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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1310–1312

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Goertz, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Das schwierige Erbe der Mennoniten. Aufsätze und Reden.

Verlag:

Im Auftrag d. Mennonitischen Geschichtsvereins hrsg. v. M. Kobelt-Groch u. Ch. Wiebe. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 215 S. gr.8. Geb. Euro 18,80. ISBN 3-374-02013-5.

Rezensent:

Wolfgang E. Heinrichs

Statt einer Festschrift zum Ausscheiden des Hamburger Professors für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit hat sich der Mennonitische Geschichtsverein dazu entschlossen, eine Sammlung zentraler Schriften von Hans-Jürgen Goertz herauszugeben, die sich mit der Geschichte der Mennoniten in Deutschland befassen. Diese Entscheidung hat zweifellos den Vorzug, nun nicht ein Konvolut vor sich zu haben, das, wie es nur zu häufig in Festschriften zu geschehen pflegt, recht spezifische Beiträge zu Ehren des Jubilars kompiliert, sondern die Behandlung eines einzigen Themas. Es geht um die Geschichte der Mennoniten, einer Freikirche, die ihr Selbstverständnis aus den Ideen und Konzepten der so genannten "Täufer" der Reformationszeit ableitet.

Insgesamt umfasst der Band 13 Abhandlungen (Vorträge, Reden, Lexikonartikel und Aufsätze), die G. zwischen 1971 und 2001, also in einem Zeitraum von 30 Jahren, verfasst hat. In ihnen wird schwerpunktmäßig nach der Verbindung der Täufertradition zu den Mennoniten gefragt. Gleich in ihren beiden Vorworten kommen Herausgeber und Autor auf das ihres Erachtens wesentliche Merkmal mennonitischer Geschichte zu sprechen, das sie als "schwieriges Erbe" bezeichnen. Denn noch immer seien Mennoniten mit dem "Stigma der Außenseiter" (7) behaftet und deshalb herausgefordert, gegenüber selbst in der Literatur festgehaltenen Vorurteilen nach ihrer wirklichen Identität die Geschichte zu befragen und sie anderen zu vermitteln. Diese Ansicht kann man nur bestätigen. Denn bis heute werden selbst in wissenschaftlichen Beiträgen die Begriffe "Wiedertäufer" und "Schwarmgeister" zur Bezeichnung jener religiösen Querdenker der Reformationszeit verwendet. Darüber hinaus führt der Autor die Schwierigkeit des mennonitischen Erbes auf seine Diskrepanz zurück, die sich zu den gelehrten und gelebten Lebensentwürfen seiner Erben in Vergangenheit und Gegenwart erheben lässt und ihnen im positiven wie im negativen Sinne als frag-würdig begegnet. So greift G. den Genitiv im Titel sowohl als genitivus subjectivus als auch als genitivus objectivus auf, wobei er die Rezeption des Täufertums der Reformationszeit und dessen Adaption gleichermaßen als schwierig ansieht.

In einem ersten Beitrag erläutert der Autor seinen eigenen Lebensweg vom "Mantelhaus [Gemeindegarderobe als sozialer Treffpunkt, W. H.] zum Hörsaal" (11-18), d. h. von der erfahrenen Gemeindefrömmigkeit seiner Kindheit über sein Studium und seine erste Anstellung als Pfarrer der Mennonitengemeinde Hamburg zum Universitätsprofessor. Die danach folgenden vier Untersuchungen stammen aus dem Forschungsgebiet, in dem sich G. in den letzten Jahrzehnten einen auch international anerkannten Namen gemacht hat, der Geschichte des Täufertums: "Die Täufer. Eine Skizze" (19-26); "Konrad Grebel - ein provisorisches Leben" (27-37); "Menno Simons. Eine biograpische Skizze" (39-55); "Das Täufertum - ein Weg in die Moderne?" (57-72).

