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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1312–1316

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Pfleiderer, Georg

Titel/Untertitel:

Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XII, 496 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 115. Lw. Euro 99,00. ISBN 3-16-147300-0.

Rezensent:

Hans-Peter Großhans

Die 465 Seiten lange Untersuchung ist die "gestraffte Form" der Münchner Habilitationsschrift des in Basel lehrenden Systematikers. Ihr Hauptthema ist die methodologische und systematische Entwicklung der Barthschen Theologie von ihren Anfängen bis zur Göttinger Dogmatikvorlesung von 1924/25 (mit einem Ausblick auf die Kirchliche Dogmatik). Methodisch betrachtet ist P.s Untersuchung eher eine zeitgeschichtliche als eine systematisch-theologische Arbeit. Es geht P. darum, den "verborgenen zweiten Bauplan" (460) zu erschließen, dem Barth bei der Konstruktion seiner systematischen Theologie - entgegen den Bauplänen, die er selbst herausgegeben habe - folgte. Nach P.s Urteil verwendete Barth bestimmte Inszenierungstechniken, über die er seinen Lesern keine Rechenschaft gibt, die P. jedoch als Kritiker "aus seinem Zuschauersessel", aus dem er sich durch alle Mobilisierungsappelle der Barthschen Theologie "nicht vertreiben lassen wollte" (443), durchschaut und entschlüsselt.

Die anspruchsvolle und hoch reflektierte Abhandlung besteht aus zwei Teilen, denen eine Einleitung vorangeht und die von einem Resümee abgeschlossen werden.

In der Einleitung (1-25: "Modernisierungskrisen, protestantische Identität und die Theologie Karl Barths") formuliert P. den aktuellen Anspruch seiner Untersuchung. Er möchte die Theologie Karl Barths als "die exemplarische Krisentheologie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts" (6) für den Umgang mit der von ihm skizzenhaft diagnostizierten Modernisierungs- und Umformungskrise des gegenwärtigen Protestantismus fruchtbar machen. Dazu möchte er den Nachweis führen, dass für Barths scheinbar ganz auf rezipientenindifferente Objektivität abgestellte Theologie ein "durch die Reflexion auf seine intentionalen Rezipienten und deren gegebene Religiosität vermitteltes und insofern intersubjektiv ausgerichtetes theologisches Denken und kirchliches Handeln" (12) konstitutiv sei. Im Zentrum steht dabei die Analyse von Barths Umgang mit der "Selbstunterscheidung von theologischer Reflexion und religiösem Vollzug" (16) und damit Barths Versuch, die Bewusstseinstheologie des 19. Jh.s zu überwinden. Die Besonderheit bei Barth bestehe darin, dass "das religiöse Bewußtsein ... sich nicht als gewissermaßen zuständliches, sondern nur als bewußt vollzogenes, als seines Handlungscharakters bewußtes und darum als theologisches Bewußtsein" habe (17). Nach P.s Rekonstruktion kommt es damit bei Barth zu einer Theologisierung der religiösen Mitteilung: Die Barthsche Theologie bekomme selbst religiöse Bedeutung und die christliche Religion werde auf Theologie reduziert. Insofern Barths Leser in dieses Verständnis des religiös-theologischen Bewusstseins eingestimmt werden sollen, handelt es sich nach P.s Urteil um eine praktische Theologie, die die Kommunikationsgemeinschaft Kirche in ganz entscheidender Weise verändern möchte. Deshalb sei die Barthsche Dogmatik gerade in ihrer steilen Theologizität eine transzendentale Handlungstheorie.

