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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1321–1324

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

1) Fornet-Betancourt, Raúl [Hrsg.] 2) Fornet-Betancourt, Raúl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

1) Kapitalistische Globalisierung und Befreiung. Religiöse Erfahrungen und Option für das Leben. 2) Kulturen zwischen Tradition und Innovation. Stehen wir am Ende der traditionellen Kulturen? Dokumentation des III. Internationalen Kongresses für Interkulturelle Philosophie.

Verlag:

1) Im Auftrag des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio. Frankfurt/M.-London: IKO 2000. 504 S. 8 = Denktraditionen im Dialog: Studien zur Befreiung und Interkulturalität, 9. Kart. Euro 39,80. ISBN 3-88939-543-0. 2) Im Auftrag des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio. Frankfurt/M.-London: IKO 2001. 204 S. 8 = Denktraditionen im Dialog: Studien zur Befreiung und Interkulturalität, 11. Kart. Euro 22,80. ISBN 3-88939-570-8.

Rezensent:

Franz Segbers

Gemeinsamer Hintergrund beider Bände ist nicht allein die Expansion der westeuropäischen Moderne mit ihren Auswirkungen in der ökonomischen Globalisierung. Sie führen die Globalisierungsdebatte aus einer enggeführten ökonomischen Fragestellung heraus und diskutieren sie in der Dialektik von Tradition und Innovation in verschiedenen Kulturräumen. Entstanden sind beide Bände aus Diskussionen im Rahmen des Lateinamerikareferats des Missionswissenschaftlichen Instituts Missio in Aachen, das die Kontextualisierung der Theologie in der Welt von heute fördern und dazu beitragen will, reale Bedingungen für die Konsolidierung einer ökumenischen, interkulturellen und interdisziplinären Arbeit zu schaffen. Globalisierung wird gedeutet als Universalisierung neoliberaler Politik. Die Beiträge diskutieren diesen Sachverhalt so, dass Zeugnisse anderer Kulturen und Antworten auf die Globalisierung zu Wort kommen. Diese Antworten zeigen sich in zivilgesellschaftlichen Gegenstrategien, ökonomischen Alternativen und in Widerstand. Diese Zugänge lassen nach Konsequenzen für theologische Arbeit aus Sicht der Befreiung fragen. Es geht also um nichts Geringeres als um den Versuch, die Theologie der Befreiung angesichts des Globalisierungsparadigmas neu zu denken.

Zweierlei verdeutlichen beide Bände: Trotz aller Verbreitung globalisierender Prozesse in fast allen Lebensbereichen bleibt Kontextualität nach wie vor unhintergehbar und wird es auch bleiben. Eine Dominanz der Logik des Ökonomischen über alle Lebensbereiche wird zwar registriert, doch zugleich wird mit dem Begriff der Kontextualität in Frage gestellt, dass tatsächlich die Vereinheitlichung der Welt nach den Imperativen des Marktes bereits vollzogen sei oder vollzogen werden könne. Die entgrenzende Globalisierung wird also durch Kontextualität eingegrenzt.

In seinem einleitenden Beitrag in dem Band "Kapitalistische Globalisierung und Befreiung" versucht Beat Dietschy den Begriff der Globalisierung zwischen "Faktum, Fatum oder Chimäre?" zu klären. Denn inflationär gebraucht sei er unklar und uneinheitlich. Wann immer die kontrovers datierte Globalisierung historisch mit ihrem Beginn auch angesetzt werde, so gehe es allemal doch um "Triebkräfte der marktförmigen Globalisierung" (15). Zu Recht weist Dietschy auf die medienwirksame Inszenierung hin, die zur Sache selber beitragen soll: Der unausweichliche Sachzwang der Alternativlosigkeit generiert ein Einheitsdenken, pensée unique (Pierre Bourdieu). In diesem Sinne werden die Sachzwänge im Globalisierungsdiskurs zu einer Unterwerfungsstrategie, die Gehorsam einfordert und ökonomisch-politische Alternativen verbietet, ja sachlich gar unmöglich erscheinen lässt. Doch dabei sind Sachzwänge ihrerseits Teil diskursiver Strategien und hergestellter Denkzwänge. Die ökonomische Aufklärung hat also die vermeintlichen Sachzwänge als Denkzwänge zu enttarnen. Dietschy kritisiert einen "Globalisierungsfatalismus" (23). Gegenüber einer "Sachzwang-Politik der Globalisierung" (Ulrich Beck) ist die Wiedergewinnung von Politik und von politischer Gestaltungsmacht, die zu einer Regulierung des globalen Kapitalismus beiträgt, das politische Alternativprogramm.

Der sprachlich Globalität unterstellende Anspruch der Globalisierung zerbricht an einer Realität, die Franz J. Hinkelammert so beschreibt: "Die heutige Globalisierung ist eine Rumpfglobalisierung." (69) Diese Rumpfglobalisierung konzentriert sich auf die Triade aus USA, Europa und Südostasien und grenzt zugleich andere Teile der Welt aus. Globalisierung spaltet und ist faktisch eben kein den Globus als ganzen umfassender Prozess. Fornet-Betancourt beschreibt im Rahmen seiner ideologiekritischen Analyse, wie der herrschende Globalisierungsdiskurs die tatsächlichen Verhältnisse tarnt und durch die Rede von einer "interdependenten" Welt die Machtasymmetrie in den internationalen Beziehungen verschleiert (vgl. 69).

