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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1324–1326

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Jackelén, Antje

Titel/Untertitel:

Zeit und Ewigkeit. Die Frage der Zeit in Kirche, Naturwissenschaft und Theologie.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 2002. 342 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1900-1.

Rezensent:

Christiane Tietz-Steiding

Während es in früheren Jahrhunderten eine "selbstverständlich anmutende Relation zwischen Zeit und Ewigkeit" gab, ist gegenwärtig das "Verhältnis von Zeit und Ewigkeit ... unklar und problematisch geworden" (82). Dieses Verhältnis durch einen Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaft zu klären, schickt sich die Vfn., die heute in Chicago lehrt, in ihrer als Lunder Dissertation entstandenen, schön zu lesenden Arbeit an. Die Studie stellt keinen Gesamtentwurf zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft dar. Vielmehr ist sie das ausdrückliche Bemühen, die beiden Disziplinen zu einem speziellen Thema ins Gespräch zu bringen. Die Vfn. hält ein solches Gespräch für nötig, weil die Theologie das Leben als Ganzes wahrzunehmen versuche (243) und die Naturwissenschaft auf ethische Reflexion angewiesen sei (244). Und sie hält ein solches Gespräch für möglich, weil sich beide Wissenschaften, wenn auch von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und mit anderen sprachlichen Mitteln, "mit derselben Wirklichkeit auseinandersetzen" (168).

Mit letztgenannter Bemerkung ist auf eine Grundschwierigkeit der Arbeit verwiesen: Zu Recht will die Vfn. über den theologischen Tellerrand hinaussehen, bleibt hermeneutisch dabei aber unscharf. Es hätte genauer gefragt werden müssen, in welcher Hinsicht sich Theologie und Naturwissenschaft mit "derselben Wirklichkeit" beschäftigen. Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich nicht von selbst, weil die Wirklichkeit Gottes gerade kein Gegenstand naturwissenschaftlicher Beobachtung ist. Doch nur wenn eine solche Antwort gefunden wird, lässt sich genauer bestimmen, in welcher Hinsicht Theologie und Naturwissenschaft sich inhaltlich zu beeinflussen vermögen.

Ausgehend von der These Paul Ricurs, dass nicht direkt, sondern nur im indirekten Modus des Erzählens angemessen von Zeit geredet werden kann (11), analysiert die Vfn. im ersten Kapitel ihrer Arbeit die besondere christliche Erzählform des Kirchenliedes, um Fragestellungen herauszufiltern, die für die nachfolgenden Kapitel wegweisend sein sollen (12). Sie nimmt sich dazu je zwei deutsche, schwedische und australische moderne Gesangbücher katholischer, reformatorischer und freikirchlicher Provenienz vor.

Die quantitative Analyse, die sich auf die Häufigkeit des Vorkommens von Zeit-, Ewigkeits-, Alltags- und Jahreszeitterminologie sowie von Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen richtet, führt zu "wenig überraschende[n] Ergebnisse[n]" (24) (Zeitvorstellungen finden sich verstärkt in den Schlussstrophen [20]; bei Liedern, die sich mit Sterben, Tod und ewigem Leben sowie mit dem Ende des Kirchenjahres beschäftigen, wird besonders oft auf Zeit- und Ewigkeitsvorstellungen Bezug genommen [24] u.a. m.).

In der qualitativen Analyse zeigt sich dagegen einiges Interessante, insbesondere signifikante Unterschiede zwischen älteren und neueren Liedern. Während in älteren Liedern beispielsweise von der Ergebung in die durch Gott gestaltete Zukunft gesungen wurde, ist in den neueren Liedern stärker von der Zukunfts(mit)gestaltung des Menschen die Rede. Entsprechend wird in letztgenannten nicht mehr irdische und himmlische Zukunft gegeneinander gestellt. Vielmehr gilt: "Gottes Zukunft verwirklicht sich schon im Jetzt" (38), die "Ewigkeit ... tritt mehr und mehr in den Dienst der Zeit, um diese zu verbessern" (54). Der moderne Mensch hofft auf "eine blühende Zukunft für die Erde" (54). Damit aber erwartet er nach Ansicht der Vfn. von der Zeit mehr, als diese leisten kann; Konsequenz ist das "Gefühl der niemals reichenden Zeit" (80).