Dies zu zeigen wird in den zwei Teilen des Buches unternommen. Der erste Teil (29-136) rückt unter der Überschrift "Die Abschaffung des Zuschauers. Zur radikalen antimodernen Modernisierung der Kulturwissenschaften in den zwanziger Jahren" Barths Theologie in den Kontext des modernen Antimodernismus der Kulturwissenschaften der zwanziger Jahre des 20. Jh.s, für den nach P.s Beobachtungen die "Abschaffung des Zuschauers" zentral war. Dazu erörtert P. "Max Webers Theorie der prekären Konstitution des starken Agenten der Moderne" (47-59), sodann als zwei Beispiele für "radikale politische Konstruktion des starken Agenten der Moderne" die Theorien von Georg Lukács und Carl Schmitt (59-89) und als zwei Beispiele für "radikale theologische Konstruktionen des starken Agenten der Moderne" die theologischen Ansätze von Emanuel Hirsch und Friedrich Gogarten (90-136). Die zwei politologischen und zwei theologischen Entwürfe dienen als "Fallstudien" (45), die der Rekonstruktion von Barths theologischer Entwicklung vorangestellt werden und die zeigen sollen, dass "Barths Theologie ... mit anderen zeitgenössischen Entwürfen mehr prinzipielle, systematische Parallelen" hat, "als sie von sich aus zu erkennen gibt" (451). Gemeinsam sei diesen Entwürfen u. a., dass sie den Aufbau von Letztbegründungswissen "als die Erzeugung oder Identifizierung eines subjekthaft strukturierten Kollektivagenten, der zugleich Handlungssubjekt und Träger des handlungstheoretischen Grundlagenwissens ist", verstehen (451). Daraus folgt nun nach P.s Analyse eine "Überkodierung der Texte, deren Ziel kein anderes ist als dasjenige, die Leser umfänglich in Beschlag zu nehmen und sie als distante Zuschauer abzuschaffen" (452).

Im zweiten Teil (139-440: "Gott ist Gott: Karl Barths praktische Theologie") zeichnet P. die Entwicklung von Barths Theologie im Einzelnen nach. Dieser Teil ist gegliedert in zwei größere Abschnitte: "A. Die Entstehung des Programms einer systematischen Theologie als systematisch-praktischer Theologie (1909-1915)" (139-261) und "B. Die Durchführung der Theologie Karl Barths als systematisch-praktischer Theologie" (263-440). Diese zwei Abschnitte gliedern vier "Phasen", in die P. die Entstehung und Entwicklung von Barths Theologie einteilt. Der Abschnitt A. ist identisch mit "Phase 1. Inversive Explikation: Theologische Reflexion und religiös-ethischer Vollzug" (139-261). Der Abschnitt B. umfasst die zweite bis vierte Phase: "Phase 2. Implizite Inversion: Die Bewegung der Gotteserkenntnis - das theologische Handlungssubjekt als pastoral-kulturelle Avantgarde (1917-1924)" (263-393); sodann: "Phase 3. Explizite Inversion: Absolute Autorität - das theologische Handlungssubjekt als kirchlich-dogmatische Elite (Die Göttinger Dogmatikvorlesung; 1924/25)" (394-422) und "Phase 4. Praktische Theologie als dogmatische Legitimationstheorie. Zur Funktion der Kirchlichen Dogmatik - ein Ausblick" (423-440).

P. zeichnet die - in den letzten dreißig Jahren schon mehrfach dargestellte - Entwicklung der Barthschen Theologie so nach, dass auch ein Leser, der in der Barth-Forschung nicht beheimatet ist, sich ein gutes Bild davon machen kann. Nach P. ist die Theologie Barths gekennzeichnet vom Theorietypus einer bestimmten geschichtsphilosophischen Handlungstheorie, den er "den Typus einer invertierten praktischen Transzendentaltheorie" (140) nennt. Die Vertreter dieses Theorietypus versuchen "ein starkes Geschichtssubjekt als kollektives Handlungssubjekt" aufzubauen, "das die Möglichkeitsbedingungen individueller Realisierung von Freiheit enthalten soll" (139). Nach P. kommt dieser Theorietypus bei Barth in besonderer Form zur Ausführung: "Barth verzichtet nämlich auf jegliche empirische Positivierung seines starken Handlungssubjekts und verlegt dessen Aufbau rein in das Bewußtsein der Rezipienten seiner Theologie" (140 f.).