Die neoliberale Globalisierung bleibt folglich hinter den geschichtlichen Möglichkeiten zurück. Sie ist kein Prozess, der die Welt gleichsam in ein interdependentes "globales Dorf" transformiert, sondern sie macht den Globus lediglich verfügbar, überrollt "eine global gewordene wirkliche Welt, mit der sie völlig unvereinbar ist" (37). Der spanische Theologe José Castillo nimmt die ideologiekritische Analyse der Globalisierung für eine theologische Reflexion auf. Eine zeitnahe Theologie müsse Globalisierung einerseits als Machtphänomen werten und andererseits den Ausschluss von zwei Dritteln der Menschheit von den Vorteilen der neoliberalen Wirtschaft zum Thema machen. Hoffnung auf systemimmanente Reformen besteht für ihn nicht mehr: "Das System verschlingt sich selber." (101) Die großen Hoffnungen auf Veränderungen hätten ihren Platz in der Theologie der Befreiung gehabt. Doch die Kirche habe ihre prophetische Freiheit eingebüßt und sei Opfer der kirchenpolitischen Wende geworden, die mit dem Namen Johannes Paul II. verbunden ist.

Dieser eher resignativen theologiepolitischen Einschätzung werden Zeugnisse von Mitgliedern indigener Völker entgegengesetzt. Enrique Dussel nimmt bei den von der triadischen Globalisierung Ausgeschlossenen einen Reichtum wahr, der für eine kulturelle Alternative gehoben werden müsse: "Die Ausgeschlossenen, wie das durch die sich globalisierende Moderne Negierte - weil es für sie wertlos ist -, erhebt sich heute jedoch als die Reserve an Kultur und Religion für die Zukunft der Menschheit." (208) Der Ausschluss enthält demnach auch einen Keim der Hoffnung, auch wenn "der unterdrückende Universalismus, der die Differenz nicht anerkennt, immer wieder versuchen wird, die Vielfalt zu zerstören" (208).

Auf den Anderen zu hören, wird zum zentralen Anliegen des Bandes "Kulturen zwischen Tradition und Innovation". Angesichts kapitalistischer Hegemonie sei es "schon fast ein Akt weltbürgerlichen Ungehorsams, über ein Projekt herrschaftsfreier und zugleich befreiter Interkulturalität nachzudenken" (15). Halten die traditionellen Kulturen dem Globalisierungsdruck stand? Entsteht gar eine neue Weltkontextualität? Werden Kulturen transformiert? Enrique Dussel spricht von der Hoffnung, dass der Spätkapitalismus trotz all seiner Macht die wichtigsten universalen Kulturen nicht zerstören könne. Vielmehr bergen diese eine Kraft, welche die Globalisierungsvorgänge kulturell pluralisieren. Theologie bekommt bei diesem Vorschlag zur Kulturalisierung der Globalisierung ihrerseits die flankierende Aufgabe einer Evangelisierung der Globalisierung.

Beide Bände belegen, dass die oft totgesagte Theologie der Befreiung gerade in Zeiten der Globalisierung neue ökumenische Perspektiven bekommt. Die zerstörerischen und ganze Kontinente ausschließende Globalisierung verändert das Paradigma der Theologie der Befreiung. Die Option für die Armen radikalisiert sich zu einer Option für das Leben: Das bedrohte Leben selber und nicht nur die Erfahrung struktureller Armut ist Thema der Theologie. Dieses Leben jedoch hat seinen kontextuellen Ort. Es wird am Rande gelebt und hat seine eigenen Kulturen, auf die eine Theologie hören muss, wenn sie den Widerstand gegen die Hegemonie des Marktdenkens stärken will. Die Kritik der neoliberalen Globalisierung hat Auswirkungen auf das Theologietreiben. Sie kann keineswegs in Zuschauerposition verharren, auch ist Globalisierung nicht bloß ein Gegenstand theologischer Reflexion, sondern Theologie muss angesichts der Globalisierung ihre eigenen Voraussetzungen neu denken, um einen Beitrag zu einem Exodus aus dem politischen, ökonomischen und auch kulturellen Hegemoniedenken, aus imperialem Weltmarkt und Nationalstaat leisten zu können. Die neoliberale Globalisierung, die ausschließt und zerstört, kann dadurch zu einem Thema der Theologie werden, wenn sie selbst aus der antiimperialen Tradition der Bibel so schöpft, dass die Kirche Kraft bekommt zu einer "eigenen tiefenkulturellen Konversion" (Duchrow, in: Kapitalistische Globalisierung und Befreiung, 403).

Die beiden Bände leisten einen überaus wichtigen Beitrag für eine Theologie in Zeiten der Globalisierung. Sie bringen nicht allein Theologen und Philosophen aus Nord und Süd, sondern auch die authentischen Stimmen aus indigenen Kulturen zu Wort. Wenn nach Dussel bei den vom kapitalistischen Weltmarkt Ausgeschlossenen eine "Reserve an Kultur ... für die Zukunft der Menschheit" (208) zu finden sei, so kann eine Theologie, die sich auf biblische und deshalb eben auch vorkapitalisti- sche Traditionen beruft, einerseits zur Überwindung einer Globalisierung beitragen, die nichts anderes als eine Universalisierung vereinheitlichender neoliberaler Politik darstellt, und andererseits zu einer kulturellen Vielfalt der einen Welt befreien.