Im zweiten Kapitel der Arbeit schildert die Vfn. zunächst den biblischen Befund. Die Bibel "liefert ... keine Theorie der Zeit" (86), sondern erzählt von der in der Zeit sich ereignenden Geschichte Gottes mit den Menschen. Das Alte Testament benutzt sowohl lineare als auch zyklische (93), sowohl statische als auch dynamische (98 f.) Zeitvorstellungen. Das Neue Testament ist geprägt von der Spannung zwischen Schon und Noch-nicht (103). Insgesamt kennt die Bibel keinen "Dualismus von Zeit und Ewigkeit" (112), wohl aber ist Ewigkeit für die Bibel "etwas qualitativ anderes als Zeit" (112).

In ihrer anschließenden Auseinandersetzung mit verschiedenen neueren theologischen Ansätzen zum Verständnis von Zeit und Ewigkeit macht die Vfn. sich mit Dalferth und anderen dafür stark, den traditionellen Gegensatz zwischen ewigem Gott und Zeit zu überdenken (116). Die Differenz von Zeit und Ewigkeit ist keine quantitative oder rein ontologische, sondern eine eschatologische, die sich - und darin ist sie sofort christologisch - daran orientiert, "was Zeit zu alter bzw. neuer Zeit macht" (129).

Der dritte Teil der Arbeit referiert allgemeinverständlich neuere, Newtons schlichten Zeitbegriff überholende naturwissenschaftliche Theorien (spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, Quantenphysik, Kosmologie, Thermodynamik, Chaostheorie). Dies geschieht in der Erwartung, das neuere naturwissenschaftliche Verständnis von Zeit als "relationales und multiples Phänomen" (247) könne dem theologischen Denken helfen, sich von einem linearen Zeitverständnis und einer dualistischen Entgegensetzung von Ewigkeit und Zeit zu verabschieden (169).

Das abschließende vierte Kapitel bringt diese Einsichten korrigierend gegen theologische Vorstellungen zur Geltung, die davon ausgehen, dass "Gott ... in Newtons Zeit zu Hause" (309) sei. Insbesondere im Bereich der Eschatologie wird diese Korrektur interessant. Gegenüber einem Zukunftsverständnis, das "Futur" als deterministische Extrapolation aus Vergangenheit und Gegenwart versteht und in scharfer Abgrenzung dazu "Advent" als unvorhersehbar "von vorne" Kommendes bestimmt (285), damit aber ein - wie der dritte Teil der Arbeit gezeigt hat- verkürztes Verständnis von Determinismus zu Grunde legt (287), muss Eschatologie Futur und Advent so verschränken, dass das menschliche, Futur erzeugende Handeln durch den überraschenden Adventus Dei herausgefordert wird; die Extrapolation der Zukunft wird dann ergänzt durch eine "Intropolation", eine die Gegenwart verändernde "Bereitschaft, das überraschend Neue entgegenzunehmen" (289).

Wenig zu überzeugen vermögen allerdings die Versuche der Vfn., über diese Korrekturen hinaus theologische Aussagen in Analogie zu naturwissenschaftlichen Modellen zu formulieren: Den Geist will die Vfn. als "eine der unerbittlichen Entropiezunahme entgegenwirkende Kraft" (299) verstehen, den Glauben als "ein selbstorganisierendes Aufschaukeln zu höherem Komplexitätsniveau" (299), die raumzeitliche Inkarnation Gottes in Jesus Christus soll anhand der imaginären Zahlenebene veranschaulicht werden (255 f.). Hier vermisst man nicht nur ein krtisches Verständnis der Naturwissenschaften, deren heutige Theorien nur Modelle bis auf bessere Einsicht sind und nicht einfach "mit der Wirklichkeit übereinstimm[en]" (259). Es bleibt hermeneutisch auch zu unklar, worin die theologische Begründung für das Dass und das Wie derartiger Analogien liegt.