Der Leser erhält eine fundierte und differenzierte Übersicht über die verschiedenen Täufergruppen, die sowohl die unterschiedliche theologische Akzentsetzung nicht übersieht als auch die jeweilig von einander abweichenden Sozialisationsräume berücksichtigt und dabei die Verbindung von Sozial- und Kirchengeschichte herstellt. Es besteht also nach G. kein wie immer auch übernommenes einheitliches Erbe des Täufertums, da es sich bei demselben um keine homogene Bewegung gehandelt hat. Dennoch gibt es für ihn gewisse Charakteristika wie etwa eine "Aufstandsmentalität" (41), das Modell einer Laienkirche (47 u. ö.), das u. a. in dem Schlagwort "Die Gelehrten die Verkehrten" (46 u. ö.) seinen Ausdruck fand, bedingt die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses und vor allem ein gelebter "Nonkonformismus", der sich vor allem in einer gewissen Unabhängigkeit von der Obrigkeit äußerte und bis zur Bereitschaft zum Martyrium ging. Dass dieser Nonkonformismus nicht immer und nicht einmal in den Anfängen so kompromisslos durchgehalten wurde wie spätere Legendenbildungen nahe legen, verschweigt der Autor, der sich einer kritischen Geschichtswissenschaft verpflichtet weiß, nicht. Seine immer wiederkehrende Bezeichnung von Täufergruppen als "Freikirche" vermag ich hingegen nicht zu teilen, da es, wie G. ja auch selbst konzediert, allenfalls theologische Ansätze gibt, die die späteren Freikirchen aufnehmen, neben radikal elitären auch volkskirchliche Konzepte existierten (31) und die Entwicklung zur Freikirche unter veränderten sozialen und politischen Bedingungen erst später stattfand (53). Es wäre von daher zu fragen, ob "Freikirche" für die Frühe Neuzeit überhaupt den geeigneten Begriff für eine Gruppe bildet, die ihre Existenz mit staatlichen Privilegien unter den Bedingungen eines Ständestaates sicherte.

In der Buchmitte steht nicht zufällig eine aktualisierte Fassung des Lexikonartikels aus der TRE "Die Mennoniten. Eine enzyklopädische Übersicht" (73-91). Danach folgen Abhandlungen, die die Reflexion, Rezeption und auch die Transformation des Täufererbes durch die Mennoniten behandeln:

"Zwischen Zwietracht und Eintracht. Zur Zweideutigkeit täuferischer und mennonitischer Bekenntnisse" (93-120); "Nationale Erhebung und religiöser Niedergang. Missglückte Aneignung des täuferischen Leitbildes im Dritten Reich" (121-150); "Nonkonformisten an der Elbe: fromm, reich und ratlos. Vierhundert Jahre Mennoniten in Hamburg und Altona" (151- 166); "Ein mennonitisches Haus der Geschichte" (167-174); "Revolution und Frieden" (175-184), eine Rede, die auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung 1968/69 gehalten wurde und selbst schon als ein zeitgeschichtliches Dokument ausgewertet werden könnte; "Das konfessionelle Erbe in neuer Gestalt. Die Frage nach dem mennonitischen Selbstverständnis heute" (185-197) und schließlich "Die kleinen Chancen der Freiheit. Überlegungen zur Reform der Freikirchen" (199-214).

Was das täuferische Erbe angeht, so kann und darf es nach G. keine konkordante Übersetzung geben, sondern lediglich eine Begegnung im Dialog mit einem Leitbild. Ein solcher Dialog könnte sehr wohl "Geschichte als Lebenshilfe" nutzen, indem er einerseits reflektiert die "Impulse der Vorfahren" beachtet und andererseits "alte Wege" verlässt und neue sucht (173). Dass dies keine leichte Aufgabe ist, zeigen besonders die Untersuchungen über die Mennoniten im "Dritten Reich" und den Weg der Mennoniten in Altona und Hamburg vom 17. bis ins 20. Jh. an. Alte Mennonitische Prinzipien wie die Wehrdienstverweigerung, das Nichtbekleiden öffentlicher Ämter, die Absonderung, der "Bann" (Gemeindezucht, soziale Kontrolle) u. a. m. wichen oft einem gesellschaftlich angepassten Verhalten. Inwieweit jedoch das Ideal eines Nonkonformismus unter sich permanent verändernden sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen dennoch aufrechterhalten werden kann, bleibt eine offene Aufgabenstellung, die sich nach G. auf eine positive "Ratlosigkeit" (151 ff.) besinnen kann, indem sie im Eingeständnis der Angewiesenheit "sich Gott anvertraut und bei ihm Rat sucht" (151). Dabei scheint ihm, wie er in seinem letzten Beitrag darlegt, auch im Unterschied zu dem baptistischen Kirchenhistoriker Franklin H. Littel, eine Offenheit für eine vom Heiligen Geist bewegte Gemeinschaft wichtiger zu sein als eine prinzipielle Festlegung auf eine bestimmte, historisch gewachsene Kirchenform.

Die Lektüre dieses Buches regt alles in allem zum Nachdenken und Überprüfen des eigenen Standortes an. Sie ist sowohl für den Theologen als auch den Historiker von großem Gewinn, selbst wenn dessen Forschungsgebiet nicht unbedingt die Täufer- oder Freikirchengeschichte sein sollte. Für den Theologen stellt sich die ekklesiologische und ethische Frage nach der Stellung und Verantwortung der Kirche in der Gesellschaft, dem Historiker gibt es wertvolle Aufschlüsse über die sozialgeschichtliche Entwicklung von der frühen Neuzeit zur Moderne anhand des Prozesses eines bestimmten Milieus.