Diese Besonderheit Barths wird von P. mit dem Stichwort Inversion angezeigt: Die Theorie wird so konzipiert, dass der transzendentaltheoretische Anspruch der Theorie invers wird; d.h. "er verschwindet in dem von der Theorie aufgebauten Handlungssubjekt und seine Leistung ist nur für diejenigen präsent, die diese Inversion selbst bewußt mitvollziehen." P. will deshalb den historischen Entwicklungsgang von Barths Denken "als Prozeß einer Invertierung" beschreiben (141). Das eigentliche Ziel und Thema der Barthschen Theologie ist nach P. die Bildung einer "kognitiven Elite". Barth versuche, "durch den jeweiligen Argumentationszusammenhang hindurch jene Erkenntniselite zu erzeugen" (141), die in seiner Theorie identisch sei mit dem von der Theorie aufzubauenden starken geschichtlichen Kollektivsubjekt.

Die von vielen interessanten Beobachtungen, aber auch von vielen sich wiederholenden Kommentaren geprägte Rekonstruktion der Entwicklung von Barths Denken ist eindrucksvoll, allerdings nicht immer überzeugend. P. versucht zu zeigen, dass für Barth das Versagen der Generation seiner Lehrer in der Kriegsfrage eine "Krise der Deutungs- und Handlungseliten" (252) bedeutete, die nach der "Konstituierung" einer neuen "theologischen Deutungselite" ("Gottes Vorhut") verlangte (256). Damit sei die Aufgabe bestimmt gewesen, die die ganze weitere theologische Entwicklung Barths geleitet habe. Von 1917-1924 werde das theologische Handlungssubjekt als "pastoral-kulturelle Avantgarde" (264) bestimmt. Barths Theologieverständnis schließe nun eine "Reflexionsdistanz des Zuschauers" aus (268). Barth wird in dieser Phase von P. als Vertreter einer subjektivitätstheoretischen Theologie in intersubjektiver Variation dargestellt.

In der dritten Phase von Barths Theologie kommt es nach P. zur expliziten Inversion. Der Gedanke der absoluten Autorität wird - unter dem Einfluss E. Petersons - zentral und "das theologische Handlungssubjekt" wird "als kirchlich-dogmatische Elite" bestimmt. Diese dritte Phase macht P. an Barths Göttinger Dogmatikvorlesung von 1924/25 fest. "Die Umformung der Theologie zur Dogmatik dient ihrer Präsentation als Berufswissen" (395). Für diese Präsentation sei nach P. die Form der Predigt kennzeichnend. Damit koinzidiere faktisch bei Barth die wissenschaftliche und die praktische Aufgabe der Theologie.

Die vierte Phase der Barthschen Theologie, in der die "Praktische Theologie als dogmatische Legitimationstheorie" verstanden werde, wird von P. nur noch als ein "Ausblick" auf die "Funktion der Kirchlichen Dogmatik" behandelt. Die weitere Entwicklung von Barths Theologie nach der Göttinger Dogmatikvorlesung kann nach P.s Auffassung "im Rahmen eines fortschreitenden Versuchs, die Inversion der Methodologie im Gang der Dogmatik selbst zu explizieren, gedeutet werden" (424). Damit professionalisiere die Kirchliche Dogmatik "das per definitionem Nicht-Professionalisierbare, und das heißt unter modernen Bedingungen; sie professionalisiert das Private, die Individualität, die Religion" (426). Damit vollziehe die Kirchliche Dogmatik praktisch und exemplarisch "den Aufbau des starken Handlungssubjekts der Moderne als selbstdurchsichtiges Handlungssubjekt, als praktischen Reflexionsagenten" (427).

Die Zugehörigkeit zu dem von Barth aufgebauten starken Handlungssubjekt setzt das dogmatische Wissen voraus, mit dem eine "Elite" begründet werden soll, die allerdings eine "Gegenelite, eine Gegen-Moderne" ist. Die von dieser Elite, den "professionellen religiösen Kommunikationsagenten", den Pfarrern, praktizierte Reflexion zeichne sich dadurch aus, dass sie auf nichts anderes als auf sich selbst verweise. Das Spezifikum von Barths Theologie sei "genau darin zu sehen, daß sie sich zu ihrem eigenen Reflexionsvollzug als zu einem von ihr vermeintlich verschiedenen Handlungsvollzug verhält" (439).

Im Untertitel des Buches bezeichnet P. Barths Theologie als einen paradigmatischen Entwurf systematischer Theologie im 20. Jh. Der Leser ist aber auch noch nach dem Resümee (441- 465: "Theologie als systematisch-praktische Theologie?") im Unklaren, inwiefern Barths Theologie ein Paradigma darstellt. Ebenso im Unklaren bleibt der Leser im Blick auf die in der Einleitung formulierte aktuelle Leitfrage, ob und wie die Theologie Barths für die Modernisierung und Umformung des in die Krise geratenen gegenwärtigen Protestantismus fruchtbar gemacht werden kann.

P. verfolgt keine material-dogmatischen, sondern "methodologische[...] Interessen" (25). Die von Barth erörterten theologischen Inhalte erscheinen in P.s Rekonstruktion nur als Gegenstände eines theologischen Procedere. Erst das Ergebnis der Untersuchung weist über die methodologischen Interessen hinaus, wenn P. feststellt, die systematische Theologie der Gegenwart könne von Karl Barth "vor allem lernen, daß es ... auf die kreative Erzeugung einer in sich kohärenten Sprachwelt ankommt, die philosophisch-theologische Grundlagenreflexion, Schriftexegese, dogmengeschichtliche Tradition und vor allem kulturelle Gegenwartsorientierung in einen plausiblen integralen Sprachzusammenhang bringt" (462 f.). Mit dieser Einsicht scheint der Vf. seine umfangreiche Untersuchung als eine Art Vorarbeit zu einer systematisch-theologischen Untersuchung im eigentlichen Sinne zu verstehen.

P.s Rekonstruktion macht deutlich, wie offensichtlich es für Barth zum christlichen Glauben gehörte, dass der christliche Glaube sich selbst verstehen will und deshalb sich selbst reflektiert. Theologie ist nach diesem Verständnis das notwendig zum christlichen Glauben gehörende (kritische) Sich-selbst-verstehen-wollen. P. selbst scheint dies im Übrigen anders zu sehen. So formuliert er, dass sich nach Barths Auffassung "die Wirklichkeit des Glaubens" nicht nur in der theologischen Reflexion, sondern "auch in der Entsprechung zu seinem Gegebensein vollzieht, also konkret durch Dank" (440). Nach P.s eigener Auffassung scheint die theologische Reflexion anders als die fromme Praxis dem Gegebensein der Wirklichkeit des Glaubens nicht zu entsprechen.

Das deutet nicht nur auf eine von der Barthschen sehr verschiedene Auffassung von Theologie hin, sondern auch auf ein höchst differierendes Verständnis des christlichen Glaubens. Nach der einen Auffassung gehört Verstehen und Reflexion wesentlich zum christlichen Glauben, während nach der anderen Auffassung genau dies dem Gegebensein des christlichen Glaubens nicht zu entsprechen und ihm etwas Äußerliches und Fremdes zu sein scheint.

Große Teile von P.s Buches sind geprägt von dem von P. selbst konstruierten Ort des Reflektierens, dem "Zuschauersessel" (443), von dem aus er nicht nur beschreibt, was er auf der theologischen Bühne an Barthschen Inszenierungen sieht, sondern auch rege kommentiert und ausführlich für seine Leser deutet. In dieser Rolle unterscheidet sich P. in seiner Selbstwahrnehmung in der Tat fundamental von der Selbstwahrnehmung Karl Barths, der nicht "zuschaut", sondern Theologie "inszeniert" und dabei auch keine Zuschauer, sondern nur Beteiligte kennt. P. hat versucht, sich Barths "Zuschauerverbot" (423) zu entziehen und Barths Theologie nicht nur nachzuerzählen, sondern zu rekonstruieren. Rekonstruiert wird allerdings weniger das theologische Werk Barths als vielmehr eine ältere Theorie (transzendentale Handlungstheorie), die innerhalb eines neuen Entwurfs sichtbar zu machen versucht wird.