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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1303 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Benke, Christoph

Titel/Untertitel:

Die Gabe der Tränen. Zur Tradition und Theologie eines vergessenen Kapitels der Glaubensgeschichte.

Verlag:

Würzburg: Echter 2002. XII, 446 S. 8 = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 35. Kart. Euro 29,80. ISBN 3-429-02416-1.

Rezensent:

Peter Heidrich

Die Arbeit wurde 2001 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Habilitationsschrift angenommen. Sie versteht sich als Beitrag zur spirituellen Theologie, es geht um den leibhaften Vollzug des Glaubens. Sie beginnt darum damit, das Phänomen des Weinens physiologisch und anthropologisch darzustellen. In der Gegenwart werde das Auftreten der Tränengabe oft vorschnell auf charismatisch-enthusiastische Zirkel oder freikirchlich-evangelikale Gruppierungen eingeschränkt. Die Liturgie leide unter der "Wut des Verstehens" als Folge eines "Prozesses der Entkörperlichung". Die vorvatikanische Liturgie kannte ein Messformular "Zur Erlangung der Tränen" - die 50. Auflage des alten "Schott" belegte das auch für die Erfahrung der Gemeinde. Die Beobachtung der soeben genannten Zirkel und Gruppierungen ist vermutlich auch irgendwo nachzulesen, der Vf. versagt seinem Leser den Nachweis. Das erschwert aber das am Schluss dargestellte Anliegen: die Tränengabe, die vergessen wurde, wieder fruchtbar zu machen. Soll das allein über verbal sich darstellende Theologie gelingen? Bei den meisten der dargestellten Theologen ist der leibhafte Vollzug des geistlichen Weinens wirklich anzunehmen. Soll die Theologie das wiedergewinnen? Schon Hugo Rahner hat in seinem Ignatius-Buch, 1964, geschrieben, Ignatius habe geweint, wann er wollte; seine Augen seien brandig geworden von den Tränen (217), er wird zu Recht im vorliegenden Buch vorgestellt. Doch was sind Bußtränen heute? Was heißt es, im neuen Rituale Romanum Ambrosius zu zitieren, die Kirche habe Wasser der Taufe und Tränen der Buße? Selbst der Vf. lässt offen, wie eine konkrete Praxis bezüglich der Bußtränen vorstellbar sei (345).

Der umfangreiche erste Teil des Buches bietet Zeugnisse der geistlichen Tradition. Das erste Kapitel ist Johannes Klimakos (+ um 650) gewidmet. Auf der Paradiesleiter spielt die Umkehr eine Rolle, der "göttliche Einstich" Katanyxis), die Bußtrauer, die Letzten Dinge, das Schöne und die Gottesliebe und die Tränentaufe sind da die Themen. Geistliches Weinen entsteht im Zusammenwirken von göttlicher Gnade und menschlichem Zutun. Das Stillschweigen als "Freundin" der Tränen dürfe nicht fehlen.

Gregor der Große ist der zweite Theologe der Tränen. Er lebte in einer Zeit des Verfalls. Die Sehnsucht nach der Freude des Himmels stellt das Weinen wegen der Erdenzeit jener gegenüber. Eine zusammenhängende Darstellung der Tränenlehre durch Johannes Cassian lag Gregor vor. Neben der Einsicht in die Hinfälligkeit des Lebens ist der "göttliche Einstich" (compunctio) zentraler Entstehensort von Tränen. Die compunctio hat bei Gregor mehrere Gattungen. Sie durchbohrt und verwundet. Die Tränen sind somatischer Ausdruck der Gespanntheit des Betens. Da die compunctio zu den Bedingungen der Kontemplation zählt, begegnen Tränen oft bei der Kontemplation.

Dem rationalen Diskurs traut Gregor nicht zu, compunctio und Tränen zu initiieren - da werden die Probleme moderner Theologie liegen. Gregor konnte in der Mystagogie des Weinens dem kirchlichen Amt noch eine Schlüsselrolle zuerkennen.

Seit dem frühen 13. Jh. gab es in den heute belgisch-niederländischen Regionen gerade bei Frauen eine "Erlebnismystik". Der Vf. stellt die Tränenerfahrung der Maria von Oignies (1177-1213) dar, die in der Lebensbeschreibung des Jakob von Vitry mit großem Echo beschrieben worden ist. Jakob nennt eine Reihe außerordentlicher mystischer Begabungen, die er zuverlässig bezeugen kann. Ein Priester, der die schluchzende Maria aus der Kirche weist, sieht sich nun beim Zelebrieren eigenen Tränen derart ausgesetzt, dass er "beinahe erstickt" wäre. Die Tränengabe fungiere jetzt nicht mehr als Gnade, die allen Gläubigen anempfohlen und von ihnen zu erbeten sei, sondern gelte als etwas Herausragendes.

Im unruhigen 14. Jh. lebt Caterina von Siena (+ 1380). 1377-78 entsteht der diktierte "Dialog", in dessen Kapiteln 88-97 die Tränenlehre entfaltet wird. Geistliches Weinen war eine zur Zeit Caterinas lebendige asketisch-geistliche Praxis, mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte Caterina die Tränengabe. Sie erzählt nicht wie Maria von Oignies von subjektiven Tränenerfahrungen, sie lässt Gott die Tränenlehre auslegen. Es geht nicht um die Erfahrung an sich. Tränenfrüchte sind gefragt.

Neue Akzente setzt Margery Kempe (+ ca. 1439). Nach 20 Ehejahren und der Geburt von 14 Kindern legt die Frau aus der Grafschaft Norfolk, Ostanglien, ein eheliches Keuschheitsgelübde ab; sie unternimmt Pilgerreisen, u. a. nach Jerusalem. Visionen, Auditionen, Wein- und Schreikrämpfe charakterisieren ihr Leben. Ihr Buch ist auch für die Erforschung der mittelenglischen Sprache wichtig. Die "Narrheit um Gottes (Christi) willen" wird betont.

Das 6. Kapitel schließt die Darstellung der geistlichen Tradition: Robert Bellarmin SJ (+ 1621) ist es gewidmet, mit einem Exkurs zu Ignatius von Loyola.

Die letzten gut 100 Seiten des Buches bieten systematische Erwägungen zu einer Theologie der Tränen. Das Motiv des "transitus" wird erörtert. Geistliche Tränen sagten etwas über das Hineinwachsen des Getauften in das Christusmysterium aus. Guardini hebt die Gegensätzlichkeit als Signatur des Daseins hervor, deutet das Phänomen der Schwermut (309.398). Ist die Gebetszeile im "Salve regina": in hac lacrimarum valle ein Hinweis auf die zunächst dargestellte Gabe der Tränen? Geistliche Tränen seien ein Hinweis darauf, dass der Glaubende die Anlage zur Verwandlung des Lebens nicht nur verborgen in sich trage (312): Was ist es mit dem Christen, bei dem und in dessen Gemeinde die Gabe der Tränen fehlt? Augustin war ein filius tantarum lacrimarum. Bei Kierkegaard, der sich (Anti-) Klimakus nannte, bleibt schon offen, ob er eine Tränenerfahrung machte. "Tränen sind ein geistlicher Weg, Zeichen des Wandels des Menschen" heißt es auf der letzten Seite: Vielleicht gehört das in einen Raum kirchlicher Esoterik.