlichkeit und der noumenalen Gegenständlichkeit des Dinges an sich zeigt sich G. interessiert, wobei er die getroffene Unterscheidung religionsphilosophisch auf Gott bezogen wissen will. Wie das genau geschehen soll und wie man die Unterscheidung zwischen Gegenstand als solchem und Wahrnehmungsgestalt desselben präzise aufzufassen hat, wäre genauer zu diskutieren. Klar jedenfalls ist, dass G. den Weg einer spekulativen Bewältigung der Ding-an-sich-Problematik im Sinne vor allem des Hegelschen Systems für nicht gangbar hält, dass er aber ebenso eine Rückkehr in einen Realismus vorkritischer Metaphysik vermieden wissen möchte.

Eine argumentative Schlüsselfunktion für G.s so genannten theologischen Realismus kommt der unter Berufung vor allem auf Luther vorgetragenen Annahme zu, der Gegenstand der Theologie als einer Glaubenswissenschaft "könne auf eine nur ihm eigene Zugangsweise erkannt werden. Danach ist zwar die Wahrheit des Glaubens genauso allgemeingültig wie die der Wissenschaften, jedoch ist der G(egenstand) des Glaubens nicht allgemein, sondern nur im Glauben zugänglich. Gott als G(egenstand) des Erkennens ist von allen anderen G(egenständen) durch die Weise seines Gegenständlichseins unterschieden. So formuliert K. Barth: Wir haben Gott wohl als G(egenstand); wir haben ihn aber nicht so, wie wir andere G(egenstände) haben. Nach R. Bultmann ist jedes Reden über Gott als ein existentiell unberührtes, nicht im Glauben an Gott geschehendes Reden von Gott, sinnlos, da es seinen G(egenstand) verloren hat. Sinnvoll kann von Gott nicht in allgemeinen, objektivierenden, sondern nur in auf die Existenz des Menschen bezogenen, im Glauben an Gott geäußerten Sätzen geredet werden." (RGG4 III, Sp. 546) In diesem theologiegeschichtlichen Kontext bewegen sich auch G.s in ekklesiologischer Absicht verfolgte wahrheitstheoretischen Argumentationen, wobei, wie gesagt, einerseits die Verbindung zu Schleiermacher gesucht und andererseits sprachphilosophische Bezüge hergestellt werden, die aber, wie ich denke, im Grundsatz nicht über die bezeichnete Problematik hinausführen.

Das gilt entsprechend für G.s Erwägungen zur "Perspektivität des Erkennens und Verstehens als Grundproblem theologischer Rationalität", die unlängst in dieser Zeitschrift erschienen sind (ThLZ 128 [2003], 352- 368). In ihnen wird im Anschluss an Leibnizens Konzeption eines multiperspektivischen Universums der Versuch unternommen, einen stimmigen Gesamtzusammenhang des sich alternativlos perspektivisch vollziehenden Prozesses individueller Gegenstandserkenntnis zu konstruieren. Obwohl Gottes Sicht einzunehmen und so zu vollkommener Erkenntnis aller Wirklichkeitszusammenhänge zu gelangen unter irdischen Bedingungen keine realistische Perspektive ist, muss nach G. vom Gottesbegriff gleichwohl Gebrauch gemacht werden, weil er die Bedingung der Möglichkeit eines wirklichen Gesamtzusammenhangs und Übereinstimmens aller möglichen Perspektiven bezeichnet. Zu fragen und näher zu erörtern wäre, ob sich G.s theologischer Realismus in solch regulativem Gebrauch der Gottesidee erschöpft, was im Sinne Kants wäre, oder ob und gegebenenfalls in welcher Weise das nicht der Fall ist.

G.s Arbeit, die in den wahrheitstheoretischen Epilegomena ihren eindeutigen Höhepunkt findet, beeindruckt durch die Fragen, die sie hervorruft, nach meinem Urteil noch mehr als durch die Antworten, die sie hierauf gibt. Dass die Leugnung des Unterschieds von Wahrheitszeugnis und Wirklichkeit der bezeugten Wahrheit eine Wahrheitsaussage disqualifiziert, hat G. sowohl wahrheitstheoretisch als auch ekklesiologisch überzeugend gezeigt. Kirchliches Wahrheitszeugnis kann nur wahr sein, wenn es sich mit der Wirklichkeit der Wahrheit, die es bezeugt, nicht gleichsetzt. Schwieriger zu erfassen ist, wie G. sich den Gegenstandsbezug kirchlichen Wahrheitszeugnisses und den Wirklichkeitsstatus des bezeugten Gegenstandes und der ihm eigentümlichen Gegenständlichkeit genau denkt. Wie ist, um es schlicht und im Anschluss an eine alte Debatte zu formulieren, der differenzierte Zusammenhang von Glaubensgrund und Glaubensgedanke exakt zu fassen? Ich meine in G.s Argumentation diesbezüglich ein Schwanken nach zwei Seiten hin zu registrieren: Einerseits wird der Glaubensgrund, wie ihn das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders zur Sprache bringt, entgegen der Absage an einen vorkritischen Realismus tendenziell positiviert und auf Grund der berechtigten Sorge, ansonsten seine inhaltliche Bestimmtheit zu verlieren, "vergegenständlicht"; auf der anderen Seite, in deren Richtung sich zu bewegen den Vorzug größerer argumentativer Stringenz zu haben scheint, wird alles Glaubenswissen zuletzt auf die Unmittelbarkeit der Gewissenserfahrung zurückgenommen. Im Gewissen, so heißt es, "kann ein Mensch nicht in Distanz zu sich selbst treten, sondern dort ist er selbst unmittelbar gegenwärtig - im Unterschied zu seinem Verstand, der sich durch seine selbstreflexive Struktur auszeichnet. Was im Gewissen geschieht, dem ist ein Mensch ganz und gar unterworfen; davon kann sich ein Mensch durch keinerlei reflexive, rationale Vorgänge distanzieren. Diese Unmittelbarkeit der Gewissenserfahrung ist der Grund, warum die Kategorie der Satzwahrheit die Art der assertiones verfehlt, mit denen die Erfahrung der Befreiung und Festigung des Gewissens durch eine gewisseste Wahrheit ausgesagt wird." (129)

Die unmittelbare Gewissenserfahrung, in der sich Gott selbst erschließt, ist nach G. der Grund des christlichen Glaubenszeugnisses, zu dem die Kirche bestimmt ist, und Wirklichkeitsbasis ihres Wahrheitsbekenntnisses. Ist Wissen in der Gewissensgewissheit des Glaubens konstitutiv mitgesetzt und, wenn ja, was weiß der Glaube, wenn er seines Grundes gewiss ist? Zumindest ein Vierfaches, so denke ich, muss in der Gewissheit des Glaubens präsent sein, wenn diese als evangelisch begründet gelten soll: ein Wissen um die geschöpfliche Bestimmung des Menschen, um deren radikale Verkehrung in der Sünde, um die Tatsache, dass die Rechtfertigung des Sünders um Jesu Christi und keines anderen willen geschieht, und darum, dass dieser und kein anderer es ist, dessen Kommen am Ende der Tage verheißen ist. Von welcher Art dieses Wissen und ob es verstandesmäßig erschwinglich ist, wäre einer eigenen Erörterung wert (vgl. dazu meine Studie: Vom apostolischen Osterzeugnis. Notizen zu Gedanken Hans-Georg Geyers, in: D. Korsch/H. Ruddies [Hrsg.], Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Gütersloh 1989, 167- 189). Dass ohne solches Wissen von evangelischer Glaubensgewissheit nicht die Rede sein kann, dürfte evident